Eine Landschaft der Aufklärung

Eine Landschaft der Aufklärung

Das Gartenreich Dessau-Wörlitz

Inmitten der Auenlandschaft des Biosphärenreservats Mittelelbe, in Sachsen-Anhalt, liegt das Gartenreich Dessau-Wörlitz – eine im 18. Jahrhundert angelegte, einzigartige Kulturlandschaft. Als Naturschutzgebiet und als Weltkulturerbe steht sie unter dem Schutz der UNESCO. Walter H. Krämer unternimmt einen Ausflug in Geschichte und Gegenwart des Gartenreichs.

Sich ganz bewusst vom Lärm einer Großstadt verabschieden und Ruhe und Stille in der Natur suchen. Das ist eine Sehnsucht. Ort der Begierde diesmal: das Gartenreich Dessau-Wörlitz. Insgesamt sieben Schloss- und Parkanlagen auf einer Gesamtfläche von 145 qkm umfasst das Gartenreich Dessau-Wörlitz. Von 1764 bis kurz nach 1800 angelegt, ist der 112 Hektar große Wörlitzer Garten das Herzstück des Gartenreichs und einer der frühesten und bedeutendsten Landschaftsparks Europas außerhalb Englands.

Das Wörlitzer Gartenreich wurde von Fürst Leopold III. Friedrich Franz von Anhalt-Dessau (1740–1817) – von seinen Untertanen liebe- und ehrfurchtsvoll „Vater Franz“ genannt – zusammen mit seinem Freund, Ratgeber und Architekten, Friedrich Wilhelm von Erdmannsdorff, und den Gärtnern Schoch, Neumark und Eyserbeck in mehr als vierzig Jahren verwirklicht.

In Wörlitz angekommen gilt es, sich alle Zeit der Welt zu nehmen, um in dieses Reich einzutauchen. Geheimnissen auf die Spur zu kommen. Seine Geschichte zu ergründen. Fragen zu stellen. Antworten zu finden. Zu erfahren, was von diesem Reich und seinem Anliegen noch geblieben ist.

Stille umfängt einen. Der Blick schweift über Wiesen, Wasser, Kanäle. Fähren und Brücken werden sichtbar. Schwäne, Enten und Reiher bevölkern den See.

Am besten lässt sich das Reich zu Fuß erleben und / oder – falls es der Wasserstand zulässt und die freie Fahrt auch durch die Kanäle möglich ist – mit den Gondeln. Eine langanhaltende Hitzeperiode ließ den Wasserstand sinken. Eine Folge des Klimawandels und Hinweis auf die Abhängigkeit der Landschaft vom Wasserstand der Elbe.

Kahnanlegestelle am Schloss Wörlitz  | © Foto: Foto: Rolf Cosar

Hier gibt es immer wieder Begehrlichkeiten seitens Industrie und Wirtschaft, die Elbe in ein enges Bett zu zwängen, damit sie schneller fließt und damit besser für den Schiffsverkehr genutzt werden kann – mit zerstörerischen Folgen für Umwelt und Natur. Wo zu Zeiten des Fürsten „geregelte Fluren“ und zu Zeiten der DDR LPG-Äcker bewirtschaftet wurden, entstehen vielerorts Gebäude für Konsum und Gewerbe.

Die von „Vater Franz“ einst so geschätzten Obstbaumalleen sind ortsweise noch zu finden, doch von den “anmutigen Hainen” der Obstplantagen, die einmal zur „besseren Versorgung der Residenzstadt Dessau mit Gartenfrüchten“ angelegt worden waren, ist nicht viel geblieben. Zum Glück sind einige der alten Schutzwälle gegen die Hochwasser von Elbe und Mulde noch vorhanden, und mancherorts öffnen sich die Auen noch so schön, als läge die Epoche hochgestimmter Landbaureformen nicht mehr als 200 Jahre zurück.

Wörlitzer Park  | © Foto: Foto: Katrin Perl

Geschundene Landschaften

Johann Joachim Winckelmann

Doch die Idylle ist trügerisch. Vor allem die so zweckmäßige Randbebauung von heute zeigt oft mangelndes ästhetisches Interesse von Alteingesessenen und Investoren. Der real existierende Sozialismus in der DDR sorgte für geschundene Landschaften und qualmende Kraftwerke. Umweltschutz war kein Thema – mit fatalen Folgen für Umwelt, Natur und Mensch. Doch auch der real existierende Kapitalismus nach der Wende ist Natur und Umwelt nicht immer wohlgesonnen.

