Das Ende der Welt

Das Ende der Welt

Seitenwechsel
James Hopkins | © privat

SEITENWECHSEL heißen Tagebuchnotizen aus dem Rheinland, aus Riga, Portland, Oregon; aus Barcelona und Kathmandu. James Hopkins ist einer von sechs Autorinnen und Autoren des aktuellen SEITENWECHSELS, der von Faust-Kultur aufgenommen wird. Zum Jahreswechsel befindet er sich auf Einladung eines Filmkritikers auf dem Kreuzfahrtschiff „The World“. Doch eine Nachricht, die in die serienbekannte Idylle einbricht, ändert alles.

Monatelang habe ich davon geträumt. Ich genieße es, auf The World zu sein, über mir funkeln die Sterne, unter dem Schiff liegt dunkel der Pazifik, und die Passagiere balancieren alle auf der Spitze der Veränderung. Nachts leuchtet der Pool auf dem Oberdeck stahlblau, und er riecht nach Chlor und nach Nichtstun.

Drei … zwei … eins!

Oben auf einem Balkon spielt der ungarische Geiger „Auld Lang Syne“, während in perfektem Timing eine Welle von Kellnern mit Perrier-Jouët auf ihren Tabletts hereinschwappt. Mein Handy klingelt, und ich tausche Küßchen mit jemandem aus, kann aber nicht hören, was die Person sagt. Aus der Menge tauchen, den Filmkritiker im Schlepptau, die Inder aus Manhattan auf. Eine Frau reicht mir ein Glas Champagner. Am Ufer glitzern die Lichter von San Diego, eine Insel aus wertvollen Juwelen. Der Filmkritiker umarmt mich etwas eckig. „Happy New Year!“, rufe ich, und drei Kristallgläser stoßen mit meinem an. Binnen einer Stunde liege ich halb ohnmächtig zwischen den weichen Baumwolllaken in Kabine Nr. 279.

The World ist das einzige private Wohnschiff auf dem Planeten. Eine Gemeinschaft von Bewohnern, die an Bord leben und permanent um den Globus kreisen. Auf The World gibt es 165 Appartements, von denen jedes zwischen zwei und fünfzehn Millionen Dollar kostet. Über die jeweilige Route des Schiffs wird abgestimmt, und im Moment fährt The World von Cabo San Lucas nach San Diego die mexikanische Küste hinauf, um dann Kurs auf die Insel Maui zu nehmen. Ich bin seit Cabo an Bord und werde für die kommenden zwei Wochen im exklusivsten Juwel der Welt leben.

Der Filmkritiker ist auf The World immer wieder gerne gesehen, und dieses Jahr bin ich sein Gast – unbedeutend, sieht man von meinem erlesenen blauen Leinenanzug und meinem liebenswürdigen Lächeln ab. „Ja, ich lebe in Kathmandu. Ja, ich bin Schriftsteller. Und ja, den Dalai Lama habe ich auch kennen gelernt.“ The World ist kein gewöhnlicher Ort, und an Bord sind normalerweise nur Bewohner und Crewmitglieder. Aufgabe des Filmkritikers ist es, den Nachmittagsfilm zu zeigen, über Film an sich zu sprechen und die Menschen zum Lachen zu bringen. Jeden Tag gibt es einen neuen erstklassigen Kinofilm, kostenloses Popcorn in rotweiß gestreiften Pappschachteln und perfekt gekühlte rote Coladosen. Ich bin der Erste, der klatscht, und der Letzte, der geht. Meine Aufgabe besteht darin, ihn bei der Show zu unterstützen.

Doch jetzt ist es 6:00 Uhr morgens am Neujahrstag. Langsam erwache ich aus dem Champagnermeer, um festzustellen, dass im Zimmer noch alle Lichter brennen und der Filmkritiker in seinen schwarzen Klamotten auf seinem Bett liegt und schläft. Ich kann mich nicht erinnern, dass er nachts ins Zimmer gekommen ist. Ich drehe mich auf die andere Seite und versinke wieder im Meer.

Um 7:00 Uhr wache ich auf, falle zurück ins Meer, ein Wogen zwischen Traum und Nicht-Traum, und jetzt ist meine Mutter an Bord des Schiffs.

8:00 Uhr. Ich träume, dass jemand sich von hinten heranschleicht, dann verschwinden wir wieder im Meer.

Um 9:00 Uhr setze ich mich auf und versuche die erste Meditation im neuen Jahr. Es ist eine Perrier-Jouët-Meditation, bei der mein Kopf in weißes Leinen gehüllt und der Ozean draußen eine unscharfe Stille ist. Drinnen schnarcht ab und zu der Filmkritiker.

