Bulat Okudshawa – Dichtersänger des Arbat

Bulat Okudshawa – Dichtersänger des Arbat

Eine Würdigung zum 100. Geburtstag
Bulat Okudshawa in Berlin (1976) | © Ekkehard Maaß

Die Bedeutung des Liedermachers und Erzählers Bulat Okudshawa für den zivilen Ungehorsam und für eine kreative Gegenkultur angesichts des repressiven Regimes in der Sowjetunion war immens. Auch in der DDR, Polen oder der ČSSR kamen seine Botschaften an. Keine Frage, seine Stimme würde heute ebenso gegen den Ukrainekrieg ansingen wie gegen die Ermordung von Oppositionellen, gegen Korruption und Machtcliquen. Geprägt hatte ihn die Ermordung seines Vaters durch den NKWD, die Gulag-Haft seiner Mutter und seine Erfahrungen als junger Rotarmist im Zweiten Weltkrieg. Sein Nachdichter Ekkehard Maaß erinnert an den Chansonnier und Rebellen, dessen poetische und widerständige Texte bis heute von hoher Aktualität sind – und jetzt in einer neuen Übersetzung vorliegen.

Am 9. Mai 1924 wurde der legendäre, bis heute in Osteuropa bekannte Dichtersänger Bulat Okudshawa im Moskauer Stadtviertel Arbat geboren, wo er seine Kindheit verlebte und dem er viele Lieder widmete. Denn seine Kindheit endete abrupt im Jahr 1937, da war er grad 13 Jahre alt. Beide Eltern wurden verhaftet, der Vater, ein Georgier, erschossen, seine Mutter, eine Armenierin, für 17 Jahre in den Gulag geschickt. Beide waren aufrichtige Kommunisten, die ihr Leben der Partei gewidmet hatten. Allein 1937 wurden unter Stalin zwei Millionen unschuldiger Sowjetbürger verhaftet, 700.000 nach grausamen Verhören erschossen, 1.300.000 in die Straflager Sibiriens verschleppt.

Als der Krieg ausbrach, ging der elternlose Bulat freiwillig an die Front und begriff nach kurzer Zeit, wie widersinnig es ist, dass sich junge Menschen in Schützengräben gegenüber liegen und sich gegenseitig töten. Bulat Okudshawa hatte Glück, er wurde verwundet und überlebte. Die Stalinepoche und das Thema Krieg beschäftigten ihn ein Leben lang und die Trauer über die Opfer, damals ein Tabuthema, schwingt zwischen den Zeilen aller seiner Lieder, aufgefangen von einer feinen Ironie.

Bereits während seines Studiums begann Bulat Okudshawa Gedichte zu schreiben. Aus dem rhythmischen Vortrag seine Gedichte wurden Lieder. Und weil diese Lieder ungemein gefielen, wurde Bulat Okudshawa sehr schnell bekannt, nicht nur in Russland, sondern in der gesamten Sowjetunion und in ganz Osteuropa. Es entstand die sogenannte Tonbandliteratur, die Lieder wurden unzählige Male überspielt und nachgesungen, dagegen kam keine Zensur an. Bulat Okudshawa wurde zum Vater des sowjetischen Autorenliedes, ihm folgten Sänger wie Wladimir Wyssozki, Juri Wisbor, Juli Kim und viele andere, es entstand eine ganze Bewegung. Weil Okudshawa in seinen Liedern der menschenverachtenden stalinistischen Ideologie menschliche Werte und Gefühle entgegensetzte, war er nur indirekt politisch. Dem Charme seiner Lieder erlag sicher auch die Nomenklatura. Die Bedeutung dieser Lieder für den Zerfall der kommunistischen Diktaturen in Osteuropa wurde bisher viel zu wenig gewürdigt.

Ich hörte das erste Mal durch Wolf Biermann von den dissidentischen Liedermachern Okudshawa und Wyssozki, das war 1973 auf einem Künstlerfest. Wolf Biermann hatte gerade das inzwischen berühmte Lied “Ach die erste Liebe” von Bulat Okudshawa übersetzt und sang es uns vor. Ich war tief beeindruckt und begriff sofort, dass es meine Aufgabe ist, Okudshawa und Wissozky zu suchen und ins Deutsche zu übersetzen, denn im Gegensatz zu Wolf Biermann sprach ich gut Russisch. Die Liebe zur russischen Sprache und Literatur hatten meinen baltischen Tanten angeregt. Dazu hatte ich seit meinem 14. Lebensjahr enge Kontakte zu den Soldaten der Sowjetarmee, die in den Wäldern unseres Dorfes ihre Sommerlager abhielten.

