Die gewissen Möglichkeiten

Die gewissen Möglichkeiten

125. Geburtstag von Bertolt Brecht
Bertolt Brecht | © Bundesarchiv

Die Unsterblichkeit ist nicht jedermanns Sache, meinte Kurt Schwitters, aber Bertolt Brecht, vor 125 Jahren geboren als Berthold Eugen Friedrich B. in Augsburg, wird sich mit seinem Platz im Elysium arrangieren müssen. Otto A. Böhmer beschreibt Leben und Werk des Meisters der Einfachheit, der angenehm zwischen den Theorien hauste, des Mannes, der sich stets den Frauen zuwandte und der sich nach Flucht und Exil für die Theaterarbeit in der DDR entschied. Er war unbequem und er war entschlossen, auch nach seinem Tod unbequem zu bleiben.

Brecht und der Gebrauchswert der Literatur

„Wahrheit besteht nicht in Beweisen, sie besteht im Zurückführen auf die letzte Einfachheit“, befand der französische Schriftsteller Antoine de Saint-Exupéry (1900 – 1944) und sprach damit eine Erkenntnis aus, die auch sein deutscher Kollege Bertolt Brecht befolgte. Der nämlich war ein Meister der Einfachheit; wie kaum ein anderer verstand er sich darauf, komplizierte Zusammenhänge in einer schlagenden Einsicht zusammenzufassen. Bei empfindlichen Nachfolgern löste das Mißvergnügen aus: Peter Handke etwa zeigte sich von Brechts „chinoisen Teekannen-Sprüchen“ genervt und fand es wichtiger, „sich über sich selber klar zu werden“. – Bertolt Brecht, der eigentlich Eugen Berthold Friedrich B. hieß, stammt aus bürgerlichem Milieu. Der Vater steigt vom kaufmännischen Angestellten zum Direktor einer Augsburger Papierfabrik auf. Wenn man in begüterten Verhältnissen aufwächst, wird man nicht automatisch zum Konservativen, im Gegenteil: Man findet Zeit und Muße, kritisch zu sein, sich der eigenen Privilegien auf privilegierte Weise ein wenig zu schämen. Im Rückblick hat Brecht seine Jugend so zusammengefaßt: „Ich bin aufgewachsen als Sohn/ Wohlhabender Leute. Meine Eltern haben mir/ Einen Kragen umgebunden und mich erzogen/ In den Gewohnheiten des Bedientwerdens/ Und unterrichtet in der Kunst des Befehlens. Aber/ Als ich erwachsen war und um mich sah,/ Gefielen mir die Leute meiner Klasse nicht,/ Nicht das Befehlen und nicht das Bedientwerden./ Und ich verließ meine Klasse und gesellte mich/ Zu den geringen Leuten.“ Brechts Jugend verläuft weitgehend sorgenfrei, aber doch nicht so ganz: Er entdeckt eine Krankheit an sich, die ihm Sorgen macht. Schon in jungen Jahren wird bei ihm eine Herzneurose diagnostiziert, die sich in schmerzhaften Krämpfen und Panikattacken äußert. Bertolt Brecht, gerade mal 12 Jahre alt, bekommt einige Kuraufenthalte verordnet, die jedoch keine nennenswerte Besserung bringen.

