Gradiva, Sharbat & Co.

Gradiva, Sharbat & Co.

Ästhetik und Geschlecht in Bildergeschichten

Es ist eben nicht so, dass alles, was vor unserer Geburt geschah, ohne Bedeutung für unser Leben ist. Wie aber erklärt sich unsere Faszination, der wir immer noch angesichts einiger antiker Bildnisse oder Skulpturen erliegen? Die Professorin für Kulturwissenschaft, Ästhetik und Religionsforschung an der Internationalen Psychoanalytischen Universität Berlin, Susanne Lanwerd, beschreibt die Körperlichkeit der Menschen auf dem Schauplatz der Ästhetik und Geschlechterforschung.

Die Geschlechterforschung hinterfragt oftmals kritisch, ob ihre Untersuchungen nicht zu sehr den Körper vernachlässigen und ebenso, ob diese Nichtbeachtung dazu geführt habe, dass die Evolutionspsychologie mit ihren biologischen Determinismen (erneut) auf dem Vormarsch sei?
In meinem Beitrag thematisiere ich Ästhetik und Geschlechterforschung als einen idealen Schauplatz, um die Körperlichkeit der Menschen in den Blick zu nehmen. Aisthesis – im ursprünglichen Wortsinn die Lehre von den Sinnen und der Wahrnehmung – besitzt eine Fülle körperlicher Dimensionen, denn ohne Wahrnehmungen und ohne Sinne sind Körper weder denk- noch vorstellbar.

Die Bilder, die ich präsentiere, rekurrieren auf alttestamentliche, griechisch-antike und muslimische Kontexte. Sie bezeugen komplexe Verflechtungsgeschichten von Kultur und Religion und erfreuen sich zugleich einer anhaltenden Faszination.
Ein früher Vertreter solch dichter Bildgeschichten war der Hamburger Kunst- und Kulturwissenschaftler Aby Warburg, der heute als einer der Pioniere der modernen Bildwissenschaften gilt. Aus seiner Methodenvielfalt ist für meinen Beitrag der sogenannte Mnemosyne Atlas wichtig, der unterschiedliche Bild- und Textmaterialien aus verschiedenen Zeiten und Weltengegenden versammelt. Dank dieses visuellen Hilfsmittels versuchte Warburg Ähnlichkeiten zwischen Materialien aufzuspüren, für die es keine eindeutigen intervisuellen oder intertextuellen Bezüge im Sinne eines thematischen Einflusses gibt. ‚Synthetische Intuition‘, wie später von Erwin Panofsky vorgeschlagen oder cross mapping in der Lesart von Elisabeth Bronfen, sind vergleichbare Methoden.1 Für die folgenden Bildanalysen komplementiere ich diese wissensgeschichtlich ausgewiesenen Methoden – Mnemosyne Atlas, synthetische Intuition, cross mapping – um ein Ästhetikverständnis, das psychoanalytische und ethische Einsichten miteinander verknüpft. Als vorläufigen Arbeitsbegriff für diese Position wähle ich aesthetics of serendipity und verstehe darunter die zufällige Beobachtung von etwas ursprünglich nicht Gesuchtem, das sich als neue und überraschende Entdeckung erweist: vergleichbar dem peripheren Sehen – aus dem Augenwinkel heraus.2

Im Laboratorium kulturhistorischer Bildanalyse

Die erste Bildgeschichte meines kulturhistorischen Laboratoriums bestätigt die Tatsache, dass antike, hier alttestamentliche Bildhaushalte ihre Wirkungskraft nicht mit dem Ende der Antike verloren haben, sondern bis heute schillern und faszinieren. Nicht von ungefähr trägt eine Berliner Sängerin und Songwriterin den Namen Judith Holofernes; als sie einmal gefragt wurde, warum sie diesen, immerhin aus zwei alttestamentlichen Figuren zusammengesetzten Namen gewählt habe, sagte sie, sie sei halt ein kritischer Mensch und Judith sei es doch wohl auch gewesen, soweit sie wisse … Eine ihrer neueren Klangarbeiten heisst „Ein leichtes Schwert“. Namenswahl und Auskunft zeigen, wie nachhaltig, nicht notwendig bewusst, die Wirkmächtigkeit der religiösen Vorstellungen, die Kenntnis des biblischen Personals und ihrer Handlungen ist. Grund genug, sich dieses Personal einmal aus der Nähe anzuschauen:
Das Bild Judith enthauptet Holofernes zeigt eine Reproduktion der Judith, wie sie von der Künstlerin Artemisia Gentileschi in den Jahren 1612/13 geschaffen wurde.3 Zu sehen ist der in den Apokryphen berichtete Mord an Holofernes als harte Arbeit, die von zwei Frauen durchgeführt wird. Viele Künstler hatten sich bereits dem Thema gewidmet, so beispielsweise Donatello (1455-60), Botticelli (1470), Grien (1525), Cranach der Ältere (1530), Tintoretto (1555), später dann Friedrich Hebbel (1840), Gustav Klimt (1901). Die künstlerische Interpretation, die Gentileschi vornahm, war damals neu; einzig ihr Kollege Caravaggio hatte die Figuren Judith und Holofernes, nicht aber die Magd Abra, vergleichbar dargestellt.

Die den Darstellungen zugrundeliegende, alttestamentliche Geschichte ist schnell erzählt: Judith, eine fromme jüdische Witwe, entschliesst sich, in grösster Not, das heisst der Bedrohung der Stadt Bethulia durch Holofernes, den Feldherrn Nebukadnezars, diesen aufzusuchen und zu ermorden; nachdem sie drei Tage in seinem Lager gebetet hat, bittet er sie zu sich, betrinkt sich dermassen, dass er umfällt, und wird dann von ihr getötet. Die Gefahr ist vorüber, die nun führerlos gewordenen Angreifer ziehen ab.

