Zeichen an der Wand (I)

Zeichen an der Wand (I)

Graffiti in Frankfurt
Walter H. Krämer

Graffiti gelten als Kunst mit einem eigenen stilistischen Kanon, einer ausdifferenzierten Gruppenästhetik, Stars und konkurrierenden Nacheiferern. Walter H. Krämer hat die wundersamen und manchmal rätselhaften Gemälde im öffentlichen Raum der Metropole Frankfurt fotografiert und kommentiert. Nicht alle Graffiti oder Murals sind noch zu finden – denn das Sprühen auf Häuserwände, Betonmauern und Zäune ist eine kurzlebige Kunst. Hier ist der erste einer Reihe von Beiträgen über die spontane Stadtgestaltung.

All you need ist love

Am 25. Juni 1967 wurde unter der Federführung der britischen BBC die weltumspannende Live-Sendung Our World ausgestrahlt. Ich erinnere mich noch gut an diesen Tag vor jetzt – im Jahr 2022 – fast 55 Jahren: Ich saß damals 17-jährig im Wohnzimmer meiner Eltern und starrte auf den Bildschirm. Gespannt wartete ich auf den Beitrag der Beatles zu diesem Ereignis. Und einmal mehr hatten sie mich als Beatles-Fan nicht enttäuscht. „All you need ist love“ war genau die richtige Botschaft in Zeiten des Vietnam-Krieges, und so war es denn auch kein Wunder, dass die USA noch während der Sendung drohten, aus dem Projekt auszusteigen: Allzu deutlich war es, dass das „All you need is love” der Beatles ein Protestsong gegen den Vietnamkrieg war. Jahre später entdeckte ich auf meinen Streifzügen durch die Stadt, dieses Graffiti.

Versteckt hinter Büschen, gesprüht auf ein kleines verlassenes Häuschen neben der Bahnlinie. Das Häuschen, die Büsche längst verschwunden und mit ihnen auch das Graffito an der Wand – nur noch als Foto hat es überlebt und verdient es in der Welt zu sein. Mir ist es wert und wichtig, dieses gesprühte Bekenntnis mit Euch zu teilen. Denn ich empfinde es so, wie die Beatles es formuliert haben: Alles was wir brauchen, ist Liebe – im Umgang mit uns selbst, mit anderen Menschen, mit Tieren, mit der Natur. Kaum zu glauben, in Zeiten weltweit steigender Rüstungsausgaben, vermehrt autokratischer Regime und Tendenzen in der Welt. Aber die Hoffnung stirbt zuletzt und vielleicht bleibt es keine Utopie, wenn wir uns alle in Liebe begegnen – heute, morgen und an jedem Tag!

In Liebe

Eines der schönsten Murals in Frankfurt konnte man mitten in der Innenstadt an der Stiftstraße besichtigen – mittlerweile ist es dem Bauboomwahn der Stadt zum Opfer gefallen.
Das Duo Herakut – bestehend aus Jasmin Saddiqui (Hera) und Falk Lehmann (Akut) – hatte 2013 diese Arbeit an die graue Hauswand gebracht. 15 Meter hoch war das unübersehbare Motiv – es zeigt eine Mutter, die ihr Kind im Arm hält. Auf dem Kopf tragen sie eine goldglänzende Maske, symbolisch für das perfekte Dasein stehend. Perfektion sei nicht das Maß aller Dinge, stattdessen seien Werte wie Barmherzigkeit, Wohltätigkeit oder Nächstenliebe essentielle Bestandteile unseres Lebens.

Dazu der Spruch:

There is something better than perfection.

Menschlichkeit, soziale Intelligenz, Improvisation – das seien die Werte, auf die es ankomme, sagt Jasmin Siddiqui. Ihre Arbeiten seien als Polaroid zu verstehen, ein direkter Umgang mit der Realität, der sie ein Gesicht geben. Es gibt kein Radiergummi. Wenn sie einen falschen Strich malen, setzen sie einen richtigen daneben.

Mutter mit Kind

Die Bandbreite von Herakuts Arbeiten reicht von kleinen Collagen, aufwändigen Installationen über Leinwandarbeiten bis hin zu riesigen Murals auf Häuserfassaden. Figuren und Gesichter, meist Fabelwesen aus Mensch und Tier prangen auf Gebäuden auf der ganzen Welt. Ein besonderer Blickfang sind dabei vor allem die großen Augen mit ihrem melancholischen Ausdruck.

Aufgrund ihres verschiedenen künstlerischen Stils kommen Hera und Akut auch jeweils unterschiedliche Aufgaben im Rahmen ihrer Zusammenarbeit zu: Während Siddiqui für die groben Umrisse zuständig ist, übernimmt Lehmann den Feinschliff. Für die Grobfassung bedient sich Hera überwiegend Pinseln und Farbrollen, Akut hingegen arbeitet die fotorealistischen Merkmale der Figuren ausschließlich mit der Sprühdose aus.

Zu Herakuts persönlicher Handschrift zählt immer ein poetischer Spruch, der einerseits Aufschluss über die Persönlichkeit des dargestellten Charakters gibt, andererseits aber auch zum Nachdenken über allgemeine sozial- und gesellschaftskritische Themen anregen soll.

