Die Kissen der Frau Holle

Die Kissen der Frau Holle

Klaus Reichert im Gespräch
Klaus Reichert

Es muss eine Leidenschaft sein, die den Literaturwissenschaftler, Autor, Übersetzer und Herausgeber Klaus Reichert zum Himmel aufschauen lässt. Der Sechsjährige sieht zunächst vor allem Flugzeuge, die ihre Bomben abwerfen oder selbst abstürzen. Dann erst nimmt er über leuchtenden Wiesenblumen die unbeschreiblichen Wolken wahr, die zu beschreiben er seitdem nicht nachlässt. Über Jahrzehnte hinweg hat er notiert, was er sah und was ihm dazu einfiel. Was Malern, Photographen, Dichtern und Komponisten dazu eingefallen war, trat hinzu. In Essays, Tagebüchern, Prosagedichten, Aphorismen und Zitaten versuchte er, was sich entzieht, zu fassen. Besonders intensiv denkt er über William Turner und John Ruskin nach. Der 1900 gestorbene britischer Schriftsteller, Maler, Kunsthistoriker und Sozialphilosoph Ruskin hatte sich als Sammler und Autor mit seinem Freund Turner, dem Maler des Lichts, gründlich beschäftigt. Von Ruskin stammt auch das – auf Turners akribische Himmelsstudien bezogene – Wort „Wolkendienst“, das Klaus Reicherts Buch den Titel gab. Im Gespräch mit Bernd Leukert lässt Reichert die zahllosen kulturellen Bezüge ahnen, die in dem Buch miteinander verwoben sind.

Bernd Leukert im Gespräch mit Klaus Reichert

Henri Bergson schreibt im Kapitel „Die Wahrnehmung der Veränderung“, das in „Denken und schöpferisches Werden“ steht: „Suchen wir zu ergründen, was wir vor den Bildern eines Turner oder eines Corot empfinden: wir werden dann finden, dass wir sie nur deshalb anerkennen und bewundern, weil wir etwas von dem, was sie uns zeigen, selber schon wahrgenommen haben. Aber wir hatten es nur wahrgenommen, ohne es wirklich zu bemerken. Für uns war es eine flüchtig auftauchende und wieder verschwindende Vision in der Fülle von gleichermaßen flüchtig auftauchenden und wieder verschwindenden, die sich in unserer gewöhnlichen Erfahrung wie ‚dissolving views’ überdecken und durch ihre Interferenz die blasse und farblose Anschauung der Dinge bilden, wie wir sie gewöhnlich haben.“

Proust hat das mit dem musikalischen Motiv von Vinteuil beschrieben. Swann hört es zum ersten Mal und hat es dann vergessen. Er hört’s ein zweites Mal und merkt, dass er es schon einmal gehört hat, nur ist es ihm nicht im Bewusstsein geblieben. Und von Mal zu Mal, da er es hört, überlagern sich die unterschiedlichen Gedächtnisschichten. Aber beim ersten Mal – und das meint Bergson wahrscheinlich – habe ich etwas gehört, aber ich weiß es nicht. Und das ist das Merkwürdige, dass es eine Ablagerung in unserem Unbewussten, Vorbewussten gibt, die festhält, was wir beim ersten Mal gehört haben. Aber allenfalls ab dem zweiten Mal oder dem dritten Mal, wenn wir es wieder hören, können wir es allmählich fassen und erinnern es dann bewusst.

Auf Bildern ist das Flüchtige schon fixiert und gräbt sich deshalb besser ins Gedächtnis?