In den achtzehn Jahrhunderten, die zwischen der Entstehung dieser Geschichte (im zweiten vorchristlichen Jahrhundert) und der Bilder Gentileschis lagen, erfolgten Umdeutungen und Bedeutungsverschiebungen der Geschichte, von denen die folgenden kurz erwähnt seien: Für den Entstehungskontext der Geschichte ergab die Forschung, dass das Judith und Holofernes Thema als eine nachträgliche, kontrafaktische Utopie fungierte: die Utopie leistete ein Umschreiben der realen Siegergeschichte Nebukadnezars und seines Gefolges, der die Juden im sechsten vorchristlichen Jahrhundert ins babylonische Exil geführt hatte, in eine Erfolgsgeschichte der damals besiegten, jüdischen Bevölkerung Jerusalems. Die christlich katholischen Theologen deuteten den Sieg Judiths als in ihrer Keuschheit begründet und sahen in ihr eine Präfiguration Marias. Im Zeitalter der Konfessionalisierung oder Gegenreformation avancierte die Judithgestalt zur Verkörperung der Ecclesia militans. Luther übersetzte die Judithgeschichte und gab sie den Apokryphen bei. Das Buch Judith galt ihm als eine allegorische Erzählung, deren religiös-didaktischen Wert er betonte.

Auch die jüngere Kunstgeschichte widmet sich dem Thema. Vor dem Hintergrund dichotomischer Weiblichkeitskonzeptionen in Mittelalter und früher Neuzeit (zum Beispiel Eva und Maria, Ecclesia und Synagoga), deutet sie Judith als eine Figur, die mit sich gegenseitig ausschliessenden Bedeutungen ausgestattet wurde (rein versus unrein, keusch versus sexualisiert). Gerade in dieser ambivalenten Besetzung liege das mit ihr assoziierte subversive Potential begründet. Die Widersprüche, die der Geschichte immanent sind, würden nicht zugunsten eines Denkens in Gut und Böse, Geist und Körper verbannt, „sondern in ihrer unauflöslichen Komplexität ins Bild gebracht“.4

Für feministische Künstlerinnen erwies sich wiederum die Geschichte der Artemisia Gentileschi als wichtige Quelle auch für die Interpretation ihrer Bilder: vorangegangen war die Entdeckung von Akten, die eine Vergewaltigung der Artemisia durch einen Künstlerkollegen des Vaters, Agostino Tassi, bezeugte. Das Bild „Judith enthauptet Holofernes“ wurde im Sinne einer Aufkündigung des Geschlechterverhältnisses und Judith als eine „Einzelgängerin, die an der Grenze wandert“5, gedeutet. Damit stehen nicht allein Weiblichkeitskonzeptionen zur Diskussion, zu fragen ist ebenso nach der Darstellung der Geschlechter in diesem Bild. Was also geschieht mit der Holofernes-Figur? Welche Funktion kommt der Rollenverteilung zwischen den Geschlechtern in diesem Konflikt zu? Zunächst fällt die Rollenverfehlung des Holofernes auf: er mutiert in nahezu allen Darstellungen zum passiven Opfer. Die Verschiebung der Vorstellung von einem gewalttätigen Herrscher zu einem hilflos ausgelieferten Mann bleibt erstaunlich konstant und einheitlich. Das Schicksal des hochmütigen, nicht-christlichen Holofernes gibt durch die Jahrhunderte hindurch die Möglichkeit, „über die Tyrannei der Gefühle und deren Beherrschung” zu reflektieren.6

Im Jahr 2015 erscheint das Album „Ein leichtes Schwert“ von Judith Holofernes. Das Video zum Album zeigt die Sängerin in einem Outfit, das an römische, assyrische, babylonische Feldherrendarstellungen mit Pferd denken lässt. Der Titelsong artikuliert den Wunsch nach einer tanzenden Waffe: hier ist es das Schwert (und nicht die Frau), das zwischen ambivalenten Qualitäten changiert: es kann tanzen und zersägen, es ist schrecklich und wunderbar zugleich.

Das zweite Sujet meines bildanalytischen Laboratoriums ist mit einem weiblichen Körperbild verknüpft, das sowohl für die beginnende Psychoanalyse als auch für eine bis heute andauernde Rezeption bedeutsam ist – es geht um die antike Figur Aglauros oder Hore, die später unter dem Namen Gradiva prominent figurierte. In meiner Annäherung geht es nicht um neue Entdeckungen, sondern um ein Sichtbarmachen spezifischer Momente der Figur, die bislang unbeachtet blieben.
Die einzelnen Bestandteile der Gradiva-Faszination umfassen, man erinnert sich, ein Marmor-Relief aus der ersten Hälfte des zweiten nachchristlichen Jahrhunderts, das in den Vatikanischen Museen hängt und als römische Kopie eines griechischen Originals gilt; eine Novelle von Wilhelm Jensen aus dem Jahr 1903 und eine Studie von Sigmund Freud aus dem Jahr 1907, die sich auf Jensens Novelle bezieht, schliesslich eine dichte Rezeption zu Gradiva, die über Max Ernst, André Breton, Roland Barthes, Jacques Derrida und anderen bis heute reicht. Ich beginne das Sichtbarmachen der Gradiva mit einem Exkurs in die Religionsgeschichte.
Auch wer wenig mit antiker: römischer wie griechischer Religionsgeschichte vertraut ist, kennt ihr vielleicht auffälligstes Kennzeichen: die oftmals nur fragmentarisch mögliche Präsentation ihrer Materialien.

