Als ich Kind war

Als ich Kind war

Charlotte Berend-Corinth setzt uns die Brille auf
Charlotte Berend-Corinth, 1908

Insgesamt waren es stets die Frauen, die in gleichberuflichen Beziehungen namenlos blieben. Nach dem Tod ihres Vaters musste Charlotte Berend ihr Kunststudium beenden. Aber sie besuchte die „Malschule für Weiber“, die Lovis Corinth gegründet hatte. Danach hatte sie als versierte Künstlerin und Autorin, aber eben auch als Ehefrau des Vielmalers Corinth nur begrenzte Möglichkeiten. Matthias Buth hat ihre Erinnerungen gelesen.

Kindheit hört nie auf. Sie lauscht uns ab, unsere Erinnerungen, die danach suchen, warum wir so sind, wie wir es oft nicht verstehen oder wahrhaben wollen.

Peter Handke schrieb 1986 für den Wim Wenders-Film „Der Himmel über Berlin“ ein langes Gedicht vom Kindsein, eine Elegie vom Kindsein und reihte Sequenzen und Anrufungen aneinander wie Rilke in dessen Duineser Elegien. „Als das Kind Kind war, / wusste es nicht, dass es Kind war / alles war ihm beseelt / und alle Seelen waren eins“. Das ist die Grunderkenntnis, die deutlich macht, dass das Kindsein eine eigene und umfriedete Welt ist, welche die Erscheinungen des Kinderkosmos’ belebt. Das „Lied vom Kindsein“ beginnt zunächst konkret mit dem Wollen, dem Sich-vorstellen, mit dem Verwandeln der Welt: „Als das Kind Kind war“. Das können eben Kinder besonders, sie sind die wahren Poeten, wo das Kind will, dass der „Bach ein Fluss“, „ein Fluss ein Strom“ und „eine Pfütze das Meer“ werden. So dichtet sich der Dichter zurück in seine Kindheit und nimmt den Leser, die Leserin zärtlich an die Hand – zur eigenen Kindheit.

Das gelingt auch Charlotte Berend-Corinth mit einer Folge von Kinderepisoden, Vignetten und Reflexionen, die wie soeben geschrieben wirken und doch schon 1950 in Hamburg erschienen sind. Manche Frauenleben werden oft mit dem Vorspruch „Frau von…“ erfasst, wenn sie denn mit bedeutenden Männern zusammen oder gar verheiratet waren. Clara Schumann ging/geht es so, auch Cosima Wagner, Alma Mahler/Werfel, weniger Inge Jens und Friedericke Mayröcker, die sich mit ihren Werken behaupten konnten. Und so ist Charlotte Berend-Corinth mehr als die Frau, Muse, Modell, Gefährtin und Nachlassverwalterin des imperialen Großmalers Lovis Corinth (geboren 1858 im ostpreußischen Tapiau und gestorben 1925 im niederländischen Zandvoort). Sie gehört zu wichtigen Künstlerinnen Deutschlands mit einem Leben, das so sehr ein deutsches war, dass sie sich vor den Deutschen 1939 in den USA in Sicherheit bringen musste, sie, die Malerin und Autorin, geboren in einer großbürgerlichen jüdischen Patrizierfamilie.
„Die Fähigkeit einen Mann zu lieben wird vorbereitet in der Liebe zum Vater“. Eine Schlüsselzeile in diesem Buch, das viele Türen öffnet ins strenge, aber wohlbehütete und patriarchalisch gesteuerte Kinderdasein im späten 19. Jahrhundert von Berlin und so in eine noch nicht von der brauen Pest kontaminierten Welt. 1880 kam Charlotte zur Welt. In der aus Hamburg stammenden Bankiers- und Kaufmannsfamilie waren Geist, Bildung, Mehrsprachigkeit und eine gefasste Noblesse Lebensstil. In diese Welt mit den behände geschriebenen Texten hineinzublicken und so die Lebenswelt der arrivierten Familien wenige Jahre nach der Gründung des Deutschen Reiches 1871 hineinzuleuchten, ist von Gewinn für jeden, der wissen will, welche Mentalitäten unser Bewusstsein als Bürger des heutigen Deutschlands tragen bzw. welche erloschen sind.