Nicht leicht zu übersehen ist das Kraftwerk von Vockerode mit seinen Turmbauten, eine Anlage der dreißiger Jahre. 1945 demontiert, um danach noch größer wiedererrichtet zu werden. Inzwischen ist es stillgelegt – und nach einem heftig umstrittenen Beschluss der Gemeinde durch ein Betonwerk ersetzt.

Ein Entschluss übrigens, der die UNESCO bewog, die Eintragung des Wörlitzer Gartenreichs auf die Liste von Objekten des Weltkulturerbes erst einmal zu den Akten zu legen. Was sich mittlerweile erledigt hat. Inmitten der Auenlandschaft des Biosphärenreservats Mittelelbe, im Bundesland Sachsen-Anhalt, liegt das Gartenreich Dessau-Wörlitz – eine einzigartige Kulturlandschaft. Als Naturschutzgebiet (seit 1988) und als Weltkulturerbe (seit 2000) steht sie unter dem Schutz der UNESCO.

Die Aufnahme der Kulturlandschaft in die Welterbeliste begründete das UNESCO-Welterbekomitee mit folgenden Worten: „Das Gartenreich Dessau-Wörlitz ist ein herausragendes Beispiel für die Umsetzung philosophischer Prinzipien der Aufklärung in einer Landschaftsgestaltung, die Kunst, Erziehung und Wirtschaft harmonisch miteinander verbindet.“

Ungeachtet augenfälliger Zerstörungen und Gefährdungen lässt sich der Gegend zwischen Dessau und Wörlitz immer noch viel Schönes abgewinnen und insbesondere beim Wörlitzer Park hat sich viel vom Zauber dieser Landschaft erhalten.

Zeit und Gelegenheit, sich den Anfängen und der Entstehung des Gartenreiches zuwenden und auf die Bedeutsamkeit und den Vorbildcharakter dieser Anlage auch für heute hinzuweisen. Das Wörlitzer Gartenreich geht zurück auf den aufgeklärten Fürsten Leopold III. Friedrich Franz von Anhalt-Dessau. „Seines Volkes Vater, seines Landes zweiter Schöpfer“, wie der beliebte Potentat genannt wurde, hatte das humanistische Bildungsideal und das Bekenntnis zu Winckelmanns Antikenrezeption ab 1764 in einem „Themenpark“ veranschaulicht, der den Geist und die Seele bilden sollte.

Und eine weitere Neigung brachte der anglophile Franz von Anhalt von seinen Reisen nach England mit: die Rückbesinnung auf das Mittelalter und seine Bauformen, die er fortan – parallel zum klassischen Stil – pflegte. Das Gotische Haus im Wörlitzer Park und die zum Schloss gehörende Kirche Sankt Petri mit ihren Nachbarbauten sind frühe Beispiele der Neugotik in deutschen Landen. Beeinflusst durch die Idee der Romantik – einem Zeitalter der Empfindsamkeit, die das Gefühl und den Glauben an ein Ideal wieder stärker berücksichtigte und deren Anhänger sich nicht selten kämpferisch patriotisch gaben.

Blickachsen – bewusst geschaffen – öffnen sich nach vielen Richtungen und lenken das Auge des Betrachters, damit er sich an immer neuen Ansichten erfreuen kann. Dutzende von oft fächerförmigen Schneisen laufen auf Tempel, Statuen oder weit entfernte Kirchtürme zu. Und mancher Blick – etwa der gleichzeitige auf Kirche, Schloss und Synagoge war als Einübung in Toleranz gemeint und wird deshalb auch heute noch Toleranzblick genannt.

Mehrere Seen und Kanäle, Dutzende von Brücken und Grotten, Wiesen und Bäume, die zum Teil uralt und in unterschiedlichen Grüntönen den Besucher erfreuen, griechische Tempel und Monumente. Alles sieht so natürlich aus und ist doch gestaltete Natur.

Folgt man den verschlungenen Pfaden, so wird man immer wieder aufs Neue durch die unterschiedlichsten Blicke auf Gebäude und Natur überrascht. Und immer wieder bewahren die Gebäude auch noch ihr Geheimnis – von großen Bäumen verdeckt, sind sie aus der Ferne selten ganz zu sehen.

Künstliche Bilderwelten

Bei der Gestaltung der neuen Parkanlagen sagte sich Fürst Franz von der Geometrie der barocken Gärten los und gestaltete die neuen Parkanlagen oft nach Landschaftsbildern von beispielsweise Claude Lorrain oder Jan van Goyen. Anstelle von Pinsel, Farbe und Leinwand nutzte man Schaufel, Axt und Spaten und komponierte künstliche Bilderwelten, die komplett natürlich gewachsen und entstanden aussahen.