Als sich abzeichnet, daß er mit der Krankheit leben muß, macht er sie zu seiner inspirativen Vertrauten, zumal ihm auffällt, daß man als Kranker, der, wie er selbst meint, „ständig vom Tode bedroht ist“, auf andere interessanter wirkt. Über Krankheiten läßt sich nun mal gut reden, was nicht nur für alte Leute gilt. „Habe wieder Herzschmerzen“, vermeldet Brechts Tagebuch, das er mit fünfzehn beginnt, „heute stark, so stark, daß ich zu Mama ging. Es war schrecklich.“ Fachleute, die sich mit Brechts Beschwerden im nachhinein beschäftigt haben, fanden dafür, wen wundert’s, vor allem psychosomatische Ursachen, unter anderem eine möglicherweise etwas zu innige Beziehung zu seiner Mutter, die den Knaben Bertolt tröstet und stärkt, auch als der kein Muttersöhnchen mehr sein will, sondern sich als junger Mann mit ausgeprägtem Selbstbewußtsein präsentiert. Brecht tritt als Kämpfer auf, er nutzt die vertraut gewordene Krankheit für seine Zwecke und legt dabei ein Gehabe an den Tag, das nachträgliche Kritik geradezu herausfordert: „Potenzphantasien“ werden ihm bescheinigt, „demonstrative Großmannssucht“ und „künstlerisch verbrämter Egoismus“. Das muß Brecht jedoch nicht kümmern, er sieht sich auf dem richtigen Weg. „Jetzt werde ich gesünder“, notiert er. „Der Sturm geht immer noch, aber ich lasse mich nimmer unterkriegen. Ich kommandiere mein Herz. Ich verhänge den Belagerungszustand über mein Herz.“ Von sich selbst hat er eine durchweg gute Meinung: „Ich bin schon etwas verdorben, wild und hart und herrschsüchtig“, konstatiert er wohlig erschauernd. „Wenn ein Mann richtig lebt, lebt er wie im Sturm, den Kopf in den Wolken, mit wankenden Knien, im Finstern, stark und schwach, oftmals besiegt und nie unterworfen.“ Da hat er dann wohl etwas zu dick aufgetragen, denn kurz darauf wird ihm eine schmerzhafte Besinnungspause verordnet; sein Herz rebelliert: „Heute Nacht habe ich einen Herzkrampf bekommen, daß ich staunte“, vermeldet das Tagebuch, „diesmal leistete der Teufel erstklassige Arbeit.“

Wenn man zu wissen meint, wie ein Mann lebt, muß man sich auch den Frauen zuwenden, ist Brechts Überzeugung; er fängt damit früh an und hört erst auf, als es nicht mehr geht. Bei den Frauen kommt er gut an; seine Lässigkeit wirkt, und auch daß er die Welt erklären kann, ohne sie verstanden zu haben, erweist sich als vorteilhaft. Allerdings sind Frauen mit Vorsicht zu genießen: Sie leiden unter „Vermehrungssucht“, was insofern ungünstig ist, da „die stärksten Männer“, Brecht kennt sich da aus, „Angst vor kleinen Kindern haben.“ Man sollte also lieber nicht allzuviel Nähe aufkommen lassen und die Beziehungsfäden in der Hand behalten: „Wer selbst weggeht, kann nicht verlassen werden.“

Nachdem Brecht die Schule absolviert hat („mein 9jähriges Eingewecktsein an einem Augsburger Realgymnasium“), schreibt er sich an der Universität München ein und beginnt ein Medizinstudium. Das letzte Kriegsjahr, als man nur noch „die Siebzehnjährigen und die Greise einziehen“ konnte, macht er als Sanitäter mit. 1918 schreibt er sein erstes Stück Baal, ein Jahr später Trommeln in der Nacht, für das er den Kleist-Preis erhält. „Bertolt Brecht hat das dichterische Antlitz Deutschlands verändert“, schreibt ein begeisterter Kritiker. Im Frühjahr 1920 stirbt Brechts Mutter an Krebs. Die Unwiderruflichkeit ihres Todes macht ihm zu schaffen, er hätte ihr noch viel zu sagen gehabt: „Jetzt ist meine Mutter gestorben, gestern, auf den Abend, am 1. Mai! Man kann sie mit den Fingernägeln nicht mehr auskratzen … Aber das Wichtige haben wir nicht gesagt, sondern gespart am Notwendigen.“ Das Gespräch, das er mit der Mutter führte, kann er mit dem Vater nicht fortsetzen, denn der betrachtet die literarischen Umtriebe seines Sohnes eher argwöhnisch: „Er möchte wissen, was ich schon für die Allgemeinheit getan hätte, noch rein gar nichts … Er wolle jetzt einmal eine ernste Arbeit bei mir sehen. Das, was ich mit meiner Literatur getan hätte, halte er persönlich für rein gar nichts. Das müsse sich erst noch beweisen.“ Brecht ist desillusioniert, aber nicht lange; er kennt seinen Wert, weiß, daß er einiges zu erwarten hat. Auf sich selbst läßt er nichts kommen, schließlich ist er, wie leider jeder andere Mensch auch, einzigartig: „Wiewohl ich erst 22 Jahre zähle, aufgewachsen in der kleinen Stadt Augsburg am Lech, trage ich den Wunsch, die Welt vollkommen überliefert zu bekommen. Ich wünsche alle Dinge mir ausgehändigt, sowie die Gewalt über die Tiere, und ich begründe meine Forderung damit, daß ich nur einmal vorhanden bin.“ Wenn man selbst einzigartig ist, die Welt aber unendlich vielfältig, scheint es angebracht, sich flexibel zu zeigen und seine Sicht der Dinge den wechselnden Gegebenheiten anzupassen. Für Brecht ist ein solches Verhalten nicht opportunistisch, es dient vielmehr seinem produktiven Selbstschutz: „Ein Mann mit einer Theorie ist verloren. Er muß mehrere haben, vier, viele! Er muß sie sich in die Taschen stopfen wie Zeitungen, immer die neuesten, es lebt sich gut zwischen ihnen, man haust angenehm zwischen den Theorien.“