Vielleicht kann als bekannt vorausgesetzt werden, dass es in der griechischen Religionsgeschichte eine Vielzahl von Göttinnen und Götter, von Heroinen und Heroen und nicht zuletzt die Göttervereine gab. Unter Götterverein versteht man in der Forschung Gruppen von Göttern, die im Kollektiv auftreten, häufig in Tänzen oder in Bewegung begriffen und streng nach Geschlechtern getrennt sind. Von den Göttinnenvereinen sind die horai und die Aglauriden von besonderem Interesse, denn beide Gruppen werden genannt, wenn es um die oftmals nur im Singular anzutreffende Gradiva geht. Das Relief, auf das sich Wilhelm Jensen 1903, Sigmund Freud 1907 und in den Jahrzehnten danach noch viele andere Literaten, Künstler, Wissenschaftlerinnen beziehen, ist Teil der Komposition einer weiblichen Figurengruppe, von der man annimmt, dass sie die Horen oder die Aglauriden darstellen.7 Bei den Horen handelt es sich um Personifizierungen der „Jahreszeiten, um einen Mädchenverein; Hesiod gab ihnen die bedeutungsvollen Namen ‚Gutes Gesetz‘, ‚Recht‘ und ‚Frieden‘, als Bringerinnen guter Zeiten“; das Motiv der tanzenden Horen ist alt.8

Auch die Aglauriden bilden eine Dreiergruppe: in den mythologischen Erzählungen sind es die Schwestern Aglauros, Herse und Pandrosos, Töchter des Kekrops und seiner Gemahlin, die ebenfalls den Namen Aglauros trug. Ihre gleichnamige Tochter gilt als die erste Athenapriesterin. Am Nordabhang der Akropolis gab es eine Kultstätte der Aglaurus, wo regelmässig Feste mit Musik und Tanz stattfanden.9

Mit diesen spärlichen Angaben sind der historischen Tiefenbohrung Grenzen gesetzt: abgesehen von mythologischen Genealogien des Hesiod im 6. vorchristlichen Jahrhundert, des Ovid (43 v. bis 17 n. Chr.) oder Pausanias (2. nachchristliches Jahrhundert) sowie vereinzelten archäologischen Funden zum Aglauros-Heiligtum, ist kaum etwas über das Fragment bekannt. Diese Grenze des Wissens eröffnet Deutungshorizonte und Projektionsräume.

So verdankt Aglauros oder eine der Horen ihren neuen Namen Gradiva dem Protagonisten der 1903 erschienenen Novelle von Wilhelm Jensen, dem fiktiven Archäologen Norbert Hanold.10 Dieser besucht eine Antikensammlung in Rom, sieht das Reliefbild und ist von der Stellung der Füsse, insbesondere der Ferse fasziniert: ein Fuss ruht auf dem Boden, der andere ist abgehoben und berührt den Boden nur mit den Zehenspitzen. Mit Jacques Derrida ist Hanold ein „Meister in der Entzifferung schwer enträtselbarer graffiti“11, so gibt er denn auch der antiken Figur den Namen Gradiva: die Ausschreitende oder glanzvoll Schreitende. Auf der humanistisch inspirierten Suche nach dem griechischen Original der römischen Kopie fährt Hanold nach Pompeji.

In der Novelle folgen Träume und seltsame Begebenheiten, z.B. in der Stadt Pompeji, in der Hanold auf eine Frau trifft, die er, mittlerweile in einem Wahn verstrickt, für die leibhaftig gewordene Gradiva hält. Die reale Person, Zoe Bertgang, ist eine Jugendliebe von Hanold, die er aber zunächst nicht als solche erkennt. Sie spielt eine Zeitlang seinen Wahn mit, stört den Träumer nicht, bis Zoe zeigt, wer sie ist und Hanold von seinem Wahn kuriert.12 Oder, in den Worten Roland Barthes‘, sie „begnügt sich damit, die Rolle der Gradiva zu spielen, die Illusion nicht plötzlich aufzuheben, den Träumer nicht brüsk aufzustören, (und) unmerklich Mythos und Realität einander anzunähern“.13

Die Novelle schildert den Ausweg aus Fixierungen, aus Faszinationsbeziehungen und: dieser Ausweg geschieht durch die Liebe. Es verwundert kaum, dass Freud mit einer eigenen Studie^14^ darauf reagierte, ist doch die Liebe seiner Meinung nach die schönste, wenn auch verletzbarste, aller Illusionen; sie steht neben den Illusionen der Religion und Kunst, denn – so Freud – das Leben sei ohne Hilfskonstruktionen nicht zu haben. Im Jahr 1907 sah Freud das fragmentierte Relief der Gradiva in Rom: _hoch oben an der Wand_^15^ und erwarb eine Reproduktion, die fortan inmitten anderer Dinge über seiner Patienten-Couch hing.

Prozesse in einer psychoanalytischen Kur werden als Beziehung zwischen Therapeutin und Patient, als Teil einer Beziehungsinszenierung verstanden. Die frühe Skizze eines solchen Prozesses könnte mit Wilhelm Jensens „Gradiva. Ein pompejanisches Phantasiestück“ gegeben sein. Das würde einmal mehr die Freudsche Reaktion erklären, dem Thema eine eigene Studie zu widmen und, auch dem Umstand Rechnung tragen, dass viele Psychoanalytikerinnen und Psychoanalytiker einen Gradiva-Abdruck in ihren Praxisräumen zeigen.16 In diesen Kontexten fungiert Gradiva zugleich als Repräsentationsfigur, in zweifachem Sinn: bei Jensen, im griechischen Vornamen Zoe angedeutet, könnte sie das Leben oder, in Freuds Studie, die Psychoanalyse selbst repräsentieren: mit ihr und der Erinnerung an die Kindheit erfährt der Wahn des Protagonisten eine Heilung.

