Dissident und Dichter

Dissident und Dichter

Lutz Rathenows deutsche Welt in Prosa
Lutz Rathenow

Der nun 70jährige Lyriker musste sich in der DDR nicht um Aufmerksamkeit bemühen. Wer wurde schon so umfangreich abgehört wie Lutz Rathenow? Matthias Buth, ein ‚gesamtdeutscher Freund’, erinnert sich beim Lesen des Rathenow-Sammelbandes „Mein Leben in Geschichten“ an das erste Treffen mit dem freimütigen Dichter.

„Ja, ja, ist wie immer.“ Den Satz hatten wir ausgemacht, wenn ich anriefe. Der Code für: Stasi hört mit. Und sie hörte immer mit. Auch als ich ihn endlich besuchen konnte in „Berlin (Ost)“, wie es amtlich bei der Bundesregierung hieß und im SED-Staat natürlich in der „Hauptstadt der DDR“. Bezeichnungen sind eben nie Schall und Rauch, sondern Statusfragen, vollgepackt mit Politik, Abgrenzung oder Beanspruchung. Es war das Jahr 1988, die DDR wackelte, war aber noch nicht erschüttert von Montagsdemonstrationen und anderen Massenbewegungen. Die politischen Nachtgebete und Friedensgottesdienste, die Umweltbibliotheken und der Transfer von westdeutschen Büchern in den ehemaligen Arbeiter- und Bauernstaat waren eher Themen.

Und diese wurden wahrgenommen. Auch im Innerdeutschen Ausschuss des Bonner Bundestages. Ich war Beamter im – für DDR-Ohren unaussprechlichen – Bundesministerium für innerdeutsche Beziehungen, ausgewiesen durch eine militärrechtliche Dissertation zur Pflichtenkollision von Gesetzes- und Befehlsgehorsam, die ihren Schwerpunkt im NVA-Staat hatte. Ich durfte den Parlamentarischen Staatssekretär Dr. Ottfried Hennig, zudem Sprecher der Landsmannschaft Ostpreußen, in die Ausschüsse begleiten, war also einer, den die DDR im Blick hatte. Und so einer besuchte einen Dissidenten, einen Lyriker, politischen Kommentator und Prosaschreiber, der mit mutigen Interviews im Deutschlandfunk (DLF) aufgefallen war. Der Ausschuss nahm diese wahr und verband damit politische Hoffnungen.

So sprach Rathenow am 26. November 1987 im DLF mit Heribert Schwan und berichtete genau über die Repressionen der Staatsorgane in der Berliner Zionskirche, er wurde nicht – wie viele andere – verhaftet, als sich dort Künstler, Autoren und andere, die sich mit den Verhältnissen nicht abfinden wollten, im geschützten Raum der Kirche trafen. „Zwei Stunden, bevor die Festnahme begann in der Umweltbibliothek, wurde mein Telefon abgeschaltet, deswegen kam am Montag mein Interview mit dem Deutschlandfunk nicht zustande. So was sind alles keine Zufälle und diese Mischung aus Verhaftung, Festnahme, Hausarrest, Beschattung, Telefonabschaltung und anderen diffizilen Maßnahmen deutet fast auf einen generalstabsmässig geplanten Angriff gegen emanzipatorische Bestrebungen in diesem Lande hier.“

Das war Klartext. Mutig und zugleich gelassen. Es erstaunt immer noch, wie freimütig er seine Sätze im Radio formulierte, er setzte auf Wahrhaftigkeit und schlug so Schneisen in den Repressionsapparat der SEDisten. Und regelmäßig äußerte er sich so und gab auf diese Weise der westdeutschen Öffentlichkeit Einblicke in den Real-Sozialismus. Nur wenige wollten das zur Kenntnis nehmen, galt doch bei den sogenannten Linken und in weiten Teilen der SPD die DDR als friedliche Alternative zum versifften Adenauer-Staat, inzwischen von Helmut Kohl fortgeführt. Rathenow schaute aber hin, vielleicht auch, weil ein Lyriker bessere Okulare hat und so hindurchschauen kann hinter die Erscheinungen von Staat und Gesellschaft. Und bei dem 1952 in Jena geborenen Autor müssen im Inneren schmerzhafte Berechnungen stattgefunden haben, fühlte er sich nach einigen Selbstbekundungen auch in letzter Zeit eher als ein ganz Linker im Sinne der westdeutschen Friedensbewegung. Denen jedoch waren seine couragierten Interviews eher suspekt, störten sie das idealisierende DDR-Bild und galten Begriffe wie „innerdeutsch“, „gesamtdeutsch“, überhaupt „Deutschland“ für anachronistische Relikte einer überwundenen Selbstwahrnehmung: Deutschland, ein Wort aus dem Ausland. Nichts für Deutsche.

