Wortmagie aus dem Weimarer Land

Wortmagie aus dem Weimarer Land

Wulf Kirsten ist nun auch gegangen
 | © Bernd Leukert

„Es wird behauptet, das zwanzigste Jahrhundert sei in seinen geistigen Umrissen von den Lyrikern mitentworfen worden“, schrieb der in Ost und West angesehene Dichter und Herausgeber Wulf Kirsten. Er hat der Behauptung nicht widersprochen, war er doch Teil des Geflechts von Haupt- und Nebenlinien, das den säkularen Entwurf ausmachte. Matthias Buth erinnert an den Landschaftspoeten Kirsten.

Ein Satz voller Poesie. Wulf Kirsten schrieb ihn im Gedicht „ansichtskarte aus Kunstat, regenverwischt“, widmete den Text den tschechische Dichterfreunden Ludvik Kundera und Jan Skácel und meinte doch František Halas (1900-1949). Reiner Kunze ist indirekt zitiert im Wort „feldweggedicht“, wo der Dichterkollege in dessen Gedicht „feldweg bei Kunstat“ ein ebenso warmes Gedicht verfasste. Und so ist es immer bei Wulf Kirsten: ein Geflecht von Worten, Anspielungen, Bezügen und so von Sprachwelt. Es muss nicht vollends entschlüsselt werden, aber entsteht Wortmagie, die mitnimmt.
Das vermag die Sprache in allen Facetten, wenn sie eingefangen und geschliffen wird wie es nur einer vermag, der in den Worten lebt, der auf sie zugeht, ihnen misstraut, sie aber im Innersten liebt, wie eine ferne Geliebte. Der Tod löst nicht die Zunge. Wer kennt nicht das Stillwerden vor einem Grabstein, besonders dann, wenn einem verehrten, ja geliebten Menschen ein Gedenkzeichen gesetzt wurde? Kirsten war kein Naturdichter, das Wort gefiel ihm nicht, er erfand sich ein eigenes und schrieb es mir in einen kleinen Band aus dem Jahre 1976 im Düsseldorfer Sassafras Verlag, herausgegebenen von dem unentwegten Vermittler und Dichter Rolfraffael Schroer, der 1928 in Dresden geboren wurde, der seine Kindheit in Meißen verbrachte und fast hundertjährig 2022 in Münster gestorben ist. Kirsten kam in mein Haus in Hoffnungsthal, einem Stadtteil von Rösrath in der Nähe Kölns und schrieb mir ins Buch einen „Gruß vom unentwegten Landgänger aus Thüringen und Sachsen.“ Das war am 20. Oktober 1989. Die DDR war noch auf der Landkarte. Weimar wartete auf die Einheit, auf die Nähe zum Rhein. Und ich sah mich näher an Franz Liszts Weimarer Salons, an Goethes Gartenhaus, Schillers gelbes Häuschen und Wielands Schloss in Tiefurt. Wulf Kirsten war schon da, ein Sprachbürger mit dem einen Pass. Er, der „Landgänger“, der dichtende Wortsucher, der verschwundenen, bedrohten und verzweifelten Worte im Hoch- und Niederdeutschen, in den Regionalfärbungen des Sprachkosmos Deutschland. Die Selbstzuschreibung des Dichters aus Weimar ist bescheiden und stolz zugleich: Worte wie Grenzgänger, Minensucher, Schatzsucher oder auch die Vorstellung vom ewigen Unterwegssein im Unbekannten stellen sich ein.
Zuweilen nimmt das Wortfängerische überhand, wird das Archivieren und Verbinden wie Wortkino mit allzu schnellen Schnitten. Dann wieder geht er wie ein weiser Landmann über die Sätze und Bedeutungen, übers Benennen und Aufzählen. So im Eröffnungsgedicht des kleinen 15-seitigen Fadenhefts „Veilchenzeit“ (Verlag Ulrich Keicher, Warmbronn 1989).

verschneiter feldweg

käm doch ein engel, dich entführen
von diesem irrpfad, der an sich selbst
verlorenging und an den endlosen winter,
ausgewandert ein torkelnder fußgänger
und der weg unter seinen stampfenden füßen…

es endet so:

… käm jetzt ein engel
durch das flimmernde, körnerkrönende
schneelicht, käm doch der engel aller
narren, der dir die handvoll worte gab.
käm ein engel, geschirrt, dich zu entführen.

Die Handvoll Worte aus dem Blattgewimmel des Schnees, aus himmlischen Sphären, von einem Engel erbeten, um auf dem Irrpfad des Lebens endlich Ankunft zu finden. Hier öffnet sich die Herzkammer der Dichtung von Wulf Kirsten. Das Gedicht ist fast singulär im Werk des Dichters, denn die Dimension des Himmlischen holt er kaum in seine Verse. Er horcht die Worte ab, sucht alte und versunkene aus den Sprachlandschaften in Thüringen und Sachsen und erfindet neue hinzu. So entsteht eine Wortwelt eigene Prägung. Kirsten ist meist kein liedhafter Sänger, ob nun gereimt oder ohne Endreim, und so sind Komponisten nicht auf seine Lyrik zugegangen. Er misstraute dem Gefälligen und konnte dies auch bei anderen – so beim allzu glatten Heinz Kahlau (1931-2012) – irritierend anmerken, von dem er auch politisch Abstand hielt, dessen SED- und später LINKE-Mitgliedschaft war ein tiefer Graben, in dem auch acht Jahre IM-Tätigkeit Kahlaus lagen. Kirsten hingegen hatte sich nicht gemein gemacht mit der SED-Ideologie, hielt Abstand wo er konnte – war freilich kein Dissident und rieb sich zuweilen an Reiner Kunze. Auch als Verlagslektor beim Aufbau-Verlag zog er sich die Tarnkappe auf und stieg lieber in die Bergwerke der Worte ein. Als Bearbeiter des Wörterbuches der „obersächsischen Mundarten“ war er in seinem Element. Ja, der Mundarten, in dem, was den Mund verlässt, was die Lippen zum Klingen bringen: das war sein Movens.

im handgepäck
die kleinen wortrechte,
ausgesiedelte lebensgeschichten,
gewissenhaft totgeschwiegen.
was willst du noch hier?
die stühle der königreiche
sollen sich umkehren
oder auch nicht.
wer aber, herr pfarrer
wer wird uns begraben,
die wir hierbleiben?
Fragen die alten
In den dörfern reihum
im kirchenschiff
tanzt
der vom licht getroffene staub.
auf einer staubsäule
fahrn
in das himmelreich!

Das ist große Lyrik, weil sie offenlegt, weil sie sieht, was nur ein Dichter (besser: was ein Gedicht) erkennen kann. Es ist Teil II des Gedichts „stimmenschotter“, dem die Zeile „Hörst du den Gott im finsteren Meer?“ beigegeben ist von – Heinrich Heine. Die „Dörfer reihum“ bestimmten das Worterfassen und -suchen von Wulf Kirsten. Vom niederrheinischer Mundart-Dichter Ludwig Soumagne (1927-2003) stammt der Begriff von der „Provinz als Weltmodell“. Er passt so ganz für die Dichtung von Wulf Kirsten. Welt und Provinz sind Konstanten für die Literaturen auf dem Globus. Aus dem Erfahrungsraum und auf den Pfaden durch die Dörfer, Fluren, Menschen und Wälder entstehen sinnliche Sprachkunstwerke. Wenn hier Kirsten vom Licht getroffenen Staub spricht, der auf seiner flirrenden Staubsäule ins Himmelreich aufsteigt, erfassen diese Verse die kosmische Existenz des Menschen, gewandt an den im Evangelium ruhenden Pfarrer einer Kirche in Sachsen.
Kirsten war ein Bewunderer des Brandenburgers Peter Huchel (1903-1981), wie er ein „Landschafter“, einer, der erdnah erfassen und Verse erfinden konnte, die im Mikrokosmos des Überschaubaren den Klang und die Tragik des Lebens einfingen. Die Dichtung hat viele Quartiere und als Lyriker, gebunden an die Verhältnisse im „real existierenden Sozialismus“, welche die anderen Teile der Welt aussperrten, war ihm nur Böhmen und Mähren erreichbar, auch die zauberhaften Landschaften in Rumänien, in Siebenbürgen und Banat (in sogenannten Bruderländern der SED). Die Dichter der tschechischen Sprache zogen ihn an, so wie noch mehr sein bedeutender Kollege Reiner Kunze (geb. 1933). Seifert und Skácel stehen für eine ganze Welt. Der Sprache des Nachbarn war er nah. Und auch dem jüdischen Idiom, dem Aus-der-Welt-gehen und doch Bleiben. „wer auch sollt noch verharren / vor den ausgedörrten steinen / zur lichtzeit in andacht / außer der erdrebe, der vogelwolke, / die ein windstoß aufhebt / und davonbläst wie spreu? // wo grab um grab überwuchs / das schnelllebige jahrhundert, …“. So dichtet er in „wüstgefallener jüdischer friedhof in Mähren“ den Toten zu, den fernen und unbekannten, die dennoch so ganz die seinen werden – im Gedicht.

Bernd Jentzsch, 1967 der Begründer der renommierten internationalen Lyrikreihe „Poesiealbum“ hatte Kirsten schon zu Beginn im Blick und so erschien „Poesiealbum Nr. 4“ schon 1968 mit ausgewählter Lyrik, ihm voraus im Heft Nr. 3 Heinrich Heine. Die aktuellen Nummern 371 und 372 erfassen Gedichte von Milan Hrabal und Kurt Marti. Kirsten war in Deutschland in beiden Teilen präsent und durchdrungen vom Wunsch nach Einheit, von der Weltläufigkeit der Dichtung, nicht nur der deutschen. In seiner Wohnung in Weimar habe ich ihn zwei Mal besucht, eine Spitzweg-Wohnung. Er liebte Bücher und diese Liebe wurde erwidert. So wie seinem Schreiben zuweilen etwas Struppiges anhaftet, etwas Umherirrendes, so waren seine politischen Einschätzungen zum Zustand der deutschen Welt charakterisiert von Bitternis, Empörung und Ungeduld. Seine warme Burg war immer die Sprache, aus der er Ausflüge machen konnte, um stets zurückzukommen mit neuen Worten.
Der 1932 in Köln geboren Lyriker Jürgen Becker zog 1939 mit seinen Eltern nach Erfurt, wo er bis 1947 blieb. In seinen Gedichten horchte er seiner Kindheit nach, den inneren und äußeren Landschaften Thüringens, so im Band „Foxtrott im Erfurter Stadion“ (1993) und – erstaunlich – im Jahr 1988 in der Sammlung „Gedicht über die Wiedervereinigung der Landschaft“. Auch er war und ist ein Landschafter, ein Wortsammler, die in langen Assozationsketten die Eindrücke durch die Augen, Hände, Sinne aufs Papier gleiten lässt. Becker konnte vom östlichen Deutschland, dem einstigen Mitteldeutschland, nicht lassen, die Kindheit schimmert immer durch und der Wunsch, sich die Welt mit Worten zusammenzunähen durch Schreiben. Kirsten und Becker dichten in sich hinein, ohne Pathos, ohne Reim, keine Sänger, mehr Fährtensucher, die Worte ausstreuen, damit der Leser in ihnen herumgehen kann, da und dort selbst mitdichtet. Prosa und Lyrik nur durch dünnes Papier getrennt. Kirsten sprach in Lyrik und Prosa nicht von fernen, durch Mauer und Stacheldraht abgesperrten Landschaften, ein politischer Impetus hinüber auf die andere Seite zu Donau und Rhein war nicht seine Sache. Mehr die Welt im Fingerhut seiner sinnlichen und betrachtbaren Umgebung, eben Provinz als Weltmodell, fern aller Krähwinkelei.
Bei beiden Dichtern findet sich eine Textsorte selten bis gar nicht, jene, die doch an sich der Ausgangsimpuls fürs Dichten ist: das Liebesgedicht. Vielleicht sollte man dieses Manko aber nicht beklagen und lieber genau hinschauen, wie – im besten und klarsten Sinne – liebenswürdig Gedichte sich in etwas und in jemanden hineinlieben, ohne Besitzanspruch, voll von Bewunderung des Gegenübers. Kirsten ist dies wunderbar gelungen mit dem grandiosen Gedicht „Gottfried Silbermann“. Für mich erfüllt dieser Text die Sinne, man sieht alles und meint auch, sie zu hören, die Orgel und die Orgellandschaft, die er der Welt geschenkt hat und sich so sehr mit dem Innigsten der Musik verbindet: mit Johann Sebastian Bach.

hof- und landorgelbauer im generalbaßzeitalter,
meißnischer daedalo.
geboren zu Kleinbobritzsch, erdnah und himmelweit.
zu füßen Frauensteins als wäldner.
kein bild, kein grab blieb nach.
ein menschenalter stur und still
am flußlauf der Bobritzsch, der Mulde
orgeln gepflanzt

Es endet so:

die letzte silberne posaune angeblasen
gestimmt und intoniert.
gestorben an bleigicht, erdnah und himmelweit.
ein meister aus Sachsen, still und stur.
vollkommener Silbermann,
kein bild, kein grab blieb nach.
eine orgellandschaft gestiftet.

Das ist der ganze Wulf Kirsten, er ist der Silbermann der Poesie. Das Anverwandeln des anderen gelingt ihm hier vollends. Und so wünscht man sich die kleinen Kirchen Sachsens und Thüringens hinein, möchte den „silbernen Posaunen“, vom Meister selbst „angeblasen“ und „intoniert“ zuhören und erkennt, dass erst großes Handwerk zur Kunst führen kann – für Orgel und Gedicht gleichermaßen.
Am 21. Juni 1934 wurde Kirsten in Klipphausen, in einem Dorf der Amtshauptmannschaft Meißen geboren. Das poetische Porzellan konnte nur er erfinden. Sein berühmtester Gedichtband heißt denn auch „Die Erde bei Meißen“, ein Auswahlband aus dem Jahre 1987, der auf Texte aus den Jahren 1970 und 1977 zurückgriff, ergänzt durch neuere Gedichte. Für dieses Buch bekam er den vom Süddeutschen Rundfunk vergebenen „Peter Huchel-Preis“ (der 1903 in Groß-Lichterfelder geborene Dichter starb 1981 im Sendegebiet, in der Faust-Stadt Staufen bei Freiburg). Mit über 30 Literaturpreisen wurde Kirstens Werk ausgezeichnet. Leider fehlt der Büchner-Preis. Über 20 Bücher hat er mit eigenen Texten veröffentlicht, drei Bände mit Übersetzungen aus dem Tschechischen und Französischen liegen vor, zudem eine imponierende Anzahl von Herausgaben mit Texten anderer.
Wer von Weimar spricht, würde allzu gerne nur von den Heroen deutscher Klassik sprechen, zu denen sich Deutsche gerne flüchten, um sich zu Wieland, Herder, Schiller und Goethe zu begeben in der Hoffnung, in deren Wortwelten das wirkliche Deutschland zu finden. Aber weder die Literatur- noch die Musikstadt Weimar kann den Schatten abwerfen, der aus Buchenwald auf die Menschen und Häuser und so auch auf Deutschland geworfen wird. Und Kirsten wußte es mit der Sonde der Dichtungen, der eigenen und der Werke, die im KZ Buchenwald entstanden sind.
Mit seinem Sohn Holm gab er 2002 die Sammlung „Stimmen aus Buchenwald, ein Lesebuch“ heraus und nach dem Original von André Verdet zusammen mit Annette Seemann 2013 den Band „Der gefesselte Wald, Gedichte aus Buchenwald“. Es sind französische Gedichte, die Annette Seemann ins Deutsche übertrug und den Entrechteten und Gequälten im deutschen KZ Sprache gibt. Schon 1946 erschien die Originalausgabe. Gedichte helfen zu überleben. Diese hier setzen den Heutigen einen Spiegel vor, der zu Tränen rührt und in Bitterkeit schweigen lässt.
Nun ist der so deutsche Dichter Wulf Kirsten gestorben, nicht in einer Großstadt, sondern auf dem Lande, nicht im Heimatdorf, sondern in Bad Berka, die Stadt der Birken am Wasser im Süden des Weimarer Landes. Goethe ging dorthin zur Kur. Krieg und der Terror schlugen auch hier zu. Die Stadt ist nun wieder feine deutsche Provinz. Dass Kirsten hier verstarb am 14. Dezember 2022, ist in der Website der Stadt noch nicht vermerkt. Seine Dichtung ist Einladung zum Gespräch. Wann ihm seine Freunde und Verwandte in Wort und Erinnerung folgen werden, wer weiß das schon? Die Gedichte von Wulf Kirsten lassen weiterleben, auch wenn sie voraussterben. Im Band „Die Erde bei Meißen“ schreibt er sich im Gedicht „stufen“ den Freunden „E. u. R.K.“ zu. Das sind die fast gleichaltrigen Elisabeth und Reiner Kunze, die sich in Obernzell-Erlau in der Nähe von Passau vor dem Zugriff der SEDisten retten konnten und – im Gedicht.
stufen

die stufen hinaufgehn
zur stadt über der stadt
über einen schweigenden herbst
aus stein,
der zu fliegen beginnt,
wenn der wind
die bäume ihre laubkugeln abrollen heißt.
mit abschüssigen worten
bestreun unsere kehlen
schrittlings den berg.
jede stufe, die sich ausschweigt,
heben wir auf
in die gemeinsame sprache.

So sterben wir nicht, aufgehoben in Dichtung, die beseelt.

Letzte Änderung: 09.01.2023  |  Erstellt am: 09.01.2023

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