Auch in Jacques Derridas „Mal d’archive“ aus dem Jahr 1995 klingt eine repräsentatorische Lesart der Gradiva an. Dort wird sie mit einem unverletzlichen Geheimnis verknüpft, von dem es keine Aufzeichnungen oder archivalische Setzungen geben kann. Und doch präge sie, in ihrer eigentümlichen Struktur … „die Bildung eines jeden Begriffs, die tatsächliche Geschichte der Begriffsbildung“17. Dergestalt an den Beginn jeder Begriffsbildung versetzt, scheint zugleich ein weiteres Moment der Rezeptionsgeschichte auf: die Funktion der Gradiva als Muse. Besonders bei den Surrealisten tauchten viele Bearbeitungen der Figur auf; so eröffnete André Breton um 1937 eine Galerie namens Gradiva, wobei jeder Buchstabe mit einem Frauennamen verbunden war: G für Gisèle, R für Rosine etc.: mit Gisela Steinlechner hatte Breton einen Musen-Altar errichtet, mit Gradiva als Ober-Muse, „deren in der Art eines Akronyms buchstabierter Name an die Stelle aller anderen – im Prinzip austauschbaren – Musen-Namen tritt“.18

Es ist erstaunlich, wieviel über die römische Kopie eines griechischen Originals geschrieben werden kann, welche Vielfalt von Narrationsebenen entsteht. Noch dieser Beitrag reiht sich ein, mit allerdings zwei Nuancierungen. Zum einen modifiziere ich das oben erwähnte unverletzliche Geheimnis der Gradiva, zum anderen achte ich besonders auf spezifische Momente der künstlerischen Figur.

Es erscheint sinnvoller, statt von Geheimnis von einem Rätsel zu sprechen: so verweist das semantische Umfeld von Geheimnis auf Macht, Herrschaft, Geheim, Geheimakten, etwas für Eingeweihte, man denke an das Augurenlächeln. Währenddessen gehört zum Rätselverständnis immer auch das nicht erratbare, unlösbare Rätsel. Auch ergeben sich aufgrund der spärlichen Informationen der griechischen Religionsgeschichte und der ebenso ungewissen Provenienz der Kopie grenzenlose Projektionsräume. Schliesslich bezeugt das an der Wand fixierte, zweidimensionale Relief, das nur aus einer unteren Position heraus zu betrachten ist, eine Dynamik, deren Wie und Warum sich der abschliessenden Erklärung entzieht. Im Interesse an einem Sichtbarmachen der Figur, besonders einiger Aspekte, die bislang unbeachtet blieben, sei das Augenmerk daher noch einmal auf Gradiva gelenkt.

An der Figur sind Details bemerkenswert, ja auffällig, die rätselhaft bleiben. Das erste betrifft die Laufrichtung der Figur: sie schreitet voran gegen die geläufige (!), lateinisch vertraute Leserichtung, von links nach rechts, und bewegt sich, besser: läuft schnellen Schrittes von rechts nach links, wie zum Beispiel in der arabischen Schrift üblich. Das zweite betrifft den Eindruck, dass sie einem Widerstand ausgesetzt zu sein scheint, vielleicht dem Wind? Das dritte verweist auf das Material ihrer Bekleidung, das auf der Höhe ihrer linken Brust auffällig drapiert ist; der unbekannte Künstler zeigt, dass er Anatomie zu beherrschen vermag, warum hier die Ansicht von vorn? Oder gibt dieses Detail eine Verschränkung ägyptischer und griechischer Einflüsse zu erkennen? Signifikant bleibt die Stofflichkeit, die Materialität ihrer Gewandung, deren raffinierter künstlerischer Gestaltung die Lebendigkeit und intensive Bewegtheit der dargestellten Figur zu verdanken ist.

In einem Laboratorium kulturhistorischer Bildanalyse lassen Vergleichsstudien nicht lange auf sich warten. Vor wenigen Jahren (2018 und 2019) wurde ein Foto international bekannt, das eine bemerkenswerte Figur zeigt. Es handelt sich um das Werbefoto eines türkischen Mode-Labels, der Name des Fotomodells bleibt ungenannt, aufgenommen wurde es im Frühjahr 2018, von Rasit Bagzibagh für das Label Modanisa,
Das Werbefoto schmückte die Rückseite des Ausstellungskatalogs Contemporary Muslim Fashions.20 Vergleichbar der Aglauros oder Gradiva ist auch diese Figur von leicht schräg unten zu sehen. Auch sie zeigt eine aufgestellte Ferse, ist den Betrachtern seitwärts zugewandt, auch sie scheint sich von rechts nach links zu bewegen.
Es ist von minimer Bedeutung, ob der Fotograf das Relief der Gradiva kannte. Das Bildgedächtnis arbeitet bewusst und unbewusst zugleich. Entscheidend ist der Eindruck, den diese ebenfalls in Bewegung begriffene Figur erweckt. Auch hier ist jede Menge Stoff im Spiel, viel (um mit Warburg zu sprechen) bewegtes Beiwerk im Bild. Und doch wirkt die dargestellte Figur seltsam statisch, trotz der stofflichen und flatternden Materialität. Ihre Aktivität besteht darin, eine neue Mode-Kreation zu präsentieren und nebenbei aus dem Bild heraus zu schauen, auf die Betrachter hinunter zu blicken. Während Gradiva völlig unbeteiligt von möglichen Zuschauern oder Betrachtern voranschreitet, vollzieht sich hier ein Blickkontakt, das Anschauen erfolgt durch eine Person, die seltsam passiv erscheint. Entscheidend bleibt der Eindruck des Statischen, der Bewegungslosigkeit im Moment der Präsentation. Ohne der fotografischen Qualität das Wort reden zu wollen, erstrahlt dank des Vergleichs das Rätsel der Gradiva umso heller und irrlichternd.