Oder auch nicht. Wenn ich jahrelang immer vor den gleichen Bildern stehe – was ich in Venedig zum Beispiel tue – dann merke ich manchmal, ich habe das Bild zwar oft ‚gesehen’, aber ich habe es nicht wirklich gesehen oder wahrgenommen. Es gibt dann einen jähen Moment, wo Du das Bild auf einmal, wie zum ersten Mal, siehst und merkst: das habe ich ja noch nie gesehen, obwohl ich weiß, dass ich zwanzig Mal davor gestanden habe. Es gibt eine Disposition in uns, die uns bereit macht – oder eben auch nicht – ein Bild so wahrzunehmen, dass es uns auf einmal trifft. Man kann es natürlich formal analysieren, ach wie schön, diese Korrespondenzen usw. Aber es hat dich noch nicht gepackt.
Ich beschreibe im Tagebuch eine Sequenz, wie ich die „Verkündigung“ von Tizian sehe. Ich sehe immer wieder noch etwas anderes. Das hängt natürlich mit Lichtverhältnissen zusammen, auch mit meiner jeweiligen Disposition. Es hängt aber auch damit zusammen, dass ich etwas anderes von ihm auch gesehen habe und auf einmal merke, wie etwa das Motiv der abwehrenden Hand sich zeigt. Die Magdalena auf dem Pietà-Bild, dem spätesten Bild Tizians, macht eine Geste: nicht der Trauer, sondern des Entsetzens. Und dann habe ich mir wieder die Verkündigung angeschaut: die gleiche Geste bei Maria. Das siehst du aber erst, wenn dir die Korrespondenz mit einem total anderen Sujet aufgefallen ist.
Es fällt dir ja nichts auf an den Wolken. Du schaust eben hoch. Es sei denn, du zwingst dich zu sehen: wie ist das gestaltet, wie ist das geformt. Wo zieht das hin? Welche verschiedenen Schichten gibt es, welche unterschiedlichen Winde spielen da eine Rolle, die die wechselnden Geschwindigkeiten der Wolken verursachen. Es ist aber ein bewusster Akt, so zu sehen.
Constable ist zwei Jahre lang jeden Tag von Hampstead Heath, von seinem Atelier aus, auf die Heide gezogen mit dem Malkasten, Papier, Öl und Leinwänden, hat genau das Datum, die Stunde, die Temperatur und die Windrichtung notiert. Und dann hat er versucht, das zu fixieren, aber so, dass er seine eigene Emotion mit hineingebracht hat. Das war für ihn ganz wichtig. Mein Impuls, das jetzt so zu sehen, der muss darin eine Rolle spielen, das heißt, es ist nicht traditionelle Fotografie, nichts Objektives: Ich mache da jetzt eine Klappe auf, und dann spiegelt sich das. Sondern es ist dieser persönliche Anteil an dem, was er sieht. Und: Es sind Skizzen. Er hat nie eine Wolke von seinen Skizzen in eine seiner großen Bilder übernommen, weil er sagte, mein emotionaler Anteil am Sehen und Fixieren dieser Wolke ist damals ein anderer gewesen. Anders als Caspar David Friedrich, der viele Wolkenskizzen gemacht hat und die dann irgendwo hingesetzt hat, weil bei ihm die Wolken ja symbolisch sind.

Nun steht das ja auch im Zentrum der Ästhetik des „Marbot“ von Wolfgang Hildesheimer: Ohne die Psychologie des Malers ist kein Bild wahrhaft.

Eben. Das trifft dann auch bei dem Fotografen Alfred Stieglitz zu, der ja zunehmend die Idee hatte, dass er seinen Seelenzustand ‚da oben’ abbildet. Oder er macht Portraits von seinen Freunden, vor allem von seinen Freundinnen, von seiner Frau Georgia O’Keeffe, Portraits, die den ganzen Konflikt dieses Liebes- und Ehedramas darstellen sollten.
Die meisten Maler wie Friedrich, Constable, Ruisdael, die erden ja ihre Wolken. Sie stehen in einem Bezug zur Landschaft, wir sehen die Witterungsverhältnisse, die Tönung im Gras, wir wissen den Standort des Malers. Stieglitz dagegen hielt die Kamera über den Kopf, um zu verhindern, dass noch irgendeine Verbindung zur Erde oder zu einem Standpunkt herauszulesen wäre. Es sind Portraits seiner Situation, seiner Gestimmtheit zu dieser genau bezeichneten Tageszeit oder diesem Ort. Seine Bilder führen zur Abstraktion. Er gründete einmal eine sehr wichtige Zeitschrift für Fotografie, „Camera Work“. Und da hat er 1912 Teile aus der Schrift „Über das Geistige in der Kunst“ von Kandinsky abgedruckt. Er bewegt sich also hin zur Abstraktion, gleichzeitig aber versteht er sich als Portraitmaler.

Worum geht es Dir denn bei diesem „Wolkendienst“?

