Ein Ohr als Protagonist

Ein Ohr als Protagonist

PH Gruners und Nicola Kochs Ohrenmärchen
 | © Illustration von Nicola Koch

Das Nachdenken über Wörter und Redewendungen ist die Grundlage für die Geschichte, die Paul Hermann Gruner erzählt. Man ist ganz Ohr. Und dieses Ohr wird vom Grundschüler Paul auf einer Lichtung gefunden, der versucht, es zu erkunden. Es folgen der Lehrer Walter, Fragen, Aufklärung, Rätsel und Wünsche, die nur in Märchen erfüllt werden. Barbara Zeizinger stellt das Buch vor.

Paul möchte sich mit seinem Ohr unterhalten

Wenn Paul Hermann (PH) Gruner, Darmstadts erster Turmschreiber, Journalist, Satiriker, Liebhaber der genauen Sprache, bildender Künstler Ein Märchen für Erwachsene und solche, die es werden wollen schreibt, können wir sicher sein, dass die Märchengattung unter seiner Feder eine besondere Note bekommt. So erzählt er in Das Ohr eine wahrlich unglaubliche Geschichte, in der zwar keine Prinzessinnen, Hexen, verzauberte Frösche oder Zwerge auftreten, auch keine Mutproben bestanden werden, allerdings ein Rätsel gelöst werden muss.

Nämlich, wie es dazu kommt, dass Paul, ein schlauer Junge im Grundschulalter auf einer Lichtung ein Ohr findet. Keines aus Plastik oder Knete, nein, ein warmes und nach Mensch riechendes Ohr. Und die Frage, die sich Paul dabei stellt, lautet: Was soll er damit machen?

Doch der Reihe nach. Wie gesagt, geht Paul Hermann Gruner der Sprache gerne auf den Grund, liebt Wortspiele und so lässt er, ehe das eigentliche Märchen anfängt, den kleinen Paul auf seinem Heimweg von der Schule erst einmal über Redewendungen seines von ihm sehr geschätzten Lehrers Walter nachdenken. Warum heißt es ein Schnippchen schlagen, warum streichelt oder prügelt man es nicht? Oder wieso fordert der Angeklagte Einspruch Euer Ehren und nicht gleich zwei oder drei … Und warum bezieht sich Neugierde stets auf etwas Neues. Lehrer Walter beispielsweise hat den Kindern erzählt, er selbst sei gierig auf alte Musik.

Während Paul also auf seinem Heimweg über diese intellektuellen Fragen nachdenkt, sich dabei für den Mittelweg entscheidet, gerät er zufällig auf eine Lichtung. Dort bückt er sich, um etwas kleines Helles in der schiefergrau schimmernden Erde genauer anzusehen und findet nicht, wie er erwartet hat, einen Pilz, sondern dieses menschliche Ohr. Was tun? Damit es nicht von einem Dachs oder Marder gefressen wird, entschließt er sich, das arme, hilflose Ohr mit nach Hause zu nehmen, obwohl er sich nicht traut, mit seinem Vater darüber zu sprechen, weil dieser die Polizei alarmieren würde. Auch die Oma mit ihrer skurrilen Geschichte vom Ohrenanbau in allen menschlichen Farben ist nicht vertrauenswürdig. Dabei steht hier das Ohr stellvertretend für die Gewalt, der ein menschliche Körper ausgesetzt sein kann. Ohren können immer mal kaputt gehen. Gequetscht werden. Verbrennen. Weggeschossen werden. Denk an die Kriege, Paul.

Paul möchte sich mit seinem Ohr unterhalten. Aber in welcher Sprache? Portugiesisch oder mecklenburg-vorpommerisch, fragt sich Paul in den Worten seines satirisch denkenden Schöpfers. Aber sowieso kann das Ohr nicht antworten. Es hat keinen Mund. Dennoch macht Paul es sich im Bett mit dem Ohr gemütlich, schläft ein und träumt einen gar nicht angenehmen Traum, in dem das Ohr zwar sprechen kann, aber Gefahr läuft, zu ertrinken.

Ohnehin gelingt es dem Autor, die märchenhafte Geschichte stets in einer leicht bedrohlich wirkenden Schwebe zu halten. Als wär’s eine Szenerie des Filmemachers David Lynch. Geht sie gut aus, die Geschichte, und wenn, was ist dann ‚gut’? Rettung in seinem Dilemma verspricht sich Paul von seinem verehrten Lehrer Walter. Doch die Lösung, die dieser vorschlägt, löst bei Paul eine Welle der Traurigkeit aus. Denn Walter geht mit ihm zu der Stelle, an der er das Ohr gefunden hat, verlangt von Paul, es dort zurückzulegen. Denn Paul habe ja zwei eigene Ohren, das andere gehöre ihm nicht. Aber dieses andere, sehr feine Ohr kann wunderbar alleine leben. Das ist ein Ohr, das Gras wachsen hört. So etwas gibt es nur ganz selten.

Und die Moral von der Geschicht? Genau hinhören? Auf die Sprache und das, was sie vermittelt. Auf die Zwischentöne. Denn ist unsere Kommunikation nicht Voraussetzung für unser Handeln? In Märchen haben die Helden manchmal einen oder mehrere Wünsche frei. So ist es auch in dieser hintersinnigen Geschichte Paul Hermann Gruners. Selbst der kleine Paul scheint verstanden zu haben, worum es seinem Lehrer geht. Denn er fühlte sich ganz leicht plötzlich. Und groß. Wie erwachsen.

Nicola Koch, Designerin aus Darmstadt, hat die Geschichte illustriert und in markanten schwarz-weißen Zeichnungen verbildlicht. Das Lustvoll-Skurrile wie das Geheimnisvoll-Surreale des Märchens hat sie kraftvoll mit ihrer Schabekarton-Technik visualisiert.

 | © Foto: Illustration von Nicola Koch

Letzte Änderung: 07.09.2022  |  Erstellt am: 07.09.2022

Das Ohr | © Illustration von Nicola Koch

PH Gruner, Nicola Koch Das Ohr

Ein Märchen für Erwachsene und solche, die es werden wollen.
Mit Illustrationen von Nicola Koch.
32 S., geb.
ISBN: 978-3-87390-474-3
Justus Liebig Verlag, Darmstadt 2022

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