Von April bis September 2019 zeigte das Frankfurter Museum die Ausstellung Contemporary Muslim Fashions. Sie war zunächst in San Francisco präsentiert worden. Im Unterschied zur Ausstellung in USA bewirkte die Ausstellung in Deutschland einen lauten Protest. Das positive Echo in Amerika wird unter anderem als Reaktion des liberalen Kaliforniens auf Donald Trumps Muslim Ban gedeutet, der Bürgern aus sieben mehrheitlich muslimischen Ländern die Einreise in die USA verbot.

Teile des öffentlichen Protests gegen Contemporary Muslim Fashions richteten sich insbesondere gegen die Verflechtung von Mode und Islam. Doch zielte die Frankfurter Ausstellung nicht auf die Darstellung bestimmter ästhetischer Wirkungen des Islam. Die Kuratorinnen Jill D’Alessandro, Laura Camerlengo und Reina Lewis wollten darauf aufmerksam machen, dass junge muslimische Menschen einen anderen Umgang mit Bekleidungsvorschriften suchen und finden. Gezeigt wurden vorwiegend Entwürfe von Designerinnen und Designern im Alter von 25 bis 35 Jahren. Lange vor beiden Ausstellungen gab und gibt es auch weiterhin einen weltweiten Austausch in den mobilen Netzwerken: Instagram, facebook, YouTube etc.
Was blieb in der Contemporary Muslim Fashions_-Ausstellung unbearbeitet? In vielen Teilen der Welt finden Re-Islamisierungen statt, die nur marginal erwähnt wurden, ebenso wie koloniale und postkoloniale Kontexte; wünschenswert wäre gewesen, die Kriterien für die Auswahl der Länder, aus denen Kollektionen gezeigt oder eben nicht gezeigt wurden, offen zu legen. So fehlen afrikanische Länder vollständig. Gezeigt wurden vorwiegend Designerinnen und Designer aus dem Nahen und Mittleren Osten, aus Malaysia, Indonesien, Europa und USA. Aus wissenschaftlicher Perspektive gehören die folgenden Drehpunkte mindestens in die vertiefte Forschung: der internationale Modemarkt; die Rolle der Golf-Staaten im Blick auf Kunst und Mode; der globale Kunstmarkt; 09/11 War on Terror; ‚Gender und Islam‘ in den Regionalwissenschaften. Die Ausstellung _Contemporary Muslim Fashions war insgesamt betrachtet wenig spektakulär. Dagegen zeigten die Videos und hashtags viel Bewegung, bunte Farben, Kleidungsstücke und: sie waren mit anregender Musik unterlegt.

Die Empörung in den deutschen Medien gab sich – auch im Blick auf die konventionelle Ausstellungsgestaltung – in ihrem symptomatischen Charakter zu erkennen. Zugleich verwiesen die Beunruhigungen, dass sie nicht allein von der Mode ausgehen können, wenn Mode – wie oft behauptet wird – nur ein Moment fortgeschrittener Konsummanipulationen und blosses Instrument absatzstrategischer Produktion wäre.
Mode kann zentral sein für die Kommunikation des eigenen Lebensstils an die Aussenwelt. Contemporary Muslim Fashions zeigte etwa 80 Entwürfe von Designern mit ihrem eigenen, religiösen (hier) muslimischen Hintergrund. Die Ausstellung thematisiert Kleidungs- und Designentwürfe, die sich gegen das religiöse Establishment richten. Somewhere in America ist ein Hashtag der Mipsterz (= muslimische Hipsterz), der in Amerika konservative Muslime und rechte Politiker gleichermassen empörte. Er wird in der Ausstellung ebenso präsentiert wie Videos, die den Kampf iranischer Frauen gegen den Islam, 1979 und heute, aufzeichnen. Die Forschungsliteratur erkennt in dem Spagat junger Muslime, zwischen der kompletten Phase der Identitätsbildung in den USA oder in Deutschland und den unbekannten Alltagscodes der Herkunftsländer, eine hybride Identität, die die Verknüpfung der Kultur der Mehrheitsgesellschaft mit der Kultur ihrer Herkunftsfamilie herzustellen sucht.

Als Religionswissenschaftlerin widme ich mich seit langem den Materialitäten der Religionen; sie umfassen Bilder, Objekte, Vorstellungen, Texte und Narrationen, die sich Menschen von ihren Göttinnen oder Göttern machen. Religionen verstehe ich daher auch als das Repräsentationssystem par excellence, dessen Referenzpunkte stets fiktionale, imaginäre Subjekte und Konstellationen von allerdings höchster Handlungsrelevanz sind – eine Perspektive auf Religion, die ich mit der Psychoanalyse teile. Denn im Fokus stehen – hier wie dort – Menschen in ihrer Verletzlichkeit, in ihrer körperlichen, psychischen und gesellschaftlich-kulturellen Komplexität, mit ihren Ängsten und Wünschen; sie sind in die Gesellschaft und Kultur hineingeboren, ja hineingeworfen, und es sind deren Bildervorräte, deren Sprache und Vorstellungswelten, die fortan die psychische Realität des Einzelnen bestimmen.

