Gorbatschow, Putin und der russische Kolonialismus

Gorbatschow, Putin und der russische Kolonialismus

Kontrapunkt

Taten machen oft die Worte, die man zuvor für einen Versuch der Verständigung hielt, zunichte. Aber es kann wohl auch umgekehrt sein, dass die schönen Worte der verehrten Staatsoberhäupter ihre schrecklichen Taten überblenden. Das Büchlein über die guten Herrscherinnen und Herrscher hat nur wenige Seiten. Thomas Rothschild stellt den Helden der Deutschen Wiedervereinigung ins Rampenlicht.

So wird Geschichte bereinigt. Ab und zu möchte man doch daran erinnern, was man wissen und sagen konnte zu einem Zeitpunkt, als die Informationen angeblich nicht zugänglich waren. Vor fast genau 20 Jahren, am 11. März 2002, schrieb ich für die Sendung „Zeitwort“ des SWR am Ende eines Beitrags über den Mann, der 17 Jahre zuvor zum Generalsekretär der Kommunistischen Partei der Sowjetunion gewählt worden war:
Zu Gorbatschows fatalen Irrtümern gehörte, dass die Perestrojka der Sowjetunion anfing, die unsinnigsten Einrichtungen der kapitalistischen Welt zu kopieren. Wen interessierte es schon im Westen, dass Gorbatschow in den Jahren seiner Regierung eine katastrophale Nationalitätenpoltik betrieb? Über Jahre hinweg hatten Glasnost und Perestrojka dort ihre Grenzen, wo es um die russische Vormachtstellung auf einem Sechstel der Erde ging.

Gorbatschow durfte die Jahrzehnte brutal unterdrückten Unabhängigkeitsforderungen der nicht-russischen Völker der UdSSR unwidersprochen ins Reich des Absurden verbannen, er setzte die imperialistische Politik des zaristischen Russland und der Sowjetunion zunächst ungebrochen fort. Dass die Völker auf dem Gebiet der Sowjetunion das gleiche Recht auf Unabhängigkeit haben wie Indien, Algerien oder Rhodesien, war für ihn keineswegs selbstverständlich. Blutig ließ er Unabhängigkeitsbestrebungen in Georgien oder im Baltikum niederschlagen.

Ein Kirgise, mit dem ich 1989 sprach, meinte, Gorbatschow sei ein Schwätzer. Er müsse endlich zeigen, dass er seine Politik auch umzusetzen imstande sei. Er sei verantwortlich für die blutigen Zusammenstöße in Kasachstan und anderswo, die im übrigen keineswegs sofort von den Medien gemeldet wurden, sondern erst nach Tagen, als eine Parteilinie dazu festlag.

Auf Gorbatschow folgte Jelzin, auf Jelzin Putin. Von Perestrojka und Glasnost spricht heute niemand mehr. Von einer Demokratie ist Russland immer noch weit entfernt. In vieler Hinsicht ist es heute abhängig von jenem Deutschland, dem Gorbatschow die Wiedervereinigung geschenkt hat. Ob nicht doch Deutschland den Zweiten Weltkrieg gewonnen hat?

All das konnte man 2002 wissen und hätte man aussprechen können. Wer die Sowjetunion für sozialistisch zu halten vorgab, hat ebenso gelogen oder war eben so politisch beschränkt, wie jene, die verschwiegen, dass Russland vor, mit und nach Gorbatschow eine nationalistische Kolonialmacht war und es, wenn es nach ihrem Willen ginge, weiterhin bliebe. Die Illusion vom Vielvölkerstaat war ein Vorwand. Nicht nur in der Sowjetunion. Der Nationalismus ist offenbar unausrottbar, seine Überwindung bestenfalls Wunschdenken, und von ihm profitieren immer die wirtschaftlich und militärisch Stärkeren. Ob sie totalitär regiert werden oder scheinbar demokratisch. Sie setzen ihre Interessen durch, mal brutal, mal sanft, mal mit Waffen, mal mit Aktien. Ob in der Habsburger-Monarchie, ob in der Sowjetunion, ob in der EU. Das Prinzip ist immer das gleiche.