1924 zieht Brecht nach Berlin, wo er sich, nach anfänglichem Fremdeln, bestens einlebt; in seinem Selbstporträt Vom armen B.B. heißt es: „(…) In der Asphaltstadt bin ich daheim. Von allem Anfang/ Versehen mit jedem Sterbesakrament:/ Mit Zeitungen. Und Tabak. Und Branntwein ./ (…) In meine leeren Schaukelstühle vormittags/ Setze ich mir mitunter ein paar Frauen/ Und ich betrachte sie sorglos und sage ihnen:/ In mir habt ihr einen, auf den könnt ihr nicht bauen.“ Brecht setzte sich die Frauen bekanntlich nicht nur in Schaukelstühle: Mit 26 hat er bereits drei Kinder von drei verschiedenen Frauen; „laßt sie wachsen, die kleinen Brechts“, ist seine Devise. 1926 erfährt er eine entscheidende Umdeutung seines Weltbildes: Er liest Marx, der ihm die Widersprüche der bürgerlichen Gesellschaft, an denen er sich zuvor noch als Individualist gerieben hat, objektivistisch erklärt. Der Kapitalismus, lernt er von Marx, ist zum Absterben verurteilt, er weiß es nur noch nicht so recht. Damit das Absterben etwas schneller geht, müssen auch die Schriftsteller mit anpacken; sie haben sich vom mal angestrengten, mal lustvollen Betrachten ihrer kleinen Selbstbefindlichkeit zu verabschieden. Kunst und Literatur stehen unter der Vorgabe, daß die Welt zum eindeutig Besseren verändert werden kann: „Über literarische Formen muß man die Realität befragen, nicht die Ästhetik“. Realität aber ist frag- und kritikwürdig; wer „realistisch“ schreibt, steht in der Pflicht, „die Wahrheit herauszugraben unter dem Schutt des Selbstverständlichen, das Einzelne auffällig zu verknüpfen mit dem Allgemeinen, im großen Prozeß das Besondere festzuhalten“. Allerdings sollte der Schriftsteller nicht zu viel von seinen Analysekünsten erwarten: „Die Schriftsteller! Sie rächen sich am Leben durch ein Buch. Das Leben rächt sich dadurch, daß es anders ist.“ Damit meint Brecht weniger sich selbst, sondern Dichterkollegen wie Rilke, Werfel und George, „diese stillen, feinen, verträumten Menschen, empfindsamer Teil einer verbrauchten Bourgeoisie, mit der ich nichts zu tun haben will.“ Besonders unsympathisch findet er Thomas Mann, den für einen „Hersteller künstlicher, eitler und unnützer Bücher“ hält, der „im Schweiße unseres Angesichts lauter Dinge (erfindet), über die er ironisch lächeln kann.“ Thomas Mann indes ist ein gefeierter Autor, was Brecht anhaltend ärgert und schließlich zu dem Stoßseufzer veranlaßt, daß er sich sogar vorstellen könne, „Geldopfer“ zu bringen, „um das Herauskommen gewisser Bücher zu unterbinden.“