Für die Deutschland-Politiker (solch einen Begriff gab es tatsächlich mal) war Lutz Rathenow eine politische Quelle ersten Ranges. Und er ließ sich auf den Gedankenaustausch mit mir ein, ließ sich anrufen, und so trafen wir uns in seiner Wohnung am Straußberger Platz. Der Brikett-Mief empfing mich im Treppenhaus, ein wenig modrig, ein wenig Zille, ein wenig ängstlich stieg ich hoch. Aber ich hatte meine spezielle Panzerung in der Brieftasche: den roten Ministerial-Pass. Mit dem würde ich wieder herausfinden durch die Menschen- und Schalterschleusen in der Friedrichsstraße.
Lutz Rathenow war damals schon von einer zündenden Herzlichkeit, getragen von einem Selbstbewusstsein, dem völlig das Eifernde fehlte oder die Attitüde des Ober-Bescheid-Wissers. Das imponierte mir. Seine Wohnung war erfüllt von der Behaglichkeit vieler Bücher und vom Kuchen, den seine Frau Bettina, sein stärkstes Bataillon im Alltag, servierte. Was er in mir sah, wusste ich nicht so recht, den Lyriker-Kollegen, einen politischen Finsterling aus dem unaussprechlichen Bonner Ministerium oder den Mitstreiter für demokratische und dann rechtsstaatliche Verhältnisse.
Seit 1988 verbindet uns eine gesamtdeutsche Freundschaft, publizierten wir zeitweise im selben Verlag und wissen voneinander, auch wenn wir uns nicht sehen.

Siebzig zu werden ist schon eine Sache, ein Aussichtsturm mit viel Zurück und nicht mehr allzu viel Nach-Vorn. Einen Roman wollte Rathenow nie schreiben, vermag er vielleicht auch nicht, liegt ihm doch mehr der literarische Pointilismus, die kleine Form in Gedichten und Prosa, wobei ihm beide Formen oft zusammenpurzeln. Denn er will so schreiben, wie er will, seine Ironie und seinen meist milden Sarkasmus so ausleben, wie die Sätzen fallen. Und er liebt Kinder und schrieb zärtliche Kinderbücher, die wie alle Texte eine eigene, unwirkliche, eben literarische Welt inszenieren.
Im neuen Buch stellt er nun Texte zusammen, die ihn als Autor und so sein Leben nachzeichnen sollen. Der Verlag schreibt mit roter Schrift auf schwarzem Grund: „Der literarische Lebenslauf des bedeutenden DDR-Oppositionellen.“ Na ja, das ist gut gemeint, reduziert Rathenow aber als literarischen Autor, der sich zudem immer zuerst als Lyriker versteht. Das erkennt auch der kundige Nachwortschreiber, Essayist und Reiseschriftsteller („Die Unschuldigen von Ipanema“; Berlin 2020) Marko Martin: „Für die Position eines ‚gesamtdeutschen Aufklärers’ taugt der Autor dennoch nicht, zu groß bleibt die vertrackte Freude am Aufspüren des Grotesken, Verkanteten, Inkommensurablen.“ Und so ist es, mögen auch viele Texte im Rathenow-Lesebuch mit vielfach publizierten und einigen da und dort neu formulierten Beispielen an den DDR-Verhältnisse geschliffen sein, wollen sie doch eigenständig, eben als Texte eigenen Rang beanspruchen, literarischen. Der Titel „Mein Leben in Geschichten“ verheißt eine Autobiographie, und wer dächte nicht an solch imponierenden Selbstzeugnisse wie das Buch „Mein Leben“ (München 1999), das Marcel Reich-Ranicki vorlegte. Das ist hier nicht der Fall.

„Er arbeitete für dreizehn Geheimdienste gleichzeitig. Dreizehn hielt er für eine Glückszahl. Mitunter verwechselte er die auftragerteilenden Länder. Jene Berichte befremdeten natürlich die Geldgeber.“ So beginnt das kleine Prosastück „Der Diener“, 1992 bereits veröffentlicht, eine Groteske, das kann er gut, im Grotesken hat er seine Stärken.
Rathenow schrieb immer viel und hatte in der alten Bundesrepublik bei Ullstein „Mit dem Schlimmsten wurde schon gerechnet“, Berlin 1980 und Piper („Zangengeburt“, München 1982, und „Boden 411“, München 1984) also bei großen Verlagen, landen können. Zudem war er ständiger Mitarbeiter der konservativen katholischen (u.a. von der Deutschen Bischofskonferenz getragenen) Wochenzeitung „Rheinischer Merkur“ (1946 bis 2010). Diese sogenannten Westveröffentlichungen wurden vom Zentralkomitee der SED und den Staatsorganen kritisch beäugt, gaben aber zugleich Schutz, denn Öffentlichkeit gibt Reputation. Diese panzerte sein systemkritisches Agieren.

