Literatur im Krieg

Literatur im Krieg

Eine Reise in die Ukraine

‚Ukraine’ bedeutet ursprünglich: Grenzland, wird aber seit dem 12. Jahrhundert im Sinne eines selbständigen Herrschaftsgebiet oder Fürstentums verwendet. Was das für das 21. Jahrhundert für die Kultur des Staates bedeutet, erfuhr Volker Breidecker, als er sich zum Lyrikfestival „Meridian“ dorthin begab. Das war vor acht Jahren. Und was damals geäußert wurde, klingt prophetisch.

Eine spätsommerliche Reise in die Ukraine, nach Lemberg und Czernowitz zum Lyrikfestival „Meridian“

Für Joseph Roth, der im nahen Brody aufwuchs, war die „Klein-Wien“ gerufene ostgalizische Metropole eine „Stadt der verwischten Grenzen“: Als Knotenpunkt alter Handelsstraßen war Lemberg, das heutige Lviv, wie Alfred Döblin einmal schrieb, „Stapelplatz und Umschlagsort zwischen Osten und West“; obendrein wird die Stadt von der Wasserscheide zwischen dem Baltischen und dem Schwarzen Meer durchzogen. In Lembergs „Wasserscheidigkeit“ sieht der ukrainische Gegenwartsautor Juri Andruchowytsch auch ihre historische Verfassung verankert, „gleichzeitig vielen Kulturen und keiner ausschließlich anzugehören“.

Lemberg heute ist wieder jene „lebhafte westlich-moderne Mittelstadt“, die Döblin in ihr sah. Von hier war die Bewegung des „Euromaidan“ ausgegangen. „Willkommen in Lviv“ ist in vielen Sprachen auf riesigen Plakatwände zu lesen, die in der gläsernen Galerie des zur Fußballeuropameisterschaft 2012 erbauten Internationalen Flughafens noch immer das Logo „EURO 2012“ präsentieren. Zwei Jahre danach wirkt der Flughafen, gemessen an seiner Auslastung, viel zu groß geraten. Und ins nahe gelegene Stadion emigriert ist die komplette Mannschaft aus Donezk, der zerschossenen und entvölkerten Metropole der Ostukraine, wo zur EM 2012 noch das Halb- und das Viertelfinale stattfanden.

„Es ist Krieg“, sagt Jurko Prochasko, „und damit
 ist die Postmoderne zu Ende.“

Hatte die EM-Hymne noch einen besonders „langen Sommer“ versprochen, so erfreuen sich die Menschen im Westen der Ukraine derzeit der vielleicht auf lange Zeit letzten sonnigen Tage eines kurzen, den Krieg ins Land bringenden Sommers. Auf ihn wird ein Winter folgen, den schon jetzt alle fürchten. Um „diesem umkämpften Gebiet, das wir heute ganz ohne Beschaulichkeit die ,Mitte Europas’ nennen“, einen solidarischen „acte de présence“ zu erweisen – schrieb Heinrich Detering, der Präsident der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung, in einer Grußbotschaft an die Teilnehmer des Meridian Festivals –, sind mit dem Schriftsteller und früheren Hanser-Verleger Michael Krüger und dem österreichischen Lyriker Franz Josef Czernin zwei Mitglieder der Akademie angereist. In Lviv nimmt sie ihr ukrainischer Kollege, der Psychoanalytiker, Publizist und Übersetzer Jurko Prochasko in Empfang. „Es ist Krieg“, sagt der brillante Intellektuelle, „und damit ist die Postmoderne am Ende.“

Vor der Weiterreise ins 300 Kilometer und sechs Bahnstunden entfernte bukowinische Czernowitz macht die kleine Gruppe einen Abstecher nach Drohobycz, zu den Schauplätzen, an denen der große jüdische Schriftsteller und Künstler Bruno Schulz (1892-1942) lebte und schrieb, zeichnete und malte, bis er von einem SS-Mann auf offener Straße ermordet wurde. Die Fahrt führt an Lvivs ehemaliger NKWD- Zentrale und an einer früheren Kadettenschule vorbei, die jetzt eine Militärakademie beherbergt. Während des Maidans hatten beherzte Mütter die Kaserne blockiert, um zu verhindern, dass ihre Söhne nach Kiew geschickt würden. Jetzt rücken von hier regelmäßig Einheiten nach dem umkämpften Osten des Landes aus. Allerorts entlang der Autostraße werden Schutzgitter von Jugendlichen in der blau-gelben Landesfarbe bemalt. An den Bushaltestellen eines jeden Dorfes stehen Gruppen von Frauen und Kindern herum, die unter wehenden Fahnen auf Rücktransporte von Soldaten warten, auf ihre Söhne, Geschwister und Verwandte.