1928 hat auch Brecht Erfolg; seine Dreigroschenoper, die den Kapitalismus als Spielwiese für Gangster und Geldleute vorführt, ist ein Lehrstück mit beträchtlichem Unterhaltungswert und kommt beim Publikum besser an als bei der Kritik, die, wie so oft, eher geschmäcklerisch urteilt. Die Moral des Stücks ist, daß es, eigentlich, keine Moral mehr gibt; die Geschäfte gehen vor. Zum Erfolg des Stücks trägt die Musik des Komponisten Kurt Weill bei, mit dem Brecht noch öfter zusammenarbeitet. Plagiatsvorwürfe, die sein Lieblingsfeind, der Theaterkritiker Alfred Kerr, nicht ganz unberechtigt, erhebt, können ihn nicht erschüttern, er erklärt, daß er nun mal eine „grundsätzliche Laxheit in Fragen geistigen Eigentums“ habe, damit müsse man sich abfinden. Überhaupt sei „der romantische Gedanke individueller Schöpfung heute ein Irrtum“: „Die moderne Arbeitsteilung hat auf vielen wichtigen Gebieten das Schöpferische umgeformt. Der Schöpfungsakt ist ein kollektiver Schöpfungsprozeß geworden, ein Kontinuum dialektischer Art, so daß die isolierte ursprüngliche Erfindung an Bedeutung verloren hat“. Die sensiblen Dichter sind Auslaufmodelle: Literatur „muß … etwas sein, was man … auf den Gebrauchswert untersucht“. Das gilt auch fürs Theater, das Brecht zu einer Art kommunikativen Anstalt erklärt: Gewohnte Sichtweisen sollen aufgebrochen, das Publikum mit einbezogen werden; Wirklichkeit, künstlich verfremdet („V-Effekt“), wird zum Spielraum für die Erprobung des Neuen. Vor einem ergebenen Sich-Ergeben ins Gegebene ist abzuraten: „Selbst die kleinste Handlung, scheinbar einfach/ Betrachtet mit Mißtrauen! Untersucht, ob es nötig ist/ Besonders das Übliche!/ Wir bitten ausdrücklich, findet/ Das immerfort Vorkommende nicht natürlich!“ Brechts Arbeitsweise ist denn auch kollektiv geprägt, er bedient sich der Zuträger, die für ihn arbeiten, hat aber das letzte Wort. Sein Schriftstellerkollege Arnolt Bronnen berichtet: Er „spazierte, behaglich an seiner Zigarre schmauchend, durchs Zimmer, hörte sich dabei Argumente und Gegenargumente von Dutzenden von Leuten an, witzelte, zwinkerte und blieb doch unbeirrbar auf seiner Linie. Er ritt seinen Gedanken weiter, bis er ihn, großartig formuliert, gleich vor einem Miniaturpublikum einem seiner stets anwesenden dienstbaren Geister diktierte. Sein Hirn schien mir ein tintenfischähnliches Saugorgan, sich ständig mit Polypenarmen Material zuwachelnd.“