Vordergründig geht es mir darum, etwas von dem festzuhalten, was sich mir zeigt, und, so genau es irgend geht, daran durch Beschreibung heranzukommen. Mein großer Meister ist natürlich Ruskin mit seinen fünf Bänden „Modern Painters“, wo es um Beschreibung, Beschreibung, Beschreibung geht. Und der wiederum war der Lehrmeister von Proust, der von ihm das Beschreiben gelernt hat. Er hat mehrere Bücher von ihm übersetzt. Er konnte zwar sehr schlecht Englisch, aber er hat sich von seiner Mutter und von der Kusine seines Freundes Reynaldo Hahn helfen lassen.
Aber beim Beschreiben merkte ich, wie unmöglich es eigentlich ist – je genauer ich hinschaue, desto fremder schaut ‚es’ zurück – und zwar nicht nur da, am Himmel, sondern auch auf den Bildern, in der Musik oder sonstwo. Das ist ein Geschäft, das eben auch eine never ending story ist. Es ist so wahnsinnig schwer, diese Winzigkeiten der Übergänge zu erfassen. Wer für mich auch sehr wichtig war, ist Gerard Manley Hopkins, der große Dichter, der Wolkentagebücher über viele Jahre geschrieben hat und irgendwo sagte, der kleinste Übergang in einer Wolke sei nicht der in ein (erwartbares) Kreuz (sharp), sondern in ein B (flat). Ich gebe im Buch dann das Beispiel: Das ist so wie Fis und Ges. In der temperierten Stimmung ist das ein Ton. Aber der gehört als Fis und als Ges in völlig verschiedene, ganz andere Tongeschlechter. Und das ist für mich der ideale Versuch festzuhalten, wie schwierig ein Übergang in einer Wolke wahrzunehmen ist – nun, Hopkins hat ihn ja wahrgenommen, aber in der Beschreibung löst sich das dann beinahe wieder auf, weil es sich eben nicht so minutiös beschreiben lässt.

Um die Unmöglichkeit zu beschreiben zu wissen und dann ein Buch darüber zu schreiben, ist ja ein tollkühnes Unternehmen.

Ich schreibe ja auch am Anfang: „Fail better next time!“, den berühmten Satz von Beckett. Er sprach ja immer von „Failed again!“, und dennoch es nochmal versuchen.

Du hast ja vermutlich früh angefangen, Dir Notizen zu machen über Wolken …

Ich habe sehr früh angefangen und habe relativ systematisch seit den siebziger Jahren aufgeschrieben. Ich habe leider viel verloren. Ich habe ein dickes Heft mit über Jahre entstandenen Beschreibungen in einem Taxi in Istanbul liegen lassen. Oder ich war einmal zwei Monate in Wiepersdorf und habe den brandenburgischen Himmel, diesen hohen Himmel beschrieben. Das muss auch noch irgendwo liegen. Aber ich finde es nicht mehr. Ich habe nämlich immer wieder trainiert, Bilder zu beschreiben. Im 19. Jahrhundert, bei Jacob Burckhardt zum Beispiel, gibt es wunderbare Bildbeschreibungen. Und irgendwann, seit es die Fotografie gibt, machen sich die Kunsthistoriker nicht mehr die Mühe, Bilder zu beschreiben, sondern sagen: „siehe Abb. X“. Sie drücken sich um diese unglaubliche Schwierigkeit herum, Bilder zu beschreiben. Und das hat mich immer geärgert und gereizt. Wenn ich in Vorlesungen Bilder aus der Renaissance besprochen habe, habe ich sie nicht gezeigt, sondern habe sie beschrieben. ‚Versucht, Euch das jetzt vorzustellen! Das ist genauer, als wenn ich Euch eine Abbildung gebe, die nie, nie das Bild wirklich zeigt.’ Deswegen gibt es in meinem Buch viele Bildbeschreibungen, aber nicht zu jedem Bild eine Abbildung. Denn das, worauf es ankommt, lässt sich nicht abbilden. Die Wolken und Seestücke von Jan van Goyen z.B., wenn du davor stehst, vor dieser reichen Palette, und dann eine Abbildung siehst, so ist das nur eine feldgraue Fläche.

In den letzten Jahren mehren sich die Veröffentlichungen über Wolken. Dein Gedichtband, „Gesicht in den Wolken“, hat zwar nicht so viel zu tun mit den Wolken, aber immerhin nimmt er schon Bezug darauf. Lea Singer hat die ‚Anatomie der Wolken’ herausgebracht …

Das ist ein Roman über Caspar David Friedrich und Goethe. Und es gab und gibt große Ausstellungen zum Thema Wolken.

Und neben dem Gedichtband „Wolkenformeln“ von Jan Volker Röhnert gibt es den von André Ughetto, „Édifices des nuages“. Im Moment wolkt man herum.