Um 11:00 Uhr ertönt überall auf dem Schiff eine Nachricht des Kapitäns: „Guten Morgen, hier spricht Ihr Kapitän.“ Die langen Flure, die Salons und die Bibliothek füllen sich mit Neuigkeiten: Fünfzehn Crewmitglieder sind positiv auf Covid-19 getestet worden, weitere vierzig stehen unter Beobachtung, aber die Bewohner sind alle geschützt. Sämtliche Filmvorführungen wurden abgesagt. Innerhalb kürzester Zeit ist The World zu einem fremden Ort geworden.

13:00 Uhr. Ich bestelle Eier Benedikt, ein französisches Croissant und einen Kurkuma-Karotte-Ingwer-Smoothie. Mein Mittagessen kommt auf einem Silbertablett mit einer frischen gelben Rose, eine Aufmerksamkeit vom internen Menüservice.

15:00 Uhr. Das Handy klingelt: Der Filmkritiker möge sich bitte im Security Office einfinden. Immer noch in seinen schwarzen Klamotten, kommt er zurück und verkündet mir die Botschaft: Alle Gäste an Bord von The World werden „ersucht, sich auszuschiffen“. Instinktiv greife ich zum Telefon des Menüservice und bestelle eine Flasche Wein. Einen Barbaresco/Barolo-Verschnitt, eine Zuflucht für uns, jetzt, wo die Welt zu Ende geht. „Hey, mach dir nichts draus“, sage ich, während ich meinen blauen Leinenanzug einpacke. „Es ist nicht deine Schuld. Ich bin schon von weitaus schöneren Schiffen als diesem geflogen!“ – „Komm jetzt“, füge ich noch hinzu. „Nichts wie runter von diesem Pott!“ Doch meine Zunge besteht aus Salz.

Es ist 16:30 Uhr, als unsere Koffer in San Diego donnernd die Gangway hinunterrollen und wieder auf Asphalt landen. Plötzlich ist die Welt ein verwirrender Ort – unberechenbar, eigentümlich, trostlos. Nur zwei Ex-Gäste, die ihre ratternden Rollkoffer, vorbei an obdachlosen Männern und Spirituosenläden, eine schmutzige Straße entlangziehen. Der Filmkritiker checkt uns in ein Dreisternehotel ein – das Abschiedsgeschenk von The World. Die Zimmer sind passabel, und man hat einen Blick den Broadway hinauf, aber der Filmkritiker macht schlapp. „Hey, für die Happy Hour ist es nie zu spät!“, sage ich und hole die letzte funkelnde Weinflasche hervor. Wir sehen uns die neue Beatles-Dokumentation bis zum Ende von Teil eins an, dann zieht sich der Filmkritiker in sein Zimmer zurück und ich in meins. Ein paar Minuten später liege ich zwischen Baumwoll-Polyester-Laken, während sich eine undankbare Stadt, die Fernseher alle noch eingeschaltet, allmählich in den Schlaf ruckelt.

Draußen, vorbei am Hafen, an Coronado Island und Silver Sand Beach, liegt The World knapp außer Reichweite vor Anker. Über den Passagieren funkeln die Sterne, unter dem Schiff liegt dunkel der Pazifik, und die Passagiere sind alle wieder sicher vor den Gefahren der Welt. Auch ich treibe nun davon. Auf meinem eigenen persönlichen Meer, das sich hebt und senkt und saphirblau leuchtet. Die Möglichkeit des Erlesenen, die Möglichkeit von Eleganz an Bord eines mit Juwelen besetzten Schiffes von unermeßlichem Reichtum, das in der Nacht Kurs auf Maui nimmt.
 
 

Aus dem Amerikanischen von Juliane Gräbener-Müller

Letzte Änderung: 10.06.2022  |  Erstellt am: 08.06.2022


Geschrieben werden Tagebuchnotizen, die zeitgleich an verschiedenen Orten und in verschiedenen Ländern entstehen und in der WORTSCHAU veröffentlicht werden. An einem bestimmten (vorgegebenen) Tag machen sich sechs Autorinnen und Autoren Notizen darüber, wo sie sich an diesem Tag aufhalten, woran sie arbeiten, was sie erleben, wie sie sich durch den Tag bewegen und was sie bewegt. Jeder und jede ist jedoch frei, eine poetisch-verfremdete Wahrheit oder wirklich an diesem Tag Erlebtes aufzuschreiben.

Auf diese Art entsteht simultan ein Tagebuch, das einen vielschichtigen Blick auf eine jeweils individuell erfahrene Welt wirft. Was alle vereint und auch den tieferen Anlass des Seitenwechsels ausmacht, ist der genaue Tag, auf den alle sich beziehen. Das öffentliche und private Geschehen dieses Tages an ganz unterschiedlichen Orten mit seinen Chancen und Gefahren geben den gemeinsamen Fokus vor.

Die erste Folge startete mit einem Montag (dem 19. Juli 2019), die zweite mit einem Dienstag etc. Dem sich wiederholenden Prinzip der festgelegten Tage, die sich dem Wochenablauf anpassen, entspricht der simultane Perspektivwechsel. Das macht den Reiz des Projekts aus.

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