Ein Leid, ein Glück

Ein Leid, ein Glück

Erinnerung
Werner Neuberger, kurz nach seiner Befreiung 1944

Gefangenschaft, Konzentrationslager, Zwangsarbeit, Lebensgefahr und Rettung – Peter Kern erzählt vom Schicksal Werner Neubergers in elf Stationen. Sein Passionsweg endete untypisch für einen deutschen Juden des 20. Jahrhunderts, denn er endete gut.

Der Kreuzweg des Werner Neuberger aus Rodalben/Pfalz

In dem aus einem Haus bestehenden Judenghetto des Ortes wohnte die Familie Neuberger, die Neiberjers, wie sie im Dorf hießen. Moritz Neuberger und seine Frau Toni ermordeten die Nazis im KZ Belzec oder in Sobibor, so genau weiß man es nicht. Den Sohn Fritz, den Siebzehnjährigen, ermordeten sie in Majdanek. Die Kinder Anneliese und Werner hatten Glück, sie entgingen der Gaskammer.

Über Werner Neuberger sollte es einen Vortrag in seinem Geburtsort geben, die Schwester des Mannes informierte ihn. Der Mann fuhr hin, Herr Conrad trug vor. Der Referent ließ all seine Quellen sprudeln. Seine wichtigste: Ein vom United States Holocaust Memorial Museum aufgezeichnetes, von ihm übersetztes Interview. Herr Conrad sprach ein leicht pfälzisch gefärbtes Hochdeutsch. Etwa 50 meist ältere Leute hörten ihm konzentriert zu. Die Kirche Maria Geburt im alten Dorfkern, innen barock, außen romanisch, die Unnerkersch, wie sie bei den Alten hieß, kein verkehrter Ort, um über Antisemitismus und Antijudaismus zu referieren.

Hier war der Mann, 60 Jahre sind es her, dem Onkel Walter als Messdiener zur Hand gegangen. Auf dem groben, roten, über eine Stufe laufenden Sisalteppich schritten die beiden zum Hochaltar vor. Den Sisal gibts nicht mehr. Zu besichtigen sind noch die vierzehn, die beiden Längswände zierenden Stationen des Kreuzwegs, eine Holzschnitzarbeit von 1893. Die Hohepriester mit ihren langen Nasen, die Pharisäer, verhöhnen den Jesus. Ein Pharisäer, ein verstellter, bösartiger Mensch; so hatte es das Kind einmal gelernt.

Werner Neubergers Passionsweg ging über elf Stationen, und er endete untypisch für einen deutschen Juden des 20. Jahrhunderts, denn er endete gut, in den Vereinigten Staaten.

Der zehnjährige Werner muss die erste Station bewältigen. Seine Spielkameraden spielen nicht mehr mit ihm und beschimpfen ihn als „dreckigen Juden”, derweil die Väter der kleinen Antisemiten in ihren braunen Uniformen durch die Straßen laufen, der Hakenkreuzfahne hinterher. Die Jahre davor hat der Junge noch eine glückliche Kindheit verlebt. Doch die ist jetzt vorbei. Noch als alter Mann erinnert sich Werner Neuberger an den Großvater, der ihn jeden Morgen mit einem Glas warmer Milch weckte.

Zweite Station: Der Zwölfjährige durchlebt die Pogromnacht des 9. Novembers 38. Im unter der elterlichen Wohnung liegenden Laden fliegen morgens in aller Frühe die Scheiben ein. Der Mob tobt sich aus und grölt in den Straßen.

Dritte Station: Das Kind muss noch im gleichen Jahr seine Eltern und Geschwister verlassen. Es tritt mit anderen Judenkindern eine Reise ins Ungewisse an. In Frankreich, in La Guette, einem Jagdschloss bei Paris, wo er seine Eltern vermisst, wo er kein Wort versteht, kümmert sich die Baronin Germaine Rothschild mit einem Stab von Erziehern um die verschüchterten deutschen und österreichischen Kinder.

Vierte Station: Nach nur einem Jahr müssen die Zöglinge der Baronin mit ihren Lehrern La Guette verlassen. Der Norden Frankreichs, von den Nazis besetzt: kein sicherer Ort mehr. Die Flucht geht weiter, in die noch unbesetzte Zone im Süden. Germaine Rothschild hat im französischen Zentralmassiv ein Haus gemietet. Es ist inmitten einer mit Vulkankegeln gespickten Landschaft gelegen, aber die schöne Natur kann keinen Schutz vor den Nachstellungen bieten; die Flucht muss weitergehen, bevor die Häscher zugreifen.