Das ist ganz verteufelt; vielleicht ein Gesetz, das man noch nicht kennt. Wenn du an einer Sache bist, und ich bin, wie gesagt, schon sehr, sehr lange daran, – kommen auf einmal alle anderen auch darauf. Als ich Ende der 50er Jahre anfing, mich mit Lewis Carroll zu beschäftigen, war der nichts anderes als ein Kinderbuchautor. Es gab allerdings ein großes Interesse an ihm bei den Surrealisten. Aber die Wissenschaft hat sich überhaupt nicht damit beschäftigt. Und als ich Mitte der 60er Jahre meine Dissertation darüber schrieb, erschienen auf einmal in aller Welt wissenschaftliche Arbeiten über Lewis Carroll. Manchmal liegen Themen eben in der Luft, wie zur Zeit auch die Meteorologie.

Das ist nicht fair.

Und als damals, 2003, von Enzensberger der Band „Die Geschichte der Wolken. 99 Meditationen“ herauskam, habe ich ihn nicht gelesen. Ich wollte nicht lesen, was diesem Igel aus dem Märchen, der immer schon da war, dazu einfällt. Ich habe mir gesagt, so wie ich die Sache sehe, sieht sie ganz bestimmt keiner. Und es sind ja nicht nur Tagebücher und Beschreibungen von Wolken, sondern mich hat das auch wissenschaftlich oder historisch interessiert. Es gibt ja ganze Stränge, das Bild ‚Jupiter und Io’ zum Beispiel, dieser wunderbare Rückenakt von Correggio aus Wien, und da erzähle ich den ganzen Mythos, bis hin zu der Io am Himmel, dem Jupitermond. Ovid erzählt die Geschichte von Jupiter, der die Io in einer Wolke umarmt, aber er sagt eben nicht ‚nebula’, sondern ‚caligo’, das ist eine Dampf- eine Dunstwolke, und sie ist es, die Correggio gemalt hat. Hier geht die erzählende Beschreibung über in Essayistik.
Ich setze mich nämlich im Buch auch hinweg über die Gattungsgrenzen. Und das hat hier wiederum mit den Wolken zu tun: immer wieder verändert sich alles: eben noch Cumulus und im nächsten Augenblick schon nicht mehr.

Unter den vielen Textsorten – wie man früher gesagt hat -, die Du in dem Buch versammelt hast, gibt es eben auch immer wieder Versuche zu beschreiben, und zwar nicht, wie ein Zeichner zu beschreiben, sondern oft hemmungslos metaphorisch. So gebrauchst Du oft theatralische Aufzüge …

Das ist ja auch so! Kulissen für Opern und Schauspiele.

Ich habe mir einige aufgeschrieben.
„Über der waldigen Bergkuppe im Westen steigen lumpige schwarzgraue Fetzen hoch, sehr hoch und noch höher, Gewänder, die zu viele Jahre auf dem Schnürboden hingen, mottenzerfressen, und die ein Inspizient musternd auseinanderzieht, ob noch ein Stück verwendbar ist. Manchmal schimmert an den ausgefransten Rändern eine Goldlitze mit dem verächtlichen Hochmut gewesener Pracht: wir waren einmal wer.“

Ja, das verselbständigt sich natürlich vor dem Himmelsgrund!

Oder: Gestern ein unspektakulärer Abgang der Sonne wie nach der Aufführung eines überflüssigen Stücks in der zweiten oder dritten Besetzung.
Oder auch: Dann die Dramatik des schrägen Abgangs. Man sah die Sonne sekündlich absteigen (oder die Erde sich wölben) und mit primadonnenhafter Verbeugung unter tief herabgezogenem Hut hinter der Horizontlinie verschwinden. Applaus. (Gelächter)
Um das Animierende im Doppelsinn, also die Animation, das Anthropomorphe kommt man kaum herum!