Letzte Änderung: 27.02.2022  |  Erstellt am: 27.02.2022

divider

Kommentare

Joachim Petrick schreibt
Thomas Rothschild Vorhaltungen gegenüber Michail Gorbatschows Glasnost, Perestroika Losungen bürgen wahren Kern, ignorieren gleichzeitig bei einer solchen fundamentalen Bilanz eigene Bringschuld, Analyse der Unterschiede zwischen Jelzin, Putin und Gorbatschow Ära zumindest andeutungsweise ausgearbeitet zu liefern. Gorbatschow blieb bis zur Auflösung der UdSSR am 25.12.1991 durch ihn als Staatspräsidenten auf Politbüro kollektiven Führungsstil angewiesen, sowohl KGB, KPdSU Zentralkomitee als auch Rote Armee Nomenklatur mit Privilegien Hausmacht Eigengewicht in Zeiten unabwendbar strukturellem Umbruch nach Tschernobyl AKW Komplex Block 4 GAU 26.4.1986 auf blockübergeifendem Weg im noch bestehend Kalten Krieg, Hochrüstung der Atommächte, zu globaler Verantwortungsgemeinschaft bei Großtechnologie Anlagen wie AKWs, atomarer, konventioneller Abrüstung, Entscheidungen einzubinden. Mit Jelzins Ära sah ab 1991 Lage in Russland, neugeründeter GUS vollkommen anders aus, Hausmacht Roter Armee, KGB, KPdSU war dahin, bzw. aufgelöst, Ära ökonomischer Schockstrategie nach Milton Friedman Chicago Boys Konzept mit vorsätzlichem Fiasko Faktor 10, siehe gleichnamiges Buch Kanadierin Naomi Klein 2007, staatliches Energie-, Gesundheits-, Pandemie Präventions-, Sozial-, Renten-, Telekommunikations-, Versorgungs-, Vorrats-, Wasserwirtschaftswesen zu privatisieren, krassem Sozialabbau, Freie Fahrt für privates Unternehmertum in dergulierten Märkten für Handel, Wandel Verkehr mit Personen, frei flotierenden Devisen, Gütern, Dienstleistungen neurussisch nationaler Regierungsmacht auf fragiler Säule in willfährig beliebiger Pose Internationalismus angesichts Propaganda Clash of Culture Hundingtons USA angeblichem Ende der Geschichte, Aushebeln chinesischem, russischem Vetorechts im UNO Sicherheitsrat durch Nato US Hegemon Kosovokrieg ohne UNO Mandat 1999, US Irakkrieg 2003 mit Koalition williger Helfer wie Great Britain, Australien, Italien, Kanada, Polen u. a., der in EU nur, Frankreich, Deutschland fernblieben, wenngleich US Air Base Ramstein/Rheinland-Pfalz weiter als Lenkwaffenleitzentrale Europa für Irakeinsatz, gesteuert aus dem Pentagon/USA weiter intakt blieb, BND V-Leute unter Dienstaufsicht damaligen SPD Kanzleramtschef, Geheimdienstkoordinator Frank-Walter Steinmeier, heute Bundespräsident, im Irak vor Ort Zieldaten für die US Air Force Lenkwaffen Einsätze ausbaldowerten. Übergangsloser Wechsel Boris Jelzin zu Wladimir Putin im Präsidentenamt 1999/2000 führte im Verlauf zur heutigen Situation, dass KGB Veteran Putin gestützt von Oligarchen System von seinen Gnaden, das russischer Zivilgesellschaft Zwangsregime auferlegt, unter postsowjetischer Pose so als ob kollektivem Führungsstil cora publicum Hohe Vertreter*nnen aus Politik, Duma, Medien, von ihm installierten Regional Gouverneuren, Geheimdienste, Ministerien, Sport-, Wirtschaftsverbänden als Volkstribun populistisch abkanzelt, schurrigelt, an den Pranger stellt, dabei seine schrumpfende Populariät in Kauf nimmt, Oppostionelle zu Abertausenden wie Nawallny einkerkert, mit und ohne Prozess in Haft belässt, sog. Verräter im In-, Ausland ermorden lässt, weder vor völkerrechtswidrigen Krim Annexion 2014, noch vor völkerrechtswidrigem Angriffsrieg gegen Ukraine seit 24.2.2022 zurückschreckt, eigene Soldaten monatelang durch Manöver rings um Ukraine erschöpft, hinterhältig mit FakeNews außer Atem hält, es ginge weiter nur um militär-technische Manöver in Angriffskrieg gegen Brudervolk Ukraine führt, dass russische Soldatenmütter besorgt fragen, klagen, wo ihre Söhne geblieben sind, entgegen Budapester Abkommen 1994, in dem Great Britian, Russland, USA als Garantenmächte Ukraine deren territoriale Integrität zusicherten, während Ukraine UdSSR Restbestände atomarer Waffensysteme, Technologie auf ihrem Boden Russland übergaben, unter Maßgabe, dass sich Russland an internationalem Finanzkonsortium für Bau, Instandhaltung, personelle, materielle Absicherung Sarkophags 26.4.1986 harvariertem Block 4 AKW Komplex Tschernobyl auf Jahrhunderte beteiligt. Putin zog sich nach russischer Krim Annexion 2014 dessen ungeachtet aus diesem Finanzkonsortium verantwortungslos zurück.

Kommentar eintragen