Die Machtübernahme der Nazis bedeutet für Brecht keine Überraschung, er hat sie befürchtet und kommen gesehen. Er emigriert; über Prag, Wien und Paris gelangt er nach Dänemark, wo er mit seiner Familie bei Svendborg auf Fünen einen kleinen Bauernhof bewohnt. Die feindliche Welt ist fern; Brecht gerät in eine Idylle wider Willen, die ihn wehmütig stimmt: „Ein Ruder liegt auf dem Dach. Ein mittlerer Wind/ Wird das Stroh nicht wegtragen./ Im Hof für die Schaukel der Kinder sind/ Pfähle eingeschlagen./ Die Post kommt zweimal hin/ Wo die Briefe willkommen wären./ Den Sund herunter kommen die Fähren./ Das Haus hat vier Türen, daraus zu fliehen.“ Von 1933 bis 1938 schreibt er wichtige Stücke (Das Leben des Galilei; Mutter Courage; Der gute Mensch von Sezuan), Essays (Weite und Vielfalt der realistischen Schreibweise); in seinen Svendborger Gedichten wird die pointierte Verknappung noch einmal gesteigert: „Auf der Mauer stand mit Kreide:/ Sie wollen den Krieg./ Der es geschrieben hat/ Ist schon gefallen“. Brecht hält Kontakt zu den Antifaschisten, die untereinander zerstritten sind; aus der Distanz ruft er zum bewaffneten Widerstand auf: „Die Kultur, lange, allzu lange nur mit geistigen Waffen verteidigt, angegriffen mit materiellen Waffen, selber nicht nur eine geistige, sondern auch und besonders sogar eine materielle, muß mit materiellen Waffen verteidigt werden.“ Dem Kritiker Karl Kraus, der den Niedergang der Sprache in verwilderten Zeiten beklagt, hält er entgegen: „Dem, der gewürgt wird/ Bleibt das Wort im Halse stecken“.
Dennoch: „Was sind das für Zeiten, wo/ Ein Gespräch über Bäume fast ein Verbrechen ist/ Weil es ein Schweigen über so viele Untaten einschließt.“ Seiner zunehmenden Verzweiflung versucht er mit bewährtem Sarkasmus zu begegnen; über den Salonwagen des Führers schreibt er: „Der Dienstzug/ ist ein Meisterstück der Wagenbaukunst. Die Zuggäste/ Haben eigene Appartements. Durch breite Fenster/ Sehen sie die deutschen Bauern auf den Feldern schuften./ Sollten sie in Schweiß geraten bei diesem Anblick/ Können sie in gekachelten Kabinetten/ Expreßbäder nehmen.“

Über Schweden und Finnland reist Brecht nach Moskau; der Kommunismus dort hat ein menschenverachtendes Gesicht. Unter dem Eindruck der Stalinschen Schauprozesse notiert er: „literatur und kunst scheinen beschissen, die politische theorie auf den hund, es gibt so etwas wie einen beamtenmäßig propagierten dünnen blutlosen proletarischen humanismus“. Im Sommer 1941 läßt er sich in der Filmmetropole Hollywood nieder. Er versucht sich als Drehbuchautor, aber es geht ihm nicht besser als dem Kollegen Heinrich Mann; seine Vorschläge werden fast alle verworfen. Trotz finanzieller Einschränkungen führt er ein Leben, das auf bewährten Konstanten setzt; der Filmregisseur Joseph Losey schreibt: „Er aß wenig, trank wenig und fickte viel“. 1948 kehrt Brecht auf dem Umweg über Zürich nach Deutschland zurück. Er entscheidet sich für die DDR, wohnt in Ost-Berlin. Dort hat er seine eigene Bühne, das großzügig subventionierte Theater am Schiffbauerdamm. Brecht ist nun das, was er schon immer sein wollte: eine Berühmtheit mit Ecken und Kanten. Er kann es sich erlauben, der verordneten Einheitsmeinung im Arbeiter- und Bauernstaat ein Loblied des Zweifels entgegenzusetzen: „Da sind die Unbedenklichen, die niemals zweifeln./ Ihre Verdauung ist glänzend, ihre Urteile unfehlbar./ Sie glauben nicht den Fakten, sie glauben nur sich. Im Notfall/ müssen die Fakten dran glauben. Ihre Geduld mit sich selber/ Ist unbegrenzt. Auf Argumente/ Hören sie mit dem Ohr eines Spitzels“. Und auch für argwöhnische Kulturfunktionäre hat er nicht viel übrig: „Trotz eifrigen Nachdenkens/ Konnten sie sich nicht bestimmter Fehler erinnern,/ Jedoch/ Bestanden sie heftig darauf/ Fehler gemacht zu haben – wie es der Brauch ist.“ Brecht mag vieles bezweifeln, den Sieg des Sozialismus bezweifelt er nicht; für ihn ist der Kapitalismus „abbruchreif, faul und ohne Idee“. 1953, als die DDR im Aufstand vom 17. Juni selbst abbruchreif erscheint, schreibt er ein Gedicht (Die Lösung), das auch deswegen berühmt geworden ist, weil es auf fast alle Regierungsverhältnisse paßt: „Nach dem Aufstand des 17. Juni/ Ließ der Sekretär des Schriftstellerverbandes/ In der Stalinallee Flugblätter verteilen/ Auf denen zu lesen war, daß das Volk/ Das Vertrauen der Regierung verscherzt habe/ Und es nur durch verdoppelte Arbeit/ Zurückerobern könne. Wäre es da/ Nicht einfacher, die Regierung/ Löste das Volk auf und / Wählte ein anderes?“ Als es ans Sterben geht, zeigt sich Brecht ausgesprochen gelassen; der Tod kann ihm nichts anhaben, denn er nimmt eine Person zu sich, die davon nichts mehr mitbekommt: „Als ich im weißen Zimmer der Charité/ Aufwachte gegen Morgen zu/ Und die Amsel hörte, wußte ich/ Es besser. Schon seit geraumer Zeit/ Hatte ich keine Todesfurcht mehr: Da ja nichts/ Mir fehlen kann, vorausgesetzt/ Ich selber fehle. Jetzt/ Gelang es mir, mich zu freuen …“ Und auch für die Hinterbliebenen hatte Brecht noch ein gutes Schlußwort parat: „Schreiben Sie, daß ich unbequem war und es auch nach meinem Tod zu bleiben gedenke. Es gibt auch dann noch gewisse Möglichkeiten“.