Jasmin Siddiqui wurde als Tochter eines Pakistaners und einer Deutschen 1981 in Frankfurt am Main geboren. Aufgrund ihrer Herkunft hatte sie oft mit Vorurteilen zu kämpfen, vor allem in der Schulzeit reduzierten viele Mitschüler sie auf ihre Hautfarbe. Aus Frust und Unzufriedenheit über dieses Schubladendenken fing sie an, Graffiti zu erstellen und schuf sich so ihre eigene Welt. Zudem zeigte Siddiqui große Begeisterung für die Graffitikünstler, welche die grauen und tristen Mauern der Stadt mit Farbe schmückten. Hera, der Name der griechischen Göttin, wurde von nun an zu Siddiquis Pseudonym und Künstlernamen. Er stellt den Gegensatz und die Verwandlung von der einst schüchternen und zurückhaltenden zu der starken und selbstbewussten Frau dar, die sie heute in der Männerdomäne verkörpert.

Falk Lehmann wurde 1977 im thüringischen Schmalkalden geboren. Im Alter von 14 Jahren wurde Lehmanns Interesse für die Graffitiszene geweckt und seit 1994 malt er unter dem Pseudonym Akut.

2004 begegneten sich Siddiqui und Lehmann auf einem Urban-Art-Festival in Spanien. Nach gemeinsamer Gestaltung einer Wand beschlossen die beiden Künstler, ihr Talent und ihre Namen zu vereinen. Hera und Akut waren nun Herakut.

Mehrere Wochen im Jahr sind Siddiqui und Lehmann weltweit unterwegs, um neue Plätze und Orte für ihre Werke zu finden. Im Februar 2014 wurden sie von der Organisation AptART eingeladen für drei Wochen in das Flüchtlingslager Zaatari in Jordanien zu reisen, um dort mit syrischen Kindern die weißen Container und Wände des Lagers in farbenfrohe Gemälde zu verwandeln.

Hera und Akut

Der einst in Hamburg geborene und in Bad Vilbel aufgewachsene Graffitikünstler Justus Becker, Künstlername COR, vermischt in seinen Arbeiten Fotorealismus mit abstrakten Formen und Farben. Der Künstlername steht für die lateinische Bezeichnung des Herzens und es ist sein Markenzeichen.

Beim Umsetzen seiner Motive – die er immer erst digital entwirft – mit der Spraydose, trägt er fast immer eine Maske. „Die schützt vor schädlichen Gasen und Farbpartikeln.“

Drei Tage in der Woche arbeitet COR draußen, die übrige Zeit widmet er Illustrationen und anderen Arbeiten im Naxoshallen-Atelier und zu Hause am Computer. „Wände und Aufträge gibt es genügend. Das Motiv bestimmt den Preis, ich kann auf einem Quadratmeter so viele Details machen wie auf hundert. Ich mache immer einen digitalen Entwurf, den ich auf das Foto von der Wand lege, und dann mache ich ein pauschales Angebot.“

Let your life grow Diesterwegstraße

Becker sieht eine Kluft zwischen illegalen Sprayern und legalen Auftragskünstlern wachsen. Das behagt ihm nicht. „Illegale, die sich immer mehr radikalisieren und auch politischer auftreten, und quasi Etablierte, die gesellschaftlich anerkannt sind, werden auch gegeneinander ausgespielt. Ich finde es sehr schade, dass sich das so spaltet und dass das legale Sprayen oft zu kommerziell geworden ist.“

„Es ist unglaublich, welchen Stellenwert Street Art, nicht zu verwechseln mit Kunst von der Straße, sondern vielmehr als Kunst im öffentlichen Raum zu verstehen, mittlerweile auch in Frankfurt hat“, befindet Justus Becker alias COR. „Graffiti ist seit den 1980er Jahren erwachsener geworden.“
Zu lokal und zu kommerziell will Becker nicht sein. COR träumt. Von Reisen, die er früher gemacht hat. Nach Hongkong, Bali, Sri Lanka, Afrika, Amerika, in die Karibik; er sah die halbe Welt. „Es war so schön, wenn ein ganzes Dorf getanzt hat, weil ich gesprüht habe.“ Manchmal, in guten Momenten, sei das auch in Frankfurt so.

Bockenheim

So wie hier auf den abgebildeten Graffitis / Murals zu sehen, malt er vor allem Gesichter, die er mit verschiedenen farblichen Ebenen und Motiven vermischt und hinterlässt so seine Farbspuren an vielen Orten der Stadt getreu dem Motto: „Lasst uns die Welt ein Stück bunter machen“

Die Frankfurter Neue Presse (FNP) veröffentlichte unter dem Titel „Der Rote Faden“ regelmäßig jeden Samstag in ihrer Printausgabe das Porträt eines Frankfurters, der Großes für die Stadt geleistet hat und dessen Engagement über die Grenzen der Rhein-Main-Region hinaus strahlt.

https://www.fnp.de/frankfurt/justus-becker-alias-kunst-sprayer-10745139.html

Freedom of Thoughts – Mural von COR im Sandweg

Letzte Änderung: 24.03.2023  |  Erstellt am: 24.09.2022

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