Von der Fruchtfliege zur größten Fuge

Von der Fruchtfliege zur größten Fuge

Zum 70. Geburtstag von Elliott Sharp
Elliott Sharp | © Ben Knabebw

Er improvisiert nach strengen Regeln, hat mehrere Bands gegründet, arbeitet mit Rockmusikern, Ensembles für Neue Musik, Wüstenbewohnern, Jazzern und komponiert mit Hilfe von Algorithmen. Und mit seinen Opern überschreitet er Grenzen. Bernd Leukert gibt Einblick in das Leben und Werk eines arbeitswütigen Künstlers.

Er sei einer der spannendsten Komponisten unserer Zeit, der an die tiefsten Schichten unserer Existenz rühre. So äußerte sich Musikredakteur Thorsten Preuß in BR Klassik am 25.06.2019 zu dem US-amerikanischen Multiinstrumentalisten und Komponisten Elliott Sharp. Die Realität hinter diesen Etiketten mag ahnen, wer etwas mehr weiß von der Arbeitsweise, dem Werdegang, dem Werk und der Bedeutung dieses Künstlers für die progressive Musikszene.

Elliott Sharp wurde am 1. März 1951 geboren und wuchs im New Yorker Viertel White Plains auf. Seine jüdische Mutter, die den Holocaust überlebt hatte, und sein Vater, Ingenieur und bildender Künstler, schicken ihn, als er sechs Jahre alt ist, in den Klavierunterricht. Er begeistert sich für die Musik Liszts, Chopins und Beethovens. Und anderthalb Jahre später spielt er schon vor Publikum. Aber das tägliche Übungspensum, das ihm der Lehrer mit der Unterstützung der Eltern abnötigt, nimmt ihm den Enthusiasmus, verhilft ihm zu einem Asthmaleiden und bringt ihn zu der Überzeugung, noch weit entfernt von einem Musikverständnis zu sein. Selbst das Musizieren in einer Marching Band, das einen Klarinettenunterricht mit einschloß, konnte die Entfremdung vom Kunsterleben nicht mindern.

Er will nun Forscher werden und bekommt als 17-jähriger ein Stipendium der National Science Foundation für ein Experiment, mit dem er nachweist, daß und wie Mikrowellen genetische Veränderungen bei Fruchtfliegen auslösen.

Auf dem Boden

Zur selben Zeit, bevor er sein Studium an der Cornell University beginnt, bekommt er aber von seinen Eltern eine elektrische Gitarre geschenkt und beginnt, die Musik Cages, Xenakis’ und Stockhausens zu studieren und sich zugleich intensiv mit Improvisation und Jazz zu beschäftigen. Obendrein eröffnet sich ihm, der einst überzeugt davon war, daß Komponieren eine Tätigkeit längst verstorbener Europäer war, die Möglichkeit, selbst zu komponieren.

Er besucht das Bard College, wo der Posaunist Roswell Rudd sein Mentor ist. Hier hat er die Freiheit, sein Studium selbst zu strukturieren, das die Fächer Elektronische Musik, Jazz, Formale Musik, Ästhetik, Informationstheorie und Ethno-Musikwissenschaft umfaßt. Mit dem Bachelor-Abschluß geht er 1974 an die State University of New York nach Buffalo, wo das Studium bei dem Computermusikpionier Lejaren Hiller, dem Minimalisten Morton Feldman und dem Ethno-Musikologen Charles Keil weniger einen informativen, mehr einen informellen Charakter annimmt.

Diese Zeit fordert auch sein politisches Engagement. Elliott Sharp schließt sich den Protestaktionen gegen Krieg und Rassismus an.

Im universitären „Composer’s Forum“ stellt er sein Stück Hudson River #7 vor, in dem eine durchkomponierte Melodie von einem Sopransaxofon durch einen Ringmodulator geschickt und dann, im halben Tempo von einem improvisierten Saxofon angereichert, nochmal mit halbem Tempo von einem improvisierten Saxofon versetzt, sich selbstähnlich vermehrt. Der große Komponist Morton Feldman hört nichts für ihn Wichtiges und beschied Sharp, Improvisation akzeptiere er nicht. Auch das zweite Stück macht den Lehrer wütend.

Vom 9. bis 13. September 1971 gab es im Gefängnis von Attica einen Aufstand, bei dem ein Angestellter ums Leben kam, bei dessen Niederschlagung 42 Menschen getötet wurden. Sharp reagiert, wie Frederic Rzewski und andere, auf diesen Aufstand und die brutale Racheaktion der Polizei mit dem großangelegten Stück Attica Brothers. „Sie bringen zu viel Soziologie in ihre Musik“, sagte Feldman, „Musik sollte in roten Plüschsesseln gehört werden, aber bei ihrer Musik muß man auf dem Boden sitzen.“

Zwei Wochen später wird Elliott Sharp während einer Studentendemonstration auf dem Campus verhaftet und von der Polizei geschlagen. Dann wird er angeklagt, den Chef der Campuswache erstochen zu haben. Die Kaution beträgt 50.000 Dollar, der Strafantrag lautet auf 35 Jahre Gefängnis. Ein Jahr lang kämpft Sharp um sein Recht mit dem Ergebnis: Alle Anklagen werden fallengelassen, wenn er darauf verzichtet, die Stadt wegen der falschen Inhaftierung und der Brutalität der Polizei anzuklagen. Ungeachtet des Prozeßausgangs suspendiert ihn die Universität und verhängt über ihn Campusverbot für ein Semester.

Um Geld zu verdienen, sieht sich Elliott Sharp gezwungen, ins New Yorker East Village zu ziehen. Er spielt in verschiedenen Bands und putzt in einer Hotelbar. Und er gründet früh eigene Bands, worunter neben „Terraplane“ und „Tectonics“ „Carbon“ und das „Carbon Orchestra“ zu den bekanntesten zählen. In den frühen 80er Jahren zählt er, zusammen mit dem Komponisten John Zorn, dem Gitarristen Marc Ribot und dem Saxofonisten John Lurie, zu den Protagonisten der Downtown-Avantgarde New Yorks. Er gründet sein eigenes Label „zOaR“ und beginnt als Produzent auch für Rock- und Bluesbands zu arbeiten.

Zusammenspiel und Unrecht

1987 erscheint die von ihm produzierte Doppel LP Island of Sanity: New Music from New York City, auf der er mit kurzen Ausschnitten eine breite Palette der so genannten New York Underground Music-Szene vorstellt (ein zweiter Wurf, State of the Union, erscheint 2001 als 3-CD-Set). Gleichzeitig arbeitet er für das Soldier String Quartet frühere Arbeiten zu Streichquartetten um. Er musiziert mit der Pop-Sängerin Debbie Harry, mit den Blues-Legenden Hubert Sumlin und Pops Staples, mit Jack deJohnette, Oliver Lake und Sonny Sharrock. Er geht mit der Elektroharfenistin Zeena Parkins oder mit der Cellovirtuosin Frances-Marie Uitti auf Tournee, immer öfter aber mit Meistern ethnischer Musik, wie dem Marokkaner Bachir Attar, der das Oboeninstrument Rhaita, das Zupfinstrument Guimbri und die Flöte spielt und sonst das Ensemble Master Musicians of Jajouka leitet, oder mit den Beduinen aus der Negev-Wüste Einad Abu-Kaf und Mohammed Sync, die das merkwürdige leise Instrument Sumsumiya spielen. Er arbeitet mit dem Qawwali-Sänger Nusrat Fateh Ali Khan und mit der Pipa-Virtuosin Min-Xiao Feng zusammen, auch mit Multimediakünstlern wie Christian Marclay und Pierre Huyghe.

Bei diesen Kollaborationen geht es Sharp um die Erweiterung der eigenen musikalischen Möglichkeiten in noch nicht abgeklärter Konfrontation mit dem fremden Musikdenken, um Erfahrungen, die selbst im New Yorker Zirkel nicht zu haben sind. Und doch verdanken sich solche Initiativen auch immer einer kulturpolitischen Idee und einer dezidiert politischen Haltung.

Er tritt mit palästinensischen Musikern in Israel auf, organisiert ein halbes Jahr nach dem 11. September 2001 in der New Yorker „Knitting Factory“ eine Benefizveranstaltung gegen die israelische Besetzung von Palästina und bringt am 20. Juli 2002 auf Einladung des Lincoln Centers für das Sommer-Festival das Projekt „Al-Mashreg All-Stars“ mit ägyptischen, amerikanischen, beduinischen und palästinensischen Musikern auf die Bühne. „Ich sehe es als meine Pflicht“, erklärt er in einem Interview mit Patrik Landolt, „mich für die Rechte des palästinensischen Volkes einzusetzen und mich gegen das Unrecht, das Israel in den besetzten Gebieten begeht, aufzulehnen. Für einen Juden wie mich gibt es nichts Schlimmeres, als wenn Juden handeln wie Nazis“.

Wenn Elliott Sharp auch mit der in der Blues-Tradition stehenden Gruppe „Terraplane“ Songs spielt, die deutlich politisch Stellung beziehen, so ist ihm doch bewußt, was Musik leisten kann.