Ja, das thematisiere ich natürlich auch. Das für uns Natürlichste ist, da irgendetwas hineinzusehen. Wir haben zum Beispiel Hamlet und Polonius – die Stelle zitiere ich nicht, erwähne sie nur gelegentlich – „Do you see yonder cloud that’s almost in shape of a camel? – By the mass, and ‘tis like a camel, indeed. – Methinks it is like a weasel. – It is backed like a weasel. – Or like a whale? – Very like a whale.”
[HAMLET
Seht Ihr die Wolke dort, beinah in Gestalt eines Kamels? POLONIUS
Beim Himmel, sie sieht auch wirklich aus wie ein Kamel. HAMLET
Mich dünkt, sie sieht aus wie ein Wiesel. POLONIUS
Sie hat einen Rücken wie ein Wiesel. HAMLET
Oder wie ein Walfisch? POLONIUS
Ganz wie ein Walfisch.] setzt er noch oben drauf! Das ist unser Problem, die bizarren Gewirke hereinzuholen in uns bekannte Gestalten und Formen. Das ist aber schon in der Antike so. Deswegen habe ich auch solche ätiologischen Mythen nacherzählt, etwa die Entstehung der Kentauren, dieser typischen Zwischenwesen, die wir am Himmel zu sehen meinen. Da gibt es die Geschichte des Ixion. Der war an der Tafel der Götter zugelassen, verliebte sich in Hera und dachte, die hat genügend Grund, sich auch einmal einen Seitensprung zu gönnen, – sie wird sich schon mir hingeben. Zeus merkt natürlich seine Absicht und bildet Hera in Gestalt einer Wolke nach, die Ixion dann beschläft. Und der Sohn, der so entsteht, hat wiederum Verkehr mit Kühen, und daraus entstehen die Kentauren! (lacht) Alle bizarren Himmelserscheinungen gibt es ja schon in der Antike. Da fand ich fabelhaft, wie sie sich die erklärten. Etwa die Ambosswolke: als Hera irgendwann einmal ihren Mann hintergehen wollte – sie hasste den Herakles und wollte ihn vernichten – kam Zeus natürlich noch rechtzeitig drauf und sagte, das letzte Mal, als du mich hintergehen wolltest, habe ich dich an den Himmel und dir einen Amboss an die Beine gehängt, damit du mir nicht auskommst, und hab’ dich so dann durchgepeitscht. – Amboss-Wolken erscheinen häufig vor Regen, und die Alten haben sich eine Geschichte erfunden, um sich einen Vers darauf zu machen, wieso Ambosse am Himmel hängen können. Es gibt viele ätiologische Mythen, um unerklärliche Naturerscheinungen zu verstehen.

Beim Lesen des Buches habe ich mich gefragt, ob es etwas hinter diesen Beschreibungen, Zitaten und Essays steht als Dreh- und Angelpunkt, und habe ein paar gefunden.

Das ist ja die Frage bei manchen: Es muss doch etwas dahinter geben! Der gläubige Ruskin wusste, dass die Gestalt der Wolken von Gott gemacht ist. Und wir haben ja immer noch so eine merkwürdige Beziehung, die wir zu den Wolken herstellen: das ist jetzt meine Wolke. Die zeigt mir genau meinen Schmerz, mein Glück, meine Trauer oder was auch immer, als gäbe es da etwas, was anspricht auf tief in uns verdrängte Ängste, Wünsche, Hoffnungen, die uns nicht bewusst werden. Wenn mich Leute im Laufe der Jahre gefragt haben, was arbeiten Sie denn so? Joyce! Aha. Oder Virginia Woolf. Ach, immer noch? Wenn ich aber gesagt habe, über Wolken!, sagte jeder: Ach ja, das ist aber interessant! Das interessiert mich. Das ist doch sehr merkwürdig. Da muss es in allen Menschen etwas geben, über das sie selber nicht verfügen, was sie aber sofort in irgendeiner Weise elektrisiert. Die Schwierigkeit, die ich immer wieder reflektiert habe, ist, eben nicht das Anthropomorphe und das Gegenständliche darin zu sehen, auch wenn manche Maler das getan haben. Z.B. im Wiener Hl. Sebastian von Mantegna siehst du oben bestimmte Tiergestalten. In Mantegnas „Tugenden und Lastern“ siehst du eine ganze Pferdeherde in den Wolken. Oder in dem relativ kleinen Bild vom Hl. Michael in Venedig siehst du Wolken, die aus kleinen Seetierchen, Muscheln usw. zusammengesetzt sind. Du kannst sie normalerweise nicht sehen, nur wenn du direkt und nah vor dem Bild stehst. Also, man kann bestimmte Formen in den Wolken sehen. Aber es muss auch andere Möglichkeiten geben. Es ist sehr schwer, aber man muss versuchen, auch ungegenständlich zu beschreiben. Man kann sich allenfalls Geschichten ausdenken, die man daraus machen kann.