Fünfte Station: Werner kommt auf einem dem Baron gehörenden Bauernhof an, lernt melken und ackern, und dort, im Departement Dordogne, scheint er sicher. Der Schein trügt. Er ist jetzt siebzehn, als ihn französische Polizisten festnehmen und ihn an die Deutschen ausliefern. Er kommt nach Paris, wird dort ins Gefängnis geworfen. Er fühlt sich wie ein eingesperrtes Tier.

Sechste Station: Die Nazis verbringen ihn ins Konzentrationslager Aldernay, eine Kanalinsel, Außenstelle von Neuengamme. Mit 1000 Häftlingen muss der Achtzehnjährige unter der Aufsicht der SS Bunker bauen und im Steinbruch arbeiten. Jeder zehnte Arbeitssklave stirbt an Erschöpfung und Unterernährung.

Siebte Station. Die Herren über die Sklaven erwarten eine Invasion, lassen das Lager demontieren und nach Boulogne in der Normandie verlegen. Der Junge muss jeden Morgen um vier Uhr aufstehen, er bekommt eine Schnitte Brot oder eine Suppe, dann raus aus dem Lager, Zementsäcke abladen, Eisenbahnschienen schleppen, Bunker und Panzersperren an der Küste bauen. Das geht bis sechs Uhr abends. Seine Füße stecken in Schuhen, die sind ihm zu groß. Er stopft sie mit Zeitungspapier aus, damit sie nicht schlappen. Wenigsten hat er ein Paar Schuhe. Viele der Verschleppten haben keines. An fehlenden Schuhen kann man sterben; eine eiternde Entzündung, der Dreck, das fehlende Medikament. Im SS-Staat ist das Leder knapp, da werden keine KZ-Häftlinge mit Schuhwerk ausgestattet.

Achte Station. Abmarsch aus dem Lager zur Eisenbahnstation, Einsteigen in Güterwaggons. Die Wachmannschaft will mit ihren Gefangenen heim ins Reich. Der D-Day, die Landung der Alliierten, zeigt Wirkung. Die SS sperrt pro Waggon 120 Gefangene ein und lässt abfahren. Der Zug fährt und stoppt, er fährt und stoppt. Jeden Morgen geht die Tür auf, und ein Laib Brot wird reingeworfen. Rausgeworfen werden einmal zwei Tote. Es ist Juni, es ist Hitze, die Eingeschlossenen haben nichts zu trinken, können sich nicht waschen. Sie fahren eine Woche, der Zug kommt nicht voran. Sie wissen nicht, wo sie sind. Sie bohren ein kleines Loch durch die Holzwand und schreien raus.

Eines Nachts hören sie, wie der Waggon neben ihnen geöffnet wird, dann das Rattern der Maschinengewehre. Die SS-Mannschaft bringt nun alle um; es scheint gewiss. Dann wird die Tür aufgerissen, Leute rufen, die Eingepferchten sollen rauskommen. Niemand geht raus. Die Leute rufen wieder: Kommt raus! Erst als die Gefangenen die Rot Kreuz-Armbinde von Frauen sehen, trauen sie sich, auszusteigen. Sie fragen die Leute: Wer seid ihr. Die Leute: Wir sind vom belgischen Untergrund. Wir sprengen die Eisenbahnschienen, damit die Deutschen nicht weiterfahren können. Ihr müsst euch verstecken, die Deutschen sind noch nicht abgezogen. Wir helfen euch.

Die Leute vom Untergrund bringen Gebäck und Kaffee und Klamotten. Dann gehen sie mit den Befreiten in die nahegelegene Stadt. Die Menschen hängen am Fenster, aber es sind keine Gaffer. „Ich nehme einen, ich nehme vier, ich nehme zwei“. Werner Neuberger wird mit zwei Leidensgenossen von einer Familie im Keller versteckt. Bitte, kommt nicht heraus, sagen die Belgier, die Besatzer sind noch immer hier. Jede Nacht bringt einer vom Untergrund etwas zu essen und erkundigt sich, wie es den Dreien geht.