In Drohobycz zeigt Prochasko den Besuchern die Villa, von deren Balkon aus ein SS-Mann wahllos jüdische Ghettobewohner niederschoss. Eine Gedenkplatte markiert die Stelle am Straßenrand, an der Bruno Schulz erschossen wurde. Im Museum der Stadt ist inzwischen ein Raum mit Zeugnissen aus seinem Leben und Werk zu sehen. Auf der Rückfahrt nach Lemberg passieren wir verlassene Fabriken, darunter die Industrieanlage, in der der deutsche Fabrikdirektor Berthold Beitz einst Juden vor dem sicheren Tod rettete; ferner eine Doppelreihe halb verrosteter Rohre – Teile der umstrittenen russischen Gasleitung, die durch die Ukraine verläuft. So lange Putin an der Macht bleibe, sagt Prochasko, werde es für die Ukraine keinen Frieden und keine Sicherheit geben.
Im großen kakanischen Bahnhof vom Lemberg muss der junge Joseph Roth ein- und ausgefahren sein. Die Landschaft auf der langen Fahrt in die Bukowina ist dieselbe, die Roth schilderte: „Die Felder waren gelb, stachlig, hart“, hier und da sieht man sogar noch Bauern in Pferdewagen. Schließlich erreichen wir Czernowitz, die Stadt, in der, ihrem bedeutendsten Sänger zufolge, „Menschen und Bücher lebten“ – im Präteritum!

„Die Felder waren gelb, stachlig, hart“, schrieb Joseph Roth. Sie sind es noch

Schon mit ihrem Namen „Meridian“ ist die Festivalkarawane, die Tage zuvor in Kiew und Charkiw Anlauf genommen hat, Paul Celan verpflichtet, der seine Büchnerpreisrede 1960 „Der Meridian“ nannte. Zum fünften Mal kam man in Czernowitz zusammen, in der Absicht, diese Stadt, die einmal so europäisch, österreichisch, ungarisch, rumänisch, ukrainisch, armenisch, tschechisch, russisch, deutsch und jüdisch war wie kaum eine andere, „wieder auf die intellektuelle Landkarte Europas zu setzen, auf die Landkarte unserer gemeinsamen europäischen Kultur“. So sprach bei der Eröffnung der deutsche Botschafter, der wie sein Schweizer und sein Französischer Kollege aus Kiew angereist war.

Den feierlichen Reden im Marmorsaal der Universität vorausgegangen war eine Schweigeminute für die im Krieg Gefallenen. Seltsam, wie normal es plötzlich ist, in Kriegszeiten Literatur zu machen und über Literatur zu reden. Und doch hatte sich an den schnödesten Alltagsdingen – unseren dummen oder auch weniger dummen Gewohnheiten und Gedanken, unseren Allergien und Idiosynkrasien – nichts, aber auch gar nichts geändert. Und tagelang schien dazu die Sonne, es war großartiges Licht in Straßen und Parks und ein Lächeln in den Gesichtern.

Dieses merkwürdige Grundgefühl verband Teilnehmer und Gäste des Festivals mit dem heimischen, vorwiegend jungen Publikum. Wenn man nur danach fragte. Und man brauchte bloß weiter zu fragen, und schon legten sich tiefe Sorgenfalten in die Gesichter der Menschen. Denn ein jeder hier hat Verwandte, Bekannte oder Freunde, die als Waffenpflichtige oder Freiwillige nach dem Donbas gegangen sind.

Die Krankenhäuser, auch im beschaulichen Czernowitz, so heißt es, seien voller verwundeter, traumatisierter Soldaten, die Städte voller Flüchtlinge aus dem Osten. Serhij Zhadan, der vor allem unter der Jugend gefeierte Sänger, Musiker, Dichter, Romancier und – neuerdings auch – Übersetzer Celanscher Verse, hat verlässliche Kunde davon, dass in der zerstörten Stadt Luhansk nur noch Alte und Kranke zurückgeblieben seien und dort ohne Trinkwasser dahinsiechten. Auf einem Podium mit Andruchowytsch plädierte Zhadan für eine Literatur, die vom Leben, Leiden und Sterben der Menschen in den Kriegsgebieten erzählt.

Drei Tage lang wurde an verschiedenen öffentlichen Orten in Czernowitz gelesen, diskutiert, musiziert. Am Sonntag trafen sich alle Teilnehmer – Ukrainer, Deutsche, Österreicher, Schweizer, Polen und Franzosen – zu Lyriklesungen inmitten der Ruine der einstigen Einsegnungshalle des Jüdischen Friedhofs, der weit genug außerhalb der Stadt liegt, dass er die deutsche Besatzung überstanden hat, wenn dort auch niemand von denen begraben liegt, die zwischen 1940 und 1945 starben.

Und bevor der verbleibende Tross anderntags nach Ivano-Frankivsk und weiter nach Lviv zog, gehörte der Sonntag vor allem der Musik. Auf dem Korso, der ehemaligen Herrengasse, jetzt nach der in der ukrainischen wie deutschen Sprache gleichermaßen beheimateten Nationaldichterin und Feministin Olga Kobylanska benannt ist, spielte eine jüdische Klezmerband. Und auf der Bühne des großen bewaldeten Volksparks, der – wie so viele andere ländliche Einsprengsel auch – mitten in der Stadt liegt, trat Serhij Zhadans legendäre Ska-Punkrockband „Sobaky v kosmosi“ auf.

Wie überall galt hier „Eintritt frei“, und unter der Musik und in der Woge der vor und auf der Bühne wild und ausgelassen tanzenden Fans verwandelten sich alle Sorgen und Ängste, alle Kümmernisse und Nöte, alle Wut und aller Zorn in vehemente „Begeisterung“ – in jenem emphatischen Sinn, den die Czernowitzer Poetin Rose Ausländer einst diesem Wort beimaß – und in reine Energie.

 
 

Der Beitrag erschien zuerst in der Süddeutschen Zeitung vom 11. September 2014

Letzte Änderung: 26.02.2022  |  Erstellt am: 26.02.2022

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