Persönlich lernte ich Bulat Okudshawa am 2. Dezember 1976 kennen, zwei Wochen nach der Ausbürgerung Wolf Biermanns, gegen die bekannte Schriftsteller wie Christa Wolf, Heiner Müller und viele andere protestiert hatten. Im Theater im Palast der Republik hatte Bulat sein erstes Gastspiel in der DDR. Ich war damals noch etwas schüchtern, und ehe ich Bulat Okudshawa ansprechen konnte, war er bereits umringt von korpulenten russischen Frauen, die mich nicht an ihn heranließen. Ich schrieb auf einen Zettel: „Lieber Bulat, ich möchte Dir berichten, was hier gerade geschieht, ich bin Ekke Maaß, ein Freund von Wolf Biermann“. Diesen Zettel reichte ich Bulat, er las ihn und rief er mir eine vierstellige Nummer zu. Ich fuhr glücklich nach Hause, weil er mir geantwortet hatte. Doch was bedeuteten die vier Ziffern? Irgendwann ahnte ich, dass es seine Zimmernummer im Hotel sein könnte. Natürlich war es das neue Hotel am Alexanderplatz, wo ich Bulat Okudshawa am nächsten Tag besuchte, ihm eine Kassette mit Biermannliedern schenkte und von ihm ein Büchlein mit seinen Liedern erhielt. Auch den Mitschnitt seines Konzerts konnte ich mir beschaffen und begann sofort, die Lieder nachzusingen und zu übersetzen. Nach und nach wurde ich ein Okudshawa-Lieder-Sänger und das bin ich bis heute geblieben.

Es war damals sehr schwierig, in die Sowjetunion zu reisen, das konnte man nur für viel Geld als Tourist in einer betreuten Gruppe. Erst 1978 gelang es mir, an einem Studentenlager im Gebiet Kalinin teil zu nehmen. Gleich nach der Ankunft in Moskau wollte ich Bulat besuchen. Bis ich die Adresse fand, war es nachts 2 Uhr. Ich wähnte mich in einer völlig anderen Welt. Die Leute, die ich fragte, meinten, in Moskau ist ein Intellektueller selbstverständlich um diese Zeit noch wach! Doch mir öffnete Bulat bereits in der Turnhose und fragte verstört, kannst Du nicht Morgen kommen? Ich hatte auf dieser Reise wunderbare russische und georgische Freunde gefunden, die mir dann private Einladungen schickten. So konnte ich jedes Jahr Bulat Okudshawa in Moskau oder auf seiner Datsche in Peredelkino besuchen und erlebte mit ihm wunderbare Geschichten.

Salon mit Bulat 1982 | © Foto: Ekkehard Maaß

Weil ich mit dem Staatsfeind Wolf Biermann befreundet war und gegen seine Ausbürgerung Unterschriften gesammelt hatte, wurde ich von der Humboldt-Universität religiert und gründete wenig später in meiner geräumigen Wohnung nach Moskauer Vorbild einen Literarischen Salon. Dort besuchte mich auch Bulat Okudshawa und 1982 fand hier ein Abend mit Bulat statt. Es waren vor allem viele Autoren gekommen. Einer von ihnen, der Dichter Adolf Endler, beschrieb den Abend in seinem Buch „Tarzan am Prenzlauer Berg“: „Noch nie habe ich Desperateres über den Weg der Sowjetunion gehört; zweifellos ist Bulat Okudshawa der Auffassung, dass die Sowjetunion (vielleicht die ganze Welt) keine Zukunft hat. Oh Blacky Bulat…“

Gleich nach der Wende, 1990, wurden dissidentische Autoren aus Osteuropa nach Bayern eingeladen, unter ihnen auch Bulat Okudshawa und ich als Übersetzer und Interpret seiner Lieder. So hatte ich das Glück, mit ihm nach Passau und Regensburg zu unseren Konzerten zu reisen und mit ihm auf der Bühne zu stehen. Aber das ist alles lange her. 1997 besuchte ich Bulat Okudshawa ein letztes Mal in Moskau. Er hatte bereits einen Herzschrittmacher und sollte sich vor Infektionen hüten. Trotzdem fuhr er zu Auftritten nach Berlin und Paris, wo sein Leben viel zu früh endete. Geblieben sind seine Romane und seine Lieder, die für mich, nicht zuletzt durch die politischen Ereignisse, immer wieder neu und aktuell sind. Ganz durchwandern, wie im Lied über den Arbat, werde ich sie nie.

Letzte Änderung: 17.05.2024  |  Erstellt am: 16.05.2024

Maaß und Okudshawa in München (1990) | © Foto: Ekkehard Maaß
Mein Jahrhundert: Lieder und Gedichte | © Foto: Lukas Verlag

Bulat Okudshawa Mein Jahrhundert: Lieder und Gedichte

Hrsg. und übersetzt von Ekkehard Maaß, mit einem Vorwort von Wolf Biermann, einem Nachwort von Katja Lebedewa und Illustrationen von Moritz Götze,
136 Seiten, broschiert.
978-3-86732-444-1
Lukas Verlag, Berlin 2024

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Wunderbare Abenteuer | © Foto: Lukas Verlag

Bulat Okudshawa Wunderbare Abenteuer

Hrsg. und übersetzt von Jekaterina (Katja) Lebedewa,
80 Seiten, geb.
978-3-89603-589-9
leiv-Verlag, Leipzig 2024

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