Bei Charlotte Berend überragt der Vater als Herrscher und Beschützer der Familie und doch wird diese Rolle durch das Weibliche, durch die Schönheit der Mutter, überglänzt. Das Porträt der Mutter zu Beginn der Textsequenzen ist sogleich auch ein Selbstbildnis der Tochter. Es endet mit den Sätzen: „Eines Tages – warum? – setzt unser Bewusstsein ein. Welch unerklärliches, unheimliches Vollziehen. Plötzlich wissen wir von uns. Das Bewusstsein, diese göttliche Gabe, erwacht.“

Dass ein Kind das Schöne erkennt in den Blumen und den Menschen des Alltages, erstaunt heute mehr als damals und ist vielleicht auch gebunden an den Lebensstil einer begüterten Familie. „Mein Vater war für mich das Schönste, was es auf der Welt gab. Er war so makellos sauber,“ schreibt die Autorin 1950 mit immerhin 70 Jahren. Sauberkeit oder Reinlichkeit sind Kriterien, die das deutsche Bürgertum prägten und wohl noch heute. Die Skizze über die Großeltern entschlüsselt noch einen anderen Begriff zum Zugang zu Charlotte Berend: Das Urvertrauen. Wenn der Opa in den Diamanten der alten Uhr „richtige Augen“ blinzeln sieht, dann glaubt dies das Kind. „Das war eine der tiefsten Ursachen meiner Liebe zu Lovis Corinth. Ihm konnte ich glauben. Restlos glauben,“ ergänzt die Autorin. Die Kindheit setzt dem Bewusstsein die Brille auf.

Die Texte von Charlotte Berend haben zuweilen etwas Schmissig-beschwingtes, sind kleine Feuilletons aus einer Zeit, die so weit gar nicht zurückliegt und uns doch vorkommt wie aus einem Zauberreich. Anita Daniels Feuilletons („Mondän ist nicht modern“, Edition Memoria, Hürth, 2020) liegen da nicht fern und umspielen ähnlichen Zeiten zwischen Deutschland und Amerika. Das umfangreiche anschmiegsame Nachwort der Hamburger Journalistin Katja Behling, die diese Trouvaille herausgegeben und um die Geschichten „Mechtilde! Mechtilde!“ und „Ein Tag in New York“ ergänzt hat, führt in die Berend-Corinth-Welt mit federnder Brillanz ein als wäre sie Charlottes jüngere Schwester oder besser: Tochter. Es erinnert auch an Alice Berend (1875-1938), die ältere Schwester, deren Romane wie „Die Bräutigame der Babette Bomberling“, „Spreemann & Co“ oder „Dore Brand: ein Berliner Theateroman“ bei S. Fischer herauskamen und diesen „weiblichen Fontane“ hunderttausende an Lesern brachten. Bis 1933. Dann war auch das vorbei. Und insofern viel wiederzufinden für uns heute.

Lovis Corinth ließ das Malen seiner Meisterschülerin (ab 1901) durchaus zu, wichtiger war ihm jedoch ihre Person als Modell. Über 90 Mal nahm er sie ins Bild. Der Ehemann unterstütze ihr künstlerisches Schaffen aber eben nicht nachhaltig und erteilte ihr sogar ein Malverbot für die Landschaften am Walchensee, wohin das Paar 1919 nach Lovis Schlaganfall (1911) umsiedelte.
„Papa saß am Tisch und legte Patience. Ich saß ihm gegenüber. ‚Willst du mir etwas sagen, Kind? Die anderen sind schlafen gegangen, und du?’ Ich stellte mich dicht neben ihn. ‚Papa, ich möchte nach dem Schulabgang studieren.’ ‚Drücke dich nicht so überaus wichtig aus. Was meinst du damit. Ein Blaustrumpf werden? Nicht heiraten?’ Seine Stimme war drohend: Ich blieb tapfer. ‚Man ist kein Blaustrumpf, weil man nicht einfach dasitzen will, bis ein Freiersmann daherkommt. Ich will nicht Klavier klimpern, Deckchen sticken, Französisch parlieren. ‚Dann willst eine Emanzipierte werden?’ ‚Ich will Malerin werden, Papa.’ ‚Eine Künstlerin? So eine von diesen verwahrlosten?’“

Dieser genau geränderte Vater-Tochter-Dialog steht die Zeit um 1900 und für viele Jahrzehnte später, in manchem wohl bis zu Gegenwart. Und er spricht das kindliche Beharren aus, singt auch das „Lied vom Kindsein“ Peter Handkes. Die Kindheit zaubert immer, auch in den Erinnerungen. Und der Blick des Kindes ist stärker als das der Eltern. Das bildnerische Oeuvre von Charlotte Berend-Corinth wird wieder stärker beachtet, so durch das Saarland-Museum Saarbrücken 2021/22 und eben auch durch dieses anmutige Buch, das uns die Brille aufsetzt in eine ferne Zeit und in eine Kindheit, die Saiten unserer eigenen anschlagen kann. 1967 ist sie in New York 87-jährig verstorben, aber sie lebt weiter in den Farben ihrer Bilder und Texten.

Letzte Änderung: 02.02.2022  |  Erstellt am: 02.02.2022

Als ich Kind war

Charlotte Berend-Corinth Als ich Kind war

Autobiographische Texte
Herausgegeben und kommentiert von Katja Behling
169 S., kart./brosch.
ISBN-13: 9783930353422
Edition Memoria, Hürth 2021

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