Licht und Dunkelheit

Licht und Dunkelheit

Arundhati Roys Essayband „Azadi heißt Freiheit“
Arundhati Roy

Arundhati Roy lebt gefährlich, und sie setzt sich der Gefahr aus. Ihre Romane, Drehbücher, Vorträge und Artikel in allen verfügbaren Medien thematisieren die gesellschaftspolitischen Katastrophen Indiens, und dagegen kämpft die Schriftstellerin auch auf der Straße: gegen die staatlich initiierten Pogrome, unter denen Minderheiten und Nicht-Hindus leiden, die Besetzung Kaschmirs, die Abholzung und den Bau von Staudämmen. Roy riskiert im Modi-Regime sehr viel. Ihren Essayband „Azadi heißt Freiheit“ hat Clair Lüdenbach gelesen.

Die literarische Karriere von Arundhati Roy ist einzigartig. Als ihr Debütroman „Der Gott der kleinen Dinge“ 1997 mit dem Booker-Preis ausgezeichnet wurde, rückte sie ins Rampenlicht der globalen Verlagsbranche und hätte zu einem bekannten Namen für kosmopolitische Romane werden können, wie es Salman Rushdie und Kazuo Ishiguro waren.

Stattdessen hielt sie sich in den nächsten 20 Jahren (bis zur Veröffentlichung ihres Folgeromans „Das Ministerium des äußersten Glücks“ im Jahr 2017) von diesem Genre fern und widmete ihre Aufmerksamkeit als Aktivistin allem politisch-sozialen Unrecht in ihrem Land, das sie in Artikeln für Zeitungen und in ihren Prosabänden beschrieb. Sie kritisierte das nukleare Wettrüsten mit Pakistan, protestierte mit den Ureinwohnern in den Stammesgebieten gegen ihre Enteignung durch das Narmada-Staudammprojekt, und wandte sich gegen die langjährige und brutale militärische Besetzung Kaschmirs.

Mit der Wahl ihrer Themen über die soziopolitischen Fehlentwicklungen kollidiert sie ständig mit dem Establishment im eigenen Land. Insbesondere Roys Beschäftigung mit Kaschmir, einschließlich ihrer ausdrücklichen Unterstützung des kaschmirischen Separatismus, führte dazu, dass sie 2010 wegen Aufwiegelung angeklagt wurde.

Unbeeindruckt arbeitet sie weiter, auch wenn sie in einer Atmosphäre „ständiger, unaufhörlicher Bedrohung“ leben muss. Der Titel des vorliegenden Bandes „Azadi“ ist das Urdu-Wort für „Freiheit“. Azadi ist auch der Protestruf kaschmirischer Demonstranten gegen die indische Regierung – ein Ruf nach Freiheit für alle Unterdrückten Indiens. Allein sich für die Sprache Urdu stark zu machen, ist im heutigen Indien ein Sakrileg. Urdu ist die Sprache der Mogule, sie waren über drei Jahrhunderte die Herrscher Indiens. Urdu ist für viele Hindus ein Synonym für moslemische Unterdrückung. Dabei wird vergessen, dass sie die Sprache der Poesie, und der ergreifendsten Liebeslyrik war. Die Sprache auf den Index zu setzen, wie es von den herrschenden Hindu-Fundamentalisten gefordert wird, findet viel Beifall in der Bevölkerung.

Roy interpretiert die wachsende Popularität von Hindutva, die Hinduisierung durch einen hinduistischen Fundamentalismus, als eine Art Faschismus, der an Nazi-Deutschland erinnert. Angetrieben von der RSS (Rashtriya Swayamsevak Sangh, eine nationale Freiwilligenorganisation), „die geheimste und mächtigste Organisation Indiens. Unverblümt lobten sie Hitler und Mussolini und verglichen die Muslime mit den ‚Juden in Deutschland‘.“ In Kaschmir geht es neben dem Grenzkonflikt mit Pakistan auch um die Besetzung eines Landesteiles mit moslemischer Bevölkerung. „Schätzungsweise 70.000 Menschen – Zivilisten, Kämpfer und Sicherheitskräfte – sind im Kaschmirkonflikt getötet worden. Tausende sind ‚verschwunden’, und Zehntausende haben Folterkammern durchlaufen, die wie ein Netz kleinerer Abu Ghraibs über das Tal verteilt sind,“ schreibt Arundhati Roy in ihrem Buch.