Der 29-jährige Goethe schrieb an Freifrau von Stein 1778 über das „Neue“, das hier rings um ihn war: „Hier ists jetzt unendlich schön. Mich hats gestern Abend, wie wir durch die Seen, Kanäle und Wäldchen schlichen, sehr gerührt, wie die Götter dem Fürsten erlaubt haben, einen Traum um sich herum zu schaffen“

Das einzigartige Landschaftskunstwerk ist von Fürst Leopold III. Friedrich Franz von Anhalt-Dessau und seinem Berater, dem Architekten Friedrich Wilhelm von Erdmannsdorff, gestaltet worden. Zahlreiche Anregungen fanden sie auf Bildungsreisen nach England, Frankreich, Italien und den Niederlanden. Länder, die sie auf ihrer „Grand Tour“ – eine seit der Renaissance obligatorische Bildungsreise der Söhne des europäischen Adels – besuchten.

Auf einer dieser Reisen begegneten sie in Rom Johann Joachim Winckelmann (1717–1768), einem deutschen Archäologen und Kunstschriftsteller der Aufklärung. Vor ihrer Weitereise nach England verbrachten sie mit ihm zusammen fast sechs Monate in Rom und Umgebung und wurden mit seiner Sichtweise auf die Antike vertraut.

Für Winckelmann war es die höchste Aufgabe der Kunst, die Schönheit darzustellen. Gegenüber der lateinisch-römischen Antike bevorzugte er eindeutig das griechische Erbe. Für ihn hatte dies auch politische Gründe: Der Aufklärer Winckelmann stellte dem römischen Despotismus die griechische Demokratie gegenüber.

Und das kam dem Fürsten Franz sehr entgegen und beeinflusste ihn bei seinen Entscheidungen. Seine Gärten sind daher auch Ausdruck von Freiheit, Individualität und Hinwendung zur griechischen Antike.

Schönheit alleine aber reichte nicht – sie musste auch von Nutzen sein. Deshalb umfasste das Wörlitzer Gartenreich auch Äcker, Wiesen, und Obstgärten. Vieh weidete auf ausgewiesenen Flächen. Obst- insbesondere Apfelbäume wurden angepflanzt und Erneuerungen bei der Bewirtschaftung des Landes eingeführt. Seine Baumschulen bezeichnet der Fürst gerne als Rüstkammern des Gartenreiches.

In dieser Kulturlandschaft spiegelt sich die Philosophie des 18. Jahrhunderts wider. Der Geist der Aufklärung sollte das Leben der Menschen durchdringen. Natur und Kultur sollten sich ergänzen und das Schöne sollte sich mit dem Nützlichen verbinden. Die Menschen, die den Park durchwanderten, sollten eine bessere Welt kennenlernen, diese begehen, erfahren und anfassen können. Eine bewusste Inszenierung von Bäumen, Gebäuden, Alleen, Blickachsen, die Voraussetzungen dafür schaffen. Der Mensch sollte die Natur in ihrer Ursprünglichkeit erleben. Es sollte etwas bewahrt werden, was wunderschön und heute unwiederbringlich verloren zu gehen scheint.

Fürst Franz war ein Pionier der Nachhaltigkeit, der ein Gesamtkunstwerk geschaffen hat unter Berücksichtigung der Faktoren Ökonomie, Ökologie und Sozialem. Immer offen für Neuerungen und das Wohl aller im Blick. Er entschied sich gegen eine Karriere im preußischen Heer und sorgte sich stattdessen lieber um Land und Leute. Und wurde dafür prompt vom preußischen König mit hohen Kontributionszahlungen bestraft.

Seine Reformideen verfolgten wesentlich drei Ziele: die Verschönerung der Landschaft als Umsetzung der Aufklärung, die Hebung des Bildungsniveaus durch pädagogische Reformen und die Verbesserung der Lebensverhältnisse aller Bewohner des Landes.

Chinesische Brücke im Wörlitzer Park | © Foto: Foto: Weissanna

Aufklärerische Absichten

In seinem Freund, Berater und Architekten Erdmannsdorff hatte er einen kongenialen Partner, der mit ihm zusammen diese Ideen gestalterisch umsetzen konnte. So ist bei der Parkgestaltung auch daran gedacht, den Bewohnern Ideen, Gebäude und Landschaften näher zu bringen, die diese selbst gar nicht bereisen und vor Ort bewundern konnten.