Vor diesem Hintergrund verdienen die künstlerischen Arbeiten, die in der Ausstellung gezeigt wurden, unsere Aufmerksamkeit, beispielsweise die Werke von Shadi Ghadirian, Shirin Neshat, Hassan Hajjaj. Ich werde an dieser Stelle nur die Arbeit des amerikanischen Fotografen Steve McCurry diskutieren. Denn sein ‚Lieblingsmodell’ hatte er über einen langen Zeitraum immer wieder fotografiert. Sharbat Gula, so ihr Name, ist jene Afghanin, die seit Mitte der 1980 Jahre als Bild der National Geographic berühmt wurde und erst 17 Jahre später davon erfuhr. Das zweite Sujet meines bildanalytischen Laboratoriums widmet sich Sharbat Gula, genauer ihrem Fotos als zwölfjähriges Mädchen.21

Sharbat Gula | © Foto: Screenshot

Auf dem Bild sieht man Sharbat Gula in einer Aufnahme aus dem Jahr 1984; als ganzseitige Covergestaltung eines National Geographic Heftes gelangte die Fotografie 1985 zu weltweiter Berühmtheit. Steve McCurry, der amerikanische Fotograf, hatte das Mädchen in einem pakistanischen Flüchtlingslager gesehen und fotografisch festgehalten. Die Geschichte zum Bild ist mittlerweile in vielfachen Formaten zugänglich. 1984 hatte Steve McCurry nach Motiven gesucht, um die Situation in Afghanistan und Pakistan zu dokumentieren, die persönlichen Geschichten zu den Fotos spielten (noch) keine Rolle. Das änderte sich fast zwei Jahrzehnte später. Um 2000 begab sich Steve McCurry auf die Suche nach dem damaligen Mädchen, der heutigen Frau und: er findet sie. Erneut gibt es ein National Geographic Heft (Nr. 4, 2002) und endlich erhalten Mädchen und Frau auch einen Namen: Sharbat Gula. Sharbat Gula hatte nicht gewusst, dass ihr Gesicht siebzehn Jahre lang durch die Welt gegeistert war.

Neuere Ausstellungen zeigen mittlerweile auch Fotos von Sharbat Gula ohne Gesichtsschleier oder Kopftuch, so z.B. die Amsterdamer Schau „Masters of Photography – Icons of National Geographic“. Das Tropenmuseum Amsterdam bewarb 2014 die Ausstellung mit dem Bild der zwölfjährigen Sharbat Gula. Ebenfalls dort gab es einen Film über die Suche McCurrys, der bereits ein Jahr zuvor anlässlich einer Hamburger Ausstellung gezeigt worden war. Er ist 95 MInuten lang und erzählt die Suche nach den Augen dieser Frau. Im Jahr 2015 wurde die Ausstellung „Der schöne Schein“ im Gasometer Oberhausen ebenfalls mit dem Foto beworben. Und ein letztes Beispiel für diese nicht enden wollende Rezeption: eine Fotoedition aus dem Jahr 2017 mit dem Titel 1001 Photographs You must see before you die (Paul Lowe, General Editor) zeigt als Cover erneut die zwölfjährige Sharbat Gula.

Die reale Geschichte, die mit dem Vorhandensein der Fotos in Zusammenhang steht, findet eine dramatische Fortsetzung: Sharbat Gula war von Afghanistan nach Pakistan geflüchtet, wo sie seit Anfang der achtziger Jahre in Flüchtlingscamps lebte, dort heiratete und Kinder bekam. 2016 erfolgte in Pakistan ihre Verhaftung, angeblich trug sie einen gefälschten pakistanischen Pass bei sich. Nach zwei Wochen Haft wurde sie entlassen und mit ihren Töchtern nach Afghanistan ausgewiesen. Sie selbst wäre in Pakistan geblieben, ihre Töchter dürften im gegenwärtigen Afghanistan schlechtere Chancen auf Bildung haben als ihre Mutter vor dreissig Jahren.22 Im August 2021 zog Sharbat Gula nach Italien.

Wie ist die grosse Beliebtheit des Fotos der zwölfjährigen Sharbat Gula zu erklären? Um welche oder wessen Faszinationsgeschichte handelt es sich?
Auffallend sind zunächst die vielen kultur- und religionshistorischen Bildtraditionen, die Darstellungen des weiblichen Körpers als Allegorien oder Repräsentation einsetz(t)en – für die Religion, die Nation, die Revolution, für ein Territorium, hier Afghanistan, die Flucht etc. –, bei gleichzeitiger Abstinenz der rechtlichen und gesellschaftlichen Position von Frauen in den jeweiligen Kontexten. Feministische Filmanalytikerinnen machten immer wieder auf diese Diskrepanz zwischen Bild und Realität aufmerksam; unter anderem wurde die Unterscheidung von women und Woman erprobt, um mit dem Singular Woman auf die Funktion als Repräsentation hinzuweisen, während der Plural w_omen_ Frauen als historisch-soziale Subjekte adressiere (Teresa de Lauretis). Auch erinnert die Prominenz des Fotos an die literarische Faszinationsfigur der Lolita.