Letzte Änderung: 11.02.2023  |  Erstellt am: 10.02.2023

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»Unsere Hoffnung heute ist die Krise«  | © Bundesarchiv

Bertolt Brecht »Unsere Hoffnung heute ist die Krise«

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Kommentare

Ralf Rath schreibt
Zentral berichtet Bertolt Brecht von einem "quälbaren Leib" (Suhrkamp Verlag (Hrsg.), 1984: 829, 3. Aufl.) des Menschen. Bedenkt man, dass noch der heftigste Ausschlag des psychischen Apparats stets ökonomisch bedingt ist und wegen der engen Verkoppelung von Leib und Seele die biologische Funktionalität unumkehrbar eine Zerstörung erfährt, könnte es verfehlter nicht sein, wenn hiesig die Bevölkerung in ihrer weit überwiegenden Mehrheit gesellschaftlich Verhältnisse aufrechterhält, über die sowohl die Kräfte als auch die Bedürfnisse längst hinausgewachsen sind. Angesichts eines spätestens seit den frühen 1990er Jahren sich inzwischen in globalem Maßstab vollziehenden Wechsels des Rationalisierungsparadigmas industrieller Arbeit, den manche in seiner Reichweite mit der kopernikanischen Wende auf eine Stufe stellen (Altmeyer/Thomä (Hrsg.), 2006: 9), nehmen offenbar nicht wenige dessen ungeachtet die Erde noch immer als eine Scheibe wahr, wie Udo Belz als ehemaliger Vorsitzender des Betriebsrates bei Alstom in Mannheim bereits bald über zwei Dezennien hinweg kritisiert (Detje et al. (Hrsg.), 2005: 157). Anstatt somit endlich die Qualen zu lindern, indem die in Rede stehenden Dritten notwendig Anstalten unternehmen, der sadistischen Versuchung zu widerstehen, eskaliert für den Einzelnen das kaum mehr sagbare Leiden dadurch bis weit ins Unerträgliche hinein. Es nimmt dann nicht wunder, wenn Ärzte hierzulande die Zahl der zusätzlichen, aber von vornherein völlig vermeidbaren Toten allein im Jahr 2020 auf rund 40.000 schätzen.

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