Aus Neapel beispielsweise brachte er den Vesuv und die Villa Hamilton nach Wörlitz. Einen Vulkan, der am Vorabend seines Geburtstages auch Feuer spukte und diese Form der Naturerscheinung für die Betrachter erfahrbar machte.

Die aufklärerischen und pädagogischen Absichten der Bauherren zeigten sich auch in der Offenheit der Anlage: Kein Zaun trennte den Garten von der Stadt, jedermann hatte freien Zutritt und konnte sogar – nach vorheriger Anmeldung – das Schloss besichtigen.

Ziel und Absicht des Landesfürsten war es, das Nützliche mit dem Schönen zu verbinden und in der Gestaltung seiner Parkanlage sah er dies verwirklicht.: „Hier vorzüglich hält man, sich ausruhend, die Reize von Kunst und Natur mit Muße und Genuss wechselweise gegeneinander; bald demütig bei der Betrachtung der einfachen Größe der Natur, bald stolz bei der Erwägung der sinnreichen Mittel des menschlichen Geistes, mit glänzendem Erfolg den Schöpfer zu spielen.“
„Nirgends findet man den Mittelpunkt des Einfachen und des Erhabenen so sehr; niemals haben sich Philosophie und Künste in einem kleineren Raum vereinigt“, schrieb der Revolutionär Wilhelm Ludwig Weckerlin 1791 über das weltoffene und liberale Musterländchen des Fürsten Franz.

Das Gartenreich, nicht wie die englischen Parks zur Erbauung höfischer Gesellschaften entworfen, sondern zur Bildung des Volkes, zur Vermittlung aufklärerischer Ideen errichtet, ist Teil dieser „Revolution von oben“.

Innerhalb der Wörlitzer Anlagen gibt es mehr als ein Dutzend Brücken. Und keine gleicht einer anderen. Alle sind unterschiedlich gestaltet. Vom einfachen Baumstamm, über eine Hängebrücke bis hin zur Gusseisenbrücke zeigen sie dem Besucher auf begehbare Weise gleich die Geschichte des Brückenbaus mit.

Ein Zeitgenosse beschreibt Leopold III. Fürst Franz als „einen Fürst, der Mensch war, und in Gestalten, wo er sie fand, die Menschen ehrte, der die Wissenschaft und ihre Pfleger schätzte, die Kunst und ihre Gebilde liebte, das Leben genießen, aber auch die anderen den Genuss desselben reichlich gewähren wollte“ (Christian Gottlieb Friedrich Reil, Probst zu Wörlitz und späterer Biograf von Leopold III. Fürst Friedrich Franz von Anhalt-Dessau.)

Doch das paradiesisch anmutende Gartenreich ist immer wieder Gefährdungen ausgesetzt, denen man unbedingt entgegentreten muss: ist doch jede Unterstützung zur Erhaltung der Gärten und Baudenkmäler eine Investition in das Erlebnis einer Landschaft, in der historische Erinnerung in vielerlei Gestalt lebendige Gegenwart wird.

Beim Durchwandern des Gartenreiches kann man das raffinierte Zusammenspiel empfindsam gestalteter Natur mit Werken von Architektur und Kunst erfahren, wie es Fürst Franz von Anhalt-Dessau zusammen mit seinem Architekten Friedrich Wilhelm von Erdmannsdorff und begabten Gärtnern in mehr als vierzig Jahren verwirklichte.

Erkundet man das Gartenreich, kommt man allmählich seinen Geheimnissen auf die Spur und fühlt sich wahrhaft gut aufgehoben in dieser Welt. So kommt leicht der Gedanke auf, dass doch auch heutige „Fürsten“ im Sinne von Franz tätig sein könnten und sich nicht im Eigen- und Wirtschaftsinteresses an Natur und Kultur vergehen.

Und auch der Besucher ist aufgefordert, sich respektvoll gegenüber der Natur im Allgemeinen und den Parkanlagen im Besonderen zu verhalten. Denn heute gilt mehr denn je der Spruch des Fürsten: „Wanderer achte Natur und Kunst und schone ihrer Werke“ – eingeschrieben in den Warnungsaltar, eines der ersten Naturschutz- und Denkmalpflegemonumente Deutschlands.

Mögen diese Worte Nachhall finden bei allen Besuchern und Wirkung zeigen, ehe es für eine Umkehr zu spät ist und der Planet Erde für immer unbewohnbar wird.

Letzte Änderung: 30.08.2021

Leopold Friedrich Franz von Anhalt-Dessau, Porträt von Christoph Friedrich Reinhold Lisiewski um 1760
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