Um auf den Blick der Sharbat Gula zurückzukommen: sie schaut unerschrocken, offen, entwaffnend und zugleich eindringlich aus dem Bild; manche Betrachter entdecken Verletzlichkeit gepaart mit Erschrecken, andere sehen einen Blick, der standhält und nicht ausweicht. Die irritierende Komplexität des Blicks löst eine Suchbewegung aus, nach den Prägungen, die auch der Betrachtung dieses Bild zugrunde liegen. So kommen Jan Vermeer und sein Bild „Das Mädchen mit dem Turban“ von 1606 in den Sinn, das erst seit 1995 „Das Mädchen mit dem Perlenohrring“ (oder „Perlenohrgehänge“) heisst. War das Modell von Vermeer ein türkisches Mädchen? Eine 3Sat-Serie zeigt, dass – und wie – heutzutage ein Umgang mit den Inkunabeln der Kunstgeschichte gesucht wird. Man will dem Geheimnis auf die Spur kommen, indem die Farbmaterialien recherchiert, historische Quellen herangezogen werden, neueste Technik zum Einsatz kommt, das Bild erneut gemalt wird.23 Es entsteht eine gelungene Reproduktion, „wir sind dem Mädchen nahegekommen“, sagt einer der Protagonisten und berührt damit den Topos von Verschleierung und Entschleierung, der auch mit Sharbat Gula und ihrem Sein als fotografische Ikone aufgerufen wird.

Faszinationsgeschichte – so liesse sie sich umschreiben – ist immer auch die Geschichte des Noch-Unerledigten, das in unzureichenden Formen wiederkehrt und nach zureichenderen Formen der Wiederkehr verlangt. Diese Umschreibung enthält sowohl die psychoanalytische Einsicht, dass mit jeder Wiederholung zugleich ein Stück Bearbeitung erfolgt, als auch den Hinweis auf die Methode, nämlich ein temporäres Bündnis zu schliessen mit dem Noch-Zu-Bearbeitenden. Ein Laboratorium kulturhistorischer Bildanalyse verstehe ich in diesem Sinn: als Arbeit mit Faszinationsgeschichten, mit Differenz und Wiederholung, mit einer widerspruchsvollen Gleichzeitigkeit.

Ich verweile noch einen Moment im kulturellen Format der Ausstellung und springe hinein in die Arbeit einer street art Künstlerin. Bilder, die Mira Shihadeh schuf (so ist der Name der Künstlerin), zirkulieren seit ihrem ersten Erscheinen auch im Netz; der Kontext ihrer Herstellung ist die politische Umbruchssituation beginnend 2011 in Ägypten. Dank der Möglichkeiten des vervielfältigenden Drucks verbreiten sich Bildinhalte mit rasanter Schnelligkeit. Die Stichworte für die letzte Bildgeschichte – die nur noch schlaglichtartig präsentiert wird – sind damit gefallen: soziale Medien und Internet. Darüber hinaus bezeugt die Arbeit der ägyptischen Künstlerin eine Verflechtung von Politik, Religion und künstlerischer Aktivität.
Denn Mira Shihadeh rekurriert in einer ihrer Arbeiten auf eine brutale Gewaltaktion einer Vielzahl von Männern gegenüber einer einzelnen Frau, in Kairo am 25. Januar 2013, das war der zweite Jahrestag der ägyptischen Revolution. Ein kurzes YouTube-Video zeigt die Künstlerin bei der Produktion ihrer Arbeit, namens Circle of Hell: eindrücklich wird die in Szene gesetzte Produktion des Wandbildes auditiv begleitet von einer männlichen, durch ein Megaphon verstärkten Stimme, die – so ist zu vermuten – die Freitagspredigt spricht.

Es ist jedoch nicht die Arbeit Circle of Hell, die nachhaltig Wirkung erzeugt, sondern ein anderes Bild der Künstlerin, das über die online Portale hinaus Berühmtheit erlangt.

In diesem Bild sieht man – prominent platziert – eine Frau in einem roten Kleid, sie trägt roten Kopfschmuck und Stöckelschuhe und schaut selbstbewusst die Betrachter an. In der Hand hält sie eine Spraydose, mit der sie wirksam eine Gruppe von kleinen männlichen Figuren auf Abstand hält, die in einem rot-schwarzen Sprühnebel auf den Boden fallen. Dank der Sprache des Bildes wird der arabische Schriftzug zwischen der Frau und dem Farbnebel: Nein zu sexueller Belästigung übersetzt. Zugleich leistet das Bild die Reflektion auf das Referenzsystem Kunst und dessen Ausgrenzungen oder Einschließungen: ist doch die Spraydose selbst ein Werkzeug der Street Art. Verschiedene Versionen der Arbeit sind im Netz zu finden, mal ist das Bild inmitten des urbanen Kontextes von Kairo zu sehen; mal wird die Künstlerin bei der street art Produktion beobachtet, während ihr ein kleiner Junge zuschaut.

Mira Shihadeh gehört zu einem Kunstprojekt, das dazu aufrief und -ruft, den urbanen Stadtraum in Form von Graffitis und Street Art zu gestalten. Das Projekt „Women on Walls“ (kurz WOW) wurde von zwei Künstlerinnen, Mia Grondahl und Angie Balata im Mai 2013 ins Leben gerufen. Das mission statement des Projekts richtet sich darauf, in der Öffentlichkeit die Verbesserung der Rechtssituation von Frauen mit Hilfe des Mediums Street Art zu forcieren. Mittlerweile hat Women on Walls ein grosses Netzwerk im Nahen Osten aufgebaut, bestehend aus mehr als 60 Künstlerinnen.
Im Bild der Rotgekleideten – und in auffallendem Gegensatz zu Circle of Hell – spielt Gewalt an Frauen keine Rolle: das Bild kann geradezu als eine kontrafaktische Utopie gelesen werden. Ausgezeichnete Bildleistungen kommen hierbei zur Darstellung: sei es die Farbkonstellation Schwarz und Rot auf hellem Grund, die Bilder von Tizian ins Gedächtnis ruft und die den Nationalfarben Ägyptens entsprechen; oder das bewegte Beiwerk des roten Kleides, das für Lebendigkeit einsteht; oder die Tatsache, dass Bilder stets etwas zeigen und gleichzeitig sich selbst, das heißt, ihre eigene materielle Faktizität präsentieren.

