West-östliche Spiegelungen

West-östliche Spiegelungen

Tomas Venclova über das Glück des Exils
Die Gesandten von Jermak Timofejewitsch bringen Iwan die Kunde von der Eroberung Sibiriens. Gemälde von Stanislaw Rostworowski, 1884 (Ausschnitt)

Keine Flucht ohne Not. Das gilt nicht nur für Flüchtlinge aus der Ukraine, sondern auch für Russen, die in ihrem Land nicht mehr sicher sind. Das Exil mag kulturelle Fremdheit bedeuten, manchmal aber glückt der Sprung in die Ungewissheit. Volker Breidecker liest davon bei dem litauischen Dichter Tomas Venclova.

Zum Dissidenten wurde Tomas Venclova mit einem Offenen Brief vom 9. Mai 1975 an das ZK der Kommunistischen Partei Litauens: Da verlangte ausgerechnet der Sohn von Antanas Venclova – vormals prominentes Mitglied der Nomenklatura – das „Recht auf Emigration“ und erklärte seinen Dissens: „Die kommunistische Ideologie ist mir fremd und meiner Meinung nach größtenteils falsch. Ihre absolute Herrschaft hat unserem Land viel Unglück beschert.“ Es war dies eine Absage auch an jedes Zukunftsversprechen, in dessen Namen staatlicher Terror, Menschheitsverbrechen und fortdauernde Repression vor einer vermeintlich höheren historischen Instanz ihre Rechtfertigung finden sollten.

„Verlaß dies Ufer. Fahren wir.“ Vom baltischen Meeresufer war der 1937 in der Hafenstadt Klaipeda (Memel) geborene Dichter ohnehin abgeschnitten: Im „Imperium am abgesperrten Meer“ lag „vor der Tür das Ende der Welt“. Venclovas Versen ist die Erfahrung von Exil und Emigration eingeschrieben. Ihm selbst wurde wenige Monate nach seiner genehmigten Ausreise im Juni 1977 vom Obersten Sowjet der UdSSR die Staatsbürgerschaft entzogen. In den USA erhielt er Asyl und den Pass des Aufnahmelands.

Der Literaturprofessor an der Yale University dachte zu Jahresbeginn 1988 längst nicht mehr an Heimkehr, als er unter der Überschrift „Der Fürst und sein Zar“ für die „New York Times Book Review“ einen Essay über „Briefe aus dem Exil“ verfasste. Venclova nahm darin die Perspektive desjenigen ein, der „sowohl Immigrant als auch Emigrant“ ist. Der vor wenigen Jahren wiederabgedruckte Essay („Sinn und Form“, Heft 2, März/April 2018, S. 209-218) – widerspricht dem Mythos vom „heimatlichen Boden“, ohne den vor Augen angeblich keine Russe und kein Mensch weiterleben könne, ohne zum Verräter an Scholle, Staat und Mütterchen Rus zu werden.

Für die Gegenposition, die selbst den Verlust von Heimat und Identität als Gewinn begrüßt – als Ich-Erweiterung qua Entgrenzung –, ruft Venclova einen historischen Gewährsmann aus dem 16. Jahrhundert zum Zeugen: Fürst Andrei Kurbski, der es als erster russischer Emigrant gewagt habe, „die Nabelschnur zur kollektiven Seele zu kappen und sich zu einem unabhängigen menschlichen Wesen zu entwickeln.“

Unfreiwillig, weil ahnungslos darüber, dass zum Zeitpunkt des Erscheinens seines Essays die Tage des Sowjetimperiums gezählt waren, blickte Venclova von dessen nahem Ende zurück auf die Anfänge des großrussischen Reichs unter dem mächtigen Gegenspieler des in Ungnade gefallenen und mitsamt seiner Anhängerschar aus Russland geflohenen Fürsten Kurbski: Die Rede ist von Iwan Grosny, alias „dem Schrecklichen“, der um die Mitte des 16. Jahrhunderts vom Moskauer Großfürsten zum Alleinherrscher und ersten „Zar aller Reußen“ aufstieg. Gegründet war seine Herrschaft auf nackte Gewalt und Terror, exekutiert durch eine ihm bedingungslos ergebene Geheimpolizei: die berüchtigte „Opričnina“, die wie späterhin die GPU, der NKWD und der heutige FSB als „Staat im Staat“ operierte. Zwischen den ehemals eng Verbündeten entwickelte sich ein über fünfzehn Jahre währender Briefverkehr, darin Kurbski Iwan all jener Grausamkeiten anklagte, die auch historisch verbürgt sind, wohingegen der hochgebildete Gewaltherrscher auf die unumschränkte Macht pochte, allein nach seinem Gutdünken auch über Leben und Tod seiner Untertanen zu entscheiden.

Zur Ironie dieser Geschichte gehört, dass sich der Überläufer Kurbski vor Iwans Zugriff ins benachbarte feindliche Ausland abgesetzt hatte: ins Großfürstentum Litauen, des vormals größten Flächenstaats des Kontinents, dessen Grenze bis an den Stadtrand Moskaus reichte. In Personalunion mit dem polnischen Königtum entstand die Adelsrepublik der „Rzeczpospolita“, die für damalige Verhältnisse weitreichende Toleranz garantierte – ein multikonfessioneller und mehrsprachiger Vielvölkerstaat, der bis zu seiner Liquidation und Aufteilung durch die expandierenden Mächte Österreich, Preußen und Russland vielen anderswo aus rassischen oder religiösen Motiven Verfolgten – rheinischen Juden, französischen Hugenotten und selbst Abtrünnigen von Calvins Staat – dauerhaftes Asyl und Neubeheimatung bot. 1988 heißt es bei Venclova allerdings noch: „Das Land, das Kurbski Asyl gewährt hat, gehört heute zum Imperium von Iwan.“

Nur wenige Jahre fehlten, bis Venclovas Heimat Litauen als erste Sowjetrepublik die Sezession von Moskau erklärte und seine im Gefolge des Hitler-Stalin-Pakts verlorene Unabhängigkeit wiederherstellte. „Mittlerweile“ – so kommentiert Venclova den Essay von 1988 in einer heute hinzugefügten Nachschrift – „sind all diese Ereignisse ferne Vergangenheit.“

Und doch schloss noch Sergeij Eisensteins grandioses Filmepos über „Iwan den Schrecklichen“ – dem Vorbild und Vorläufer Stalins – mit dem Menetekel: „So kehren wir denn zurück, um unseres großen russischen Reiches willen.“ Auch im Westen scheinen dem heute noch immer so manche nachzutrauern.

Letzte Änderung: 04.05.2022  |  Erstellt am: 04.05.2022

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