Sie sind in Diksmuide und hören die Wehrmacht mit ihrem Tross, den Pferden, Lastwagen und Geschützen, abziehen. Hier, in dem belgischen Ort, erlebt Werner Neuberger seine Befreiung. Er sieht die Soldaten in britischer Uniform, rennt auf die Straße und weint. Mit ihm werden 286 Gefangene, hauptsächlich belgische und französische Juden, befreit. Der belgische Widerstand hat den später so genannten „Zug in die Hölle“ gestoppt. Mit der Hölle ist das KZ Neuengamme bezeichnet; dorthin sollte es gehen.

Neunte Station: Statt nach Neuengamme per Anhalter nach Paris. Wieder nehmen die Rothschilds ihn auf. Der Baron behandelt ihn wie seinen Sohn. Der pfälzische junge Mann schaut sich die Stadt an, geht ab und an ihn die Bank seines Beschützers, wartet nun auf ein Visum nach den Vereinigten Staaten. Seiner Schwester gelang die Flucht dorthin; sie soll das Affidavit besorgen. Nach einem Jahr trifft es ein.

Zehnte Station: Am 11. Dezember 1946 kommt Werner Neuberger mit der „île de France“ in New Yorks Hafen an. Er hat Liberty Island passiert und die Freiheitsstatue gesehen, das Geschenk der französischen an die US-amerikanische Regierung. Er geht auf die Abendschule, Englisch lernen. Erst eine Import-Exportfirma aus der Wall Street, dann eine Rollcontainer produzierende Fabrik können den Einwanderer gut gebrauchen.

Elfte Station: Herr Neuberger ist stolzer US-Soldat, Uncle Sam zieht ihn ein. Bevor es nach Korea geht, Zwischenlandung in Deutschland. Die Offiziere kennen die Geschichte des Immigranten, erlauben ihm, sein Dorf zu besuchen. Der Heimkehrer ist noch keine zwei Minuten dort, da geht es wie ein Lauffeuer rum: De Neiberjer Werner isch widder do. Der Heimkehrer will aber gleich wieder weg. Die Leute fragen ihn, wie es ihm und seiner Familie ergangen sei. Er verweigert die Antwort, will sie nicht Menschen geben, die ihn einmal dreckiger Jude genannt haben.

Das war der Kreuzweg des Werner Neuberger aus Rodalben/Pfalz. Die Passion eines jungen Juden der Nazizeit mit der Passion des Juden Jesus in der Römerzeit zu vergleichen – da stößt man schnell an Grenzen. Nach seinem Tod am Kreuz kamen für Jesus die Grablegung, die Auferstehung und die Himmelfahrt. Gräber bekamen die Juden keine. Die Himmelfahrt, das war der Rauch über den Krematorien. Werner Neubergers Schicksal ist völlig atypisch. Das jiddische Wort für Schicksal: Purim. Das Fest der Errettung war ihm vergönnt. Und ist bei den Sprüchen Salomons nicht zu lesen, ein Leid komme selten allein, ein Glück komme selten allein? Chanuta also, die Hochzeit. Das Schicksal hat für den jungen Mann die Nancy vorgesehen. Auch sie gehört zu den Juden, auch sie eine Immigrantin, auch ihr gewährt der melting pot Aufnahme. Die beiden heiraten nahe Mexiko City, bei Nancys Eltern. Sieben Mal muss der Bräutigam Werner um die Braut Nancy herumlaufen. So will es der Brauch, denn es steht in den fünf Büchern Mose: „So diente Jakob um Rahel sieben Jahre, und es kam ihm vor, als wären’s einzelne Tage, so lieb hatte er sie.“
 
 
 
 

Auszug aus einem Manuskript mit dem Arbeitstitel Text sucht Verlag

Siehe auch:
Die Biebermühle

Letzte Änderung: 14.05.2022  |  Erstellt am: 11.05.2022

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Kommentare

Elke Jeanrond-Premauer schreibt
Lieber Peter Kern, Welch wichtiger, berührender Artikel. Auch der Text über die Biebermühle hat mich fasziniert und geschockt.Wurde ich doch 1953 in Pirmasens geboren und habe 18 Jahre dort gelebt. Beschämend, dass ich von all dem keine Ahnung hatte. Ich würde sehr gerne Kontakt mit Ihnen aufnehmen, auch um zu klären, ob wir uns von damals sogar kennen könnten? Sehr herzlich Elke

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