Ich entdeckte das Bild von Mira Shihadeh im Rahmen der Ausstellung Au bazar du genre. Im Ausstellungskatalog bildet es einen zentralen Bestandteil des Beitrags, der Gewalt gegen Frauen rund um das Mittelmeer thematisiert und nach Lösungsansätzen sucht. Die Sonderausstellung Au bazar du Genre war anlässlich der Einweihung des Museums in Marseille: Musée des Civilisations de l’Europe et de la Méditerranée, kurz MUCEM, im Jahr 2013 eröffnet worden. Im Frühjahr 2017 zeigte der kleine unabhängige Kunstort LeCube in Rabat, Marokko die Ausstellung geschlechter. rollen. identitäten. Ich erwähne diese Ausstellungen, da die Notwendigkeit kritischer Bild- und Vorstellungsanalysen nach wie vor virulent ist und sie in den Ausstellungen geleistet wurde.

Resümee
Die Bildmaterialien, die ich auswählte, entstammen aktuellen Forschungszusammenhängen; sie besitzen – wie alle Forschungsprozesse – ihre eigene Zeitlichkeit, in deren Rahmen die kulturhistorischen Analysen interagieren. Ihre Forschungsergebnisse sind vorläufige, es bleibt – wie stets – weiteres zu tun. Jede Forschung impliziert zugleich einen eigentümlichen und produktiven Prozess: Bilder kommen ins Spiel, die mich, die Forschende dazu bringen, vorhandenes Wissen umzuformen, ohne dass diese Bilder aus dem bereits vorhandenen Wissen im Vorhinein hätte abgeleitet werden können. Im Blick auf einen solchen Vorgang spreche ich von aesthetics of serendipity, in deren Verlauf es – wie im Sichtbarmachen einiger Gradiva-Momente geschehen – zu Evidenzerfahrungen kommen kann. Die Erörterung der Geschichte von Sharbat Gula verwies auf eine oben erwähnte Parallelität von Kulturwissenschaft und Psychoanalyse, die das Interesse an Faszinationsgeschichten teilen. Repräsentatorische Funktionen, die mit dem Bild verknüpft sind, können für das Fasziniertsein ebenso entscheidend sein wie die im Bild vermittelten ambivalenten Qualitäten (Judith und Holofernes).
Auch für diesen Beitrag bleibt die Aufgabe bestehen, die Leserinnen und Leser zur partizipativen Wissensproduktion einzuladen. Ich hoffe, mit diesem Text beizutragen und das Interesse an aufmerksamen, kritischen, kulturhistorisch fundierten Bildanalysen zu vertiefen.
 
 
 
 
Bildlegenden/Abbildungsnachweise
• - Abbildung 1: Gradiva-Relief, Vatikanische Museen Rom, Dezember 2018 (Foto: Phil Langer)
• - Abbildung 2: Ausstellung La Passion à l‘oeuvre, Rodin et Freud collectionneurs, Musée Rodin, Paris 2008, Postkarte (Foto: Susanne Lanwerd)
• - Abbildung 3: Mira Shihadeh in: (Ausstellungkatalog) Au Bazar du Genre, Hg.: Denis Chevalier/Michelle Rochefort. Paris textuell, 2013, S. 99.

 
 
 
 
1 Elisabeth Bronfen: Crossmappings. Essays zur visuellen Kultur, Zürich 2009; Erwin Panofsky: Ikonographie und Ikonologie. Eine Einführung in die Kunst der Renaissance, in: ders., Sinn und Deutung in der bildenden Kunst, Köln 1978, S. 36–67.
2 Vgl. Susanne Lanwerd: Corona im Klimawandel. Ein Essay, Würzburg 2021 sowie ausführlich dies.: More Aesthetics, more Ethics. Religionswissenschaft und Kunstgeschichte im Laboratorium kulturwissenschaftlicher Bildgeschichte, in: Challenging the Iconic Turn. Hg.: Dominic E. Delarue, Christoph Wagner, Berlin – Boston 2023, S. 124 – 46.
3 Leider können nicht alle Bilder, die ich diskutiere, gezeigt werden.
4 Daniela Hammer-Tugendhat: Judith und ihre Schwestern. Konstanz und Veränderung von Weiblichkeitsbildern, in: Lustgarten und Dämonenpein. Konzepte von Weiblichkeit in Mittelalter und Früher Neuzeit. Herausgegeben von Annette Kuhn und Bea Lundt. Dortmund 1997, S.343-385, hier S. 367.
5 Elisabeth Gierlinger-Czerny: Judits Tat. Die Aufkündigung des Geschlechtervertrags. Wien 2000, hier S. 15 und S.144/145.
6 Bettina Uppenkamp: Judith und Holofernes in der italienischen Malerei des Barock. Berlin 2004, S. 15.
7 Auf der Website der Vatikanischen Museen findet man unter Gradiva den Eintrag: Das Relief ist Teil einer Kom-position, in der eine weibliche Dreiergruppe von rechts zu einer gegenüberstehenden Mädchendreiergruppe schreitet, deren Reliefs sich jetzt in verschiedenen Museen befinden: Es sind die sogenannten Horen und Aglauriden, wahr-scheinlich Kopien eines griechischen Originals aus dem 4. