Nachhaltige Träume

Nachhaltige Träume

LyrikLINES

Ob man ihre Bedeutung erfassen kann oder nicht, manche Gesangsfragmente, manche Liedpassagen und Songtexte lassen sich dauerhaft auf einem Gedächtnisplatz nieder, den wir offenbar für solche singseligen Gäste reserviert haben. Die Reihe LyrikLINES gibt AutorInnen Gelegenheit, solchen Ohrwürmern nachzugehen und damit ihren eigenen Assoziationen zu folgen. Otto A. Böhmer etwa erinnert sich an die „Moody Blues“.

Wenn wir, mutigerweise, davon ausgehen, dass die Zeit, so wie wir sie zu kennen glauben, nur als Gegenwart vorstellig wird, dann gibt es eigentlich keinen Grund, sich im Vergangenen, in den „versunknen schönen Tagen“ (Eichendorff), herumzutreiben. Und doch: Irgendwie zieht es uns, je älter wir werden, und wir werden ja auf besorgniserregende Weise immer älter, so dass manche schon von einer „Altenplage“ sprechen, zur Vergangenheit hin; dort hausen wir uns ein und nehmen sie gerne so, wie sie nie war und nie sein konnte.

Der Anstoß, ins Vergangene zurückzukehren, kommt weniger aus den Mutmaßungen über die eigene Befindlichkeit, von der wir, wie von vielem Anderen auch, nichts Sicheres wissen, sondern wird eher durch feines, von außen einfallendes Schwemmgut bewirkt, im besonderen durch die Musik, die eine sehr ins Persönliche gehende Stimmungsmache betreibt, aus der wir erst dann wieder herauskommen, wenn der Zauber des Moments sich löst und seine Einflüsterungen, bis auf Widerruf, verstummen. Meine Vergangenheit, eine insgesamt nicht sehr bedeutende Erlebniswelt, ist in einem überschaubaren Bereich von einer Band mitbestimmt worden, die den gestrengen Rockkritikern nie sonderlich viel Freude bereitet hat: den Moody Blues. Diese Band gibt es schon seit 1964, was sie nicht daran hindert, in wechselnder Besetzung immer noch aufzutreten, bevorzugt in den USA, wo es eine Fangemeinde gibt, die sich nicht mehr beirren lässt. Die Moody Blues begannen, wie schon ihr Name verrät, mit Rhythm & Blues – und da hatten die Kritiker sie noch lieb. Dann irritierte die Band allerdings mit ersten Zumutungen: sie wurde, wie man mißvergnügt feststellen mußte, „arg süßlich“; ohne Erlaubnis einzuholen ließ man den gradlinigen, erdigen Einstiegssound hinter sich und garnierte die Songs mit harmonischen Sättigungsbeilagen: Mellotron, Synthesizer, Flöten kamen zum Einsatz, und zwar nicht zu knapp. Das war gewöhnungsbedürftig, zugegeben, aber in meinem Fall reichte es, um infiziert zu werden; der Moody Blues-Virus, aus dem ein insgesamt als durchaus angenehm empfundenes, letztlich auch harmloses Krankheitsbild erwächst, hatte mich im Griff und nistete sich ein. Nun hatte ich die Moody Blues lieb: Je weniger sie bei den progressiven Kritikern noch auf Gnade rechnen durften, desto mehr schwang ich mich, meist ungefragt, zu ihrem Verteidiger auf. Ich befand mich damals, in den Freiburger Sommern der Jahre 1968-1974, auf die ich meinen Gedächtnisunterstand verpflichtet habe, ohnehin in einer eigenartigen, betont individualistischen Protesthaltung, die, abseits gerade aufkommender Fortschrittsbewegungen, den früh abgewetzten Charme eines Selbstfindungs-Hypochonders favorisierte, dem es, mit Blick auf eigene Herzschmerz-Geschichten, vor allem darum ging, sich sorglos und wohlbedacht im Kreise zu drehen. Die Moody Blues drehten sich mit, ihre Platten hörte ich, tagein, tagaus; – im Studentenwohnheim an der Dreisam, wo ich damals hauste und, sagt mir die alte Frau Erinnerung, anscheinend glücklich war, mußte ich dafür herbe Kritik einstecken, was mich aber, wenn’s denn so stimmt, noch ein wenig glücklicher machte.

Nights in White Satin (Ende 1967 erstveröffentlicht) ist einer der eingängigsten Klammerplatten aller Zeiten und der berühmteste Moody Blues-Song; er kommt in jedem Jahrzehnt mindestens ein-, zweimal zurück in die Charts. Dieses Stück war allerdings selbst mir, einem treuen Freund des anrührend Trivialen, ein wenig zu schmalzig; meine Lieblingssongs sind andere: Melancholy Man, The Voice, Tuesday Afternoon, Story in your Eyes, Lovely to see you, Have you ever heard , The Tide Rushes in und, als wohl bestes Werk, das mehr als sechseinhalb Minuten lange Legend of a Mind. Alle Lieder der Moody Blues erzählen, wie die Titel bereits anklingen lassen, ihre eigenen Geschichten, die eher träumerisch als sozialaufklärerisch daherkommen; auch das muß dem politisch korrekten Pop-Historiker, der desillusionäre, also folgenlose Botschaften bevorzugt, noch immer Unbehagen bereiten.

Wenn ich heute die Moody Blues höre, denen ich hiermit, unaufgefordert, meinen späten Dank abstatte, dann stehen sie tatsächlich wieder auf, die versunknen schönen Tage. Noch immer stimmen sie sehnsüchtig, aber sie sind auch wundersam entschärft worden; für sie gilt ein auf Zeitlosigkeit gesetztes Gefühl, das ich, vor zehn, zwanzig oder fünfzig Jahren, einmal so beschrieben habe: „Ich ging zurück, und es war ein gutes Gefühl, und ich wußte nun endlich, nach einem nicht endenwollenden Sommer …, nachdem nichts vergangen war, nichts hinzugekommen und kaum etwas entstanden, nun endlich, im abblätternde Glanz dieses einen fortdauernden Sommers …, nun endlich, als alles vorbei war und ich sehen konnte, was zu sehen war, nun endlich wurde es Winter.“

Ach ja. Die Moody Blues sind, nach elendlanger Wartezeit, die den hartgesottensten Fans wie eine Ewigkeit erscheinen mußte, doch noch in die Rock ‘n’ Roll Hall of Fame aufgenommen worden. Ray Thomas, Sänger und Flötist, von dem (u.a.) die Songs Melancholy Man und For my Lady stammen, hat diese Nachricht wohl nicht mehr erreicht; er ist am 4. Januar 2018 gestorben. Die anderen machen für ihn weiter, allen voran Kollege Justin Hayward, der auf Solo-Tour ist und dabei, sparsam dosiert, (u.a.) in Deutschland und den Niederlanden auftritt; er hat sich nicht nur das unverwüstliche Nights in White Satin ausgedacht, sondern auch die meisten anderen Moody Blues-Songs. Einer davon heisst Forever Autumn, aus dem sich, frei verfügt und bis in nachhaltige Träume reichend, eine zusätzliche Botschaft heraushören lässt: Routiniert wickeln wir alles ab, die Jahreszeiten etwa und nebenbei noch ein ganzes Leben; das Ende ist dann aber womöglich gar nicht das Ende – es bleibt Herbst, und der Winter, den ich einst herbeizitieren wollte, muß warten; solange es noch Zuspruch gibt, sind wir nicht durch.

Letzte Änderung: 03.06.2023  |  Erstellt am: 03.06.2023

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