„Azadi heißt Freiheit“, besteht aus neun eigenständigen Essays, die Roy zwischen Anfang 2018 und 2020 als Vorträge an Universitäten hielt, oder als Publikationen in britischen und amerikanischen Medien veröffentlichte. Roy beschreibt immer wieder die neue Vorherrschaft des Hindu-Fundamentalismus in Indien und seine Folgen, die der zweite Wahlsieg von Premierminister Narendra Modi weiter festigte. Der spannendste Text ist das Eingangskapitel. Es geht ums Übersetzen aus der sprachlichen Vielstimmigkeit Indiens. Die Autorin fragt sich: Die Mutter Indien, wie sie gerne besungen wird, äußert sich in wie vielen Zungen? „Offiziell etwa 780, von denen nur 22 formell von der indischen Verfassung anerkannt sind, während weitere 38 darauf warten, diesen Status zu erlangen. Jede hat ihre eigene Geschichte der Kolonialisierung oder des Kolonialisiertwerdens.“ Immer noch ist Englisch die Sprache der Gebildeten, hohen Kasten, der Bürokratie. Eigentlich sollte schon 1965 Hindi, das nur in Teilen Nordindiens gesprochen wird, die Sprache der Kolonialherren ablösen. Dagegen gab es Widerstände, und so blieb bis heute Englisch die nationale Sprache der Verständigung. „Während die Abrissbirne der neuen Weltwirtschaftsordnung ihrer Arbeit nachgeht und einige Menschen zum Licht führt und andere ins Dunkel drängt, spielt die ‚Kenntnis‘ und die ‚Nichtkenntnis‘ des Englischen eine große Rolle bei der Verteilung von Licht und Dunkelheit.“ In ihrem Buch geht es Arundhati Roy um mehr als um die Übersetzung der Hauptsprachen Englisch und Hindi. Sie beschreibt am Beispiel ihrer beiden Romane, was es heißt, eine Sprache zu verstehen. Ihre Protagonisten kommen aus allen Ethnien, Schichten und Gender-Empfindungen. Jede Person erzählt ihre Geschichte mit den Worten und in den Ausdrucksformen ihrer Muttersprache und ihren Dialekten in der Übersetzung von Arundhati Roy. „Unabhängig davon, in welcher Sprache ‚Das Ministerium‘ geschrieben wurde, musste diese spezielle Erzählung über diese speziellen Menschen in diesem speziellen Universum in mehreren Sprachen imaginiert werden. Es ist eine Geschichte, die aus einem Ozean von Sprachen auftaucht, in dem ein wimmelndes Ökosystem von Lebewesen umherschwimmt … von denen einige freundlich miteinander umgehen, andere offen feindselig und wieder andere geradheraus fleischfressend sind.“

In der Essaysammlung, in der sich leider die Themen, in einem jeweils anderen Licht zwar, aber doch ständig wiederholen, versucht Arundhati Roy in vielseitigen Analysen ihrer Romanfiguren, das Dilemma Indiens begreifbar zu machen. Aber manchmal kommen einem Bedenken bei der Genauigkeit ihrer Recherche. So schreibt sie über die Hymne der Nation ‚Vande Materam‘ – ‚Ich grüße Dich Mutter Indien’: „Ironischer Weise wurde eine moderne Version des Gedichts durch eine Aufnahme des Sufi-Sängers A.R. Rahman aus den 1990er Jahren enorm populär.“ A.R. Rahman ist jedoch kein Sufi-Sänger, sondern einer der populärsten Filmmusik-Komponisten. Er schrieb die Ode an Mutter Indien, einen kitschigen Schlager, zum 50. Jahrestag der indischen Unabhängigkeit. Die Ironie liegt in der Tatsache, dass Rahman ein vom Hinduismus konvertierter Moslem ist. Ihn schützt seine enorme Popularität. Niemandem würde es einfallen, diese Popikone anzugreifen. Es ist eine marginale Ungenauigkeit, aber wie viele gibt es in diesen Texten? Im Fokus von Roys Texten stehen die unbestreitbaren Folgen politischen Handelns. Sie beinhaltet den politisch gewollten Hass auf alles Muslimische: „Die Schwierigkeit dabei ist, dass viele Hindu-Faschisten das Töten von Muslimen als soziale und spirituelle Aufgabe ansehen“. Die Autorin beklagt immer wieder die Jahrtausende währende Erniedrigung und Ermordung von Menschen der unteren Kasten und der Kastenlosen. Und sie beschreibt das fanatische Befeuern großer und kleiner Kriege, die zur gesellschaftlichen Spaltung beitragen. Die heutige Regierung Indiens möchte ein Indien der Hindus, eine Gesellschaft, die nach den uralten brahmanischen Regeln des Hinduismus funktioniert. Der Leser wird mit einem Übermaß an Gewalt konfrontiert, einschließlich des Dramas während des Corona-lock-downs. „Die krisenerzeugende Maschinerie, die wir unsere Regierung nennen, ist nicht in der Lage, uns aus dieser Krise herauszuführen.“ Internationale Hilfe ist nicht in Sicht, denn die globalen Geschäfte laufen einfach zu gut. Gerade deshalb ist es wichtig, dass eine mutige Autorin wie Arundhati Roy immer wieder Sand in das von der Großindustrie geschmierte politische Getriebe streut. Und sie tut es mit aller poetischer Kraft und Zuneigung für ihr Land.

Letzte Änderung: 10.02.2023  |  Erstellt am: 10.02.2023

Azadi heißt Freiheit

Arundhati Roy Azadi heißt Freiheit

Essays
Aus dem Englischen von Jan Wilm
253 S., geb.
ISBN-13: 9783103971132
S. Fischer Verlag, Frankfurt a.M. 2021

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