Einige Zeit war Rathenow im Jahre 1986 auch als Kolumnist für das Monatsmagazin „Wiener. Deutschlands Zeitschrift für Zeitgeist“ tätig. Der hier wiedergegeben Text „Jedem sein eigenes Deutschland“ macht nachdenklich und öffnet einen Blick in die Seelenlage vieler sogenannter Dissidenten, die weit weg waren vor jenen Ereignissen, die dann zum 3. Oktober 1990 führten. „Die beiden deutschen Staaten stehen sich wie zwei Brüder gegenüber, die einander fest umklammern. Der Beobachter weiß nie so recht, ob sie sich gerade innig umarmen oder verbissen miteinander ringen. Ja, sie sind einander ähnlicher, als sie es wahrhaben wollen. Nun sehe ich den sowjetischen Dichter Jewtuschenko im ZDF verkünden, dass er den Wunsch der Deutschen nach einem deutschen Staat für normal halte. Und ich höre am Telefon von einem Vorschlag Gorbatschows in diese Richtung. Falls das stimmt, kann ich mein Misstrauen nicht niederjubeln. Was ist die Rolle Deutschlands im politischen Pokerspiel?“ Das sind Sätze, die in die Gegenwart hineinreichen. Nur wenige Dissidenten gaben sich dem Nachdenken über Deutschland hin, und wenn, dann nur bezogen auf die West-Republik. Potsdam 1945 und was aus den Alliierten-Plänen zu folgern war, blieb ausgespart. Nur Reiner Kunze, der Doyen der deutschen Lyrik, sah den Wunsch nach Einheit als verbunden mit den Grundfreiheiten, die im Bonner Grundgesetz statuiert sind.
Und so endet Rathenow hasenfüßig in dem hier wiederabgedruckten Text: “Die deutsche Frage ist also eine nützliche Frage. Über sie nachzudenken, halte ich für wichtig. Über sie zu reden, ist manchmal gut. Nur sie lösen zu wollen, bleibt töricht.“ Tja. 1986!

Die hier versammelte Text haben Marko Martin und Lutz Rathenow ausgewählt und dabei einen Essay übersehen, der zeigt, wie schön die deutsche Sprache sein kann, wie sehr sich Rathenow in den Gedichten und in der Aura jenes Dichters spiegelt, der immer Dichter ist: „Dieser wunderbare Ernst eines Menschen und in seinen Versen geläutert durch die große Gelassenheit, Dichter und Gedichte hatten so gar nichts Verdrucktes, gebeugtes – aber ihnen fehlte auch jede Lärmbereitschaft, die Worte sollten einfach für sich sprechen. Erhellende Metaphern, die den Verstand anregen. Das Gefühl zu fliegen, ohne von der Erde abgehoben zu sein… Die wunderbaren Jahre sagen einiges aus über eine DDR, in der Machtgefüge porös geworden und dennoch weiter bedrohlich gefährlich war…Der Reiz seiner Prosa – auch der späteren: ähnlich und doch anders als in seinen Gedichten: Intensität, das Erhoffte im Unerwarteten. Ein Gedicht habe ich ihm gewidmet – vor gar nicht so langer Zeit:

Der wirkliche Dichter für Reiner Kunze

Der wirkliche Dichter
Schreibt nicht.
Nein, er schreibt nicht.
Er fühlt ein Bild
Und weint vor Glück.
Er würde vertreiben sein Gedicht,
wenn er mit dem Text begänne.

Das sind Passagen aus dem Text „Begegnungsblitze“ im Buch jenes Verlages, in dem Rathenow so viele Bücher herausgebracht hat, dem ambitionierten Verlag Ralf Liebe. Es heißt „Dichter dulden keine Diktatoren neben sich“, herausgegeben von Matthias Buth und Günter Kunert, Weilerswist 2013, mit 40 Stimmen anlässlich des 80.Geburtstages von Reiner Kunze. Rathenow musss also sein Kunze-Portrait bewusst nicht in sein „Leben in Geschichten“ aufgenommen haben. Das ist sehr erstaunlich.

Kunzes Prosaband Die wunderbaren Jahre mit Alltagsminiaturen im realen Sozialismus der DDR hätte Kunze 1976 beinahe das Leben gekostet. Er hatte mit diesem Buch den entscheidenden Wurf gewagt. Wer über die deutsche Einheit schreibt, darüber, wem sie zu verdanken ist gegen alle politische Vernunft, kommt an Prosa nicht vorbei, die nur ein Lyriker schreiben kann.
Das Buch von Rathenow ist eine bedeutende Quelle zur deutschen Literatur und Geschichte, es zeichnet in Prosa ein facettenreiches Autorenbild – in allen Texten, auch in jenen, die er hier nicht (wieder) beginnen lässt.

Letzte Änderung: 28.11.2022  |  Erstellt am: 28.11.2022

Trotzig Lächeln und das Weltall streicheln

Lutz Rathenow Trotzig Lächeln und das Weltall streicheln

Mein Leben in Geschichten
Hrsg. von Marko Martin
271 S., geb.
ISBN-13: 9783985680504
Kanon Verlag, Berlin 2022

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