Seine eigene Musik baut zumeist auf naturwissenschaftlichen Gesetzen auf. „Musik ist einfach angewandte Physik“, erklärt er, und das bedeutet, daß zum Beispiel die musikalischen Parameter nach den Proportionen der Fibonacci-Reihe gewählt sind, oder Verlaufsformen der Fraktalgeometrie Benoît Mandelbrots folgen, andere der Tesselation-Technik, daß also, was erklingt, nicht den herkömmlichen Songstrukturen, aber auch nicht den Traditionen der klassischen Überlieferung entspricht. Kurz: Seine Musik ist auch in der Downtown-Avantgarde – gelinde gesagt – unüblich. Eine rätselhafte Notwendigkeit musikalischer Kontinuität und eine fremd glitzernde Harmonik bleiben in Erinnerung, hat man eins seiner zahllosen Konzerte besucht, und die Energie, die von dieser Musik ausgeht, die doch so oft aus mathematischen oder naturwissenschaftlichen Prozessen hervorgegangen ist.

Dem Stilbewußtsein und dem Wertekanon der akademischen Zirkel ist die agitierende Klanglichkeit Sharps nicht zugänglich. Und so findet man an jedem Aspekt dieses Künstlers etwas, das der öffentlichen Meinung unpassend erscheint:

Ein gebildeter Musiker der Downtown-Avantgarde New Yorks, der öffentlich gegen die Politik seines Landes opponiert; ein Jude, der sich für die arabisch-jüdische Koexistenz einsetzt; ein Workaholic, dessen beeindruckende Lebensleistung ohne die Rituale des Showbusiness entsteht; der als Produzent umfassend die Szene der experimentellen Musik fördert, ohne sie zu majorisieren; ein schnell und effizient arbeitender Organisator, der von den Medien dämonisiert wurde („Underground Nosferatu“); der als überzeugter New Yorker um den Erdball reist und Kontakt zu ethnischen Musikern sucht; der mit elaborierten Kompositionsverfahren, und das bedeutet, mit seiner oft sperrigen, rätselhaften Musik nirgendwo „szenetauglich“ ist.

Seine Tourneen, vor allem durch Europa und Japan, solo oder mit anderen, finden ihren veredelten Niederschlag in einer enormen Anzahl an Solo-CDs mit verschiedenen Instrumenten, darunter einige mit einer 8-saitigen Gitarre, viele andere mit Duo-Partnern und Ensembles. Über viele Jahre hinweg protokolliert er all diese Aktivitäten in den „Road Reports“, die auf seiner Website zu finden war. Ein Konzentrat daraus, verbunden mit der lakonischen Schilderung seines künstlerischen Werdegangs, veröffentlicht er in seinem Buch „IrRational Music“.

Seine in diesen durcheilten Jahren gesammelten Erfahrungen mit organisierter Improvisation und sinnvoll eingesetzter Elektronik kann er bei Lehraufenthalten in USA, Japan, China, Tschechien, Deutschland und England weitergeben.

Elliott Sharp bei einem Konzert in Weikersheim, 2018 | © Foto: Schorle, CC BY-SA 4.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=69672513

Quartett, Ensemble, Orchester, Oper

Früh hatte Elliott Sharp begonnen, Kompositionen, die auf der Basis von Algorithmen entstanden, für Streichquartett einzurichten. So entstehen Stücke, deren Patterns durch Permutation ihren Charakter ändern, dicht gewebte, oft aggressive, elektrisierende, funkensprühende Texturen, die in späteren Stücken auch anderen formalen Gesetzen folgten und der Quartettliteratur ein neues Kapitel hinzufügten. Sie wurden vom Soldier String Quartet aufgeführt, vom Kronos String Quartet, vom Jack Quartet und Sirius Quartet. Seine Komposition Coriolis Effect wurde Reinhold Friedls „Zeitkratzer“ aufgeführt, mit dem Ensemble Resonanz spielte er seinen Zyklus Oceanus Procellarum ein, das ensemble modern realisierte Tessalation Row, das Janáček Philharmonic Orchestra On Corlear’s Hook und das Radio Sinfonie Orchester Frankfurt Racing Hearts und Calling, – pulsierende Musik, starke Stücke, im strengen Sinne ernst und dennoch außerhalb des Wertekanons, wie er etwa bei den Darmstädter Ferienkursen galt.

Es überrascht nicht, daß Sharp mit seiner Musik zu Kunstinstallationen, Ballett, Theater und Film (etwa für „Yellowman“ von Dael Orlandersmith, „Commune“ von Jonathan Berman oder „Spectropia“ von Toni Dove) nicht aus der Rolle fällt, aber schon, wie weit er imstande ist, sich auf vorgegebene Situationen und Charaktere kompositorisch einzulassen.