Deshalb hat mir am besten ein Zitat gefallen, was Du von Lévy-Strauss anführst. Das hat für mich auch das ganze Buch erhellt: „Lévy-Strauss schreibt einmal von der Begegnung mit einem Häuptling im tropischen Urwald, bei der er sich Notizen machte. Der Häuptling schaute verwundert zu, erbat sich dann einen Stift und ein Blatt Papier, das er stumm mit Strichen und Kurven bedeckte und dann mit bedeutungsvoller Miene zurückreichte.“ – Der Häuptling setzt dem Zeichensystem, das Lévy-Strauss bei seinen Notizen verwendet, ein anderes Zeichensystem entgegen. (Gelächter)

Das habe ich im Kopf gehabt. Das entstammt, glaube ich, den „Traurigen Tropen“. Ich kenne das sehr lange. Und vor allem: „Mit bedeutungsvoller Miene“!

Das ist aber ein Zeichensystem, das nur scheinbar unsere Erfahrungswelt widerspiegelt. Es ist bedeutsam, – nur nicht für uns.

Ja! Das Problem, das sich Ruskin immer wieder stellt: Es gibt nur einen begrenzten Formenkanon auf der Welt. Die gleiche Idee hatte Novalis auch. Der zeigt sich in den Wolken, der zeigt sich in den Blattformen, der zeigt sich in bestimmten Gebirgsfaltungen usw. Gott arbeitet mit einem Werkzeugkasten, der nicht unendlich ist, obwohl er uns unendlich erscheint. Es gibt aber immer wieder Grundformen, die auftauchen. Und es gibt ja Maler, wie Cézanne, der eben auch versucht hat, die Natur zurückzuführen auf bestimmte geometrische Figuren, auf Kreis, Kegel usw. Es sind immer wieder ähnliche Motive, aber es ging ihm darum, wie kann man diese Grundformen in einer unendlichen Variation darstellen. So gibt es viele Ansatzpunkte, nicht nur, zu beschreiben, sondern hinter der Beschreibung noch etwas anderes aufscheinen zu lassen, was sich aber nicht wirklich in Worten sagen lässt.
Wer für mich ziemlich früh wichtig gewesen ist, ist Husserl, der sein Leben lang versucht hat zu beschreiben, die Dinge, die Phänomene: Und es war immer noch nicht das Richtige. Er hat ja dann nach den frühen Büchern kaum mehr veröffentlicht, ein paar Vorlesungen, Cartesianischen Meditationen, dann noch ein spätes Buch über Handlungstheorie. Aber im Nachlass – 34 Bände – sind auch seine Versuche der Beschreibung herausgekommen, in denen er immer wieder von Neuem versucht, den Dingen, den Phänomenen näher zu kommen. Blumenberg spricht vom Verhältnis des Gesehenen zum Übersehenen. Das erfährt man auch bei wiederholt angeschauten Bild, bei jeder Musik, bei jeder Lektüre. Nur bei den Wolken kannst du nicht ein zweites Mal hinschauen.

Bei Husserl ist das auch eine Art Infinitesimalrechnung.

Genau! Eben. Er hat ja auch als Mathematiker begonnen. – Es ist letztlich eine erkenntnistheoretische Frage, die dahinter steht. Gut, ich habe das mit Wolken gemacht. Ich kann es auch mit Pflanzen machen und komme nicht weiter, mit Bäumen! Wenn man sich vorstellt: Kein einziges Blatt auf der Welt gleicht dem anderen! Es sind infinitesimale Variationen. Darin besteht meine Lust an Ligeti, wo gleichzeitig sechzehn 2. Geigen spielen, gleichzeitig verschiedene Sachen in verschiedenen Tempi – genauer kannst du die Wolke gar nicht fassen. Und darum sagt ja auch Stifter, der diese hinreißende Beschreibung einer Sonnenfinsternis geschrieben hat, ich kann das gar nicht. Es geht nicht. Wäre ich ein Beethoven, dann könnte ich es vielleicht.

Und das sagt Stifter!

Und deswegen kommt da überhaupt die Musik in das Buch, weil ich denke, das ist vielleicht das einzige Medium, in dem so etwas wie eine Annäherung an das, was da oben geschieht, gemacht werden kann, also mit der Sprachlosigkeit. In all den Zitaten aus Busoni aus dem „Entwurf einer neuen Ästhetik der Tonkunst“ nimmt die Zukunftsmusik die Form von Wolken an.

Letzte Änderung: 13.08.2021

Klaus Reichert Wolkendienst. Figuren des Flüchtigen

Klaus Reichert Wolkendienst. Figuren des Flüchtigen

Gebunden, 248 Seiten
ISBN 978-3-10-397228-3
S. Fischer, Frankfurt am Main, 2016

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