Seine Opern entwirft Elliott Sharp stets nach den Möglichkeiten, die ihm die örtlichen, zeitlichen (Proben!) und vor allem finanziellen Bedingungen vorgeben. Seine erste Oper, innosense, die 1981 im Studio PASS in NYC uraufgeführt wird, kommt mit drei Performern aus, die, umgeben von eingespielten Originalklängen, ihre Lebensgeschichten erzählen und zur Live-Musik singen.

Für EM/PYRE, einer Auftragskomposition der Sopranistin Donella Del Monaco für die Biennale Venedig, stehen 2006 dann ein paar – sehr unterschiedlich befähigte – Musiker mehr zur Verfügung. Für die Einstudierung der Oper, in der es um den Vergleich des Quattrocento-Venedig und der ebenfalls turmbewehrten New York City des späten 20. Jahrhunderts geht, steht eine Woche ohne den Komponisten zur Verfügung. Dank eines ausgeklügelten Zeichensystems fügt Sharps Dirigat die separat geprobten Einzelteile bei der Uraufführung live zur komplexen Polyphonie zusammen.

BINIBON, 2009 in The Kitchen, NYC, uraufgeführt, bringt die Geschichte des Mörders Jack Henry Abbott vor dem Hintergrund des sich wandelnden East Village auf die Bühne und kommt mit einem Sänger aus, der zu Sharps Live-Musik agiert.

ABOUT US über soziale und persönliche Probleme von Heranwachsenden entsteht im Auftrag der Bayerischen Staatsoper in München und wird 2010 von freiwilligen Teenagern bestritten.

Der Baßbariton Nicholas Isherwood, der häufig mit Elliott Sharp zusammenarbeitet, singt, begleitet von einem Akkordeonisten und einer Pianistin, in PORT BOU, 2014 uraufgeführt in Brooklyn, von der inneren Realität Walter Benjamins kurz vor seinem Tod.

Der größte Aufwand – bei schwindendem Budget – kommt dem Projekt FILISETI MEKIDESI zugute, das, beauftragt von der Ruhrtriennale, 2018 in der Turbinenhalle Bochum uraufgeführt wird. Sharp nennt das Werk Operninstallation. Filiseti Mekidesi bedeutet im zentraläthiopischen Amharisch „Schutzraum“ und „Migration“. Es gibt keinen Plot, keine Handlung. Das Libretto schreibt Elliott Sharp mit Texten von Tracie Morris und Edwin Torres. Sharps Musik wird gespielt vom Ensemble MusikFabrik und gesungen vom Vokalensemble Voxnova Italia unter der Leitung von Nicholas Isherwood. Die palästinensische Sängerin Kamilya Jubran gestaltet mit betörender Kunstfertigkeit jüdische Lamenti. Elektronische Klänge fluten die Halle; in ihren Videos zeigt Janene Higgins auf der Basis von Aquarellen das Meer, die Wüste, flüchtende, wandernde Tiere und Menschen; die Migrationsströme vervielfältigen sich, durchdringen sich auf rätselhafte Weise auf der Suche nach einem Schutzraum. Ebenso durchdringen sich die Klangströme, Motivklammern, Loops, sprengende chaotische Strukturen, rhythmische Patterns und vieles bis dahin noch Ungehörtes: Suggestiv setzen sich traumhafte Zartheit und verstörend bruitistische Ausbrüche in Spannung. Und wenn man daraufhin noch von Oper sprechen möchte, dann von einer transzendierten.

Die Premiere der aktuelle Oper, die Elliott Sharp zu den 250. Geburtstagfeiern Ludwig van Beethovens komponiert, sollte 2020 in Bonn stattfinden, wurde aber auf den 26. und 27. März 2021 verlegt. Die Oper trägt den Titel Die größte Fuge und thematisiert das Krisenjahr 1815, in dem der ertaubte Komponist, verzweifelt und krank, über die traditionellen Grenzen geht. Vorgesehen sind der Baßbariton Nicholas Isherwood, das Kölner Asasello Quartett, Janene Higgins’ Videokunst und Unvorhersehbares aus Elliott Sharps musikalischer Zauberkiste.

Wie viele Leben muß jemand haben, der ein so enormes Werk in die Welt setzt? Es ist zu vermuten, daß Sharp an seinem 70. Geburtstag in seinem Studio an einem neuen Stück arbeitet und, wie viele andere freischaffende Künstler auch, um die Existenz seiner Familie bangt.

Letzte Änderung: 27.12.2021  |  Erstellt am: 28.02.2021

IrRational Music | © Ben Knabebw

Elliott Sharp IrRational Music

Sprache: Englisch
Broschiert, 248 Seiten
Terra Nova Press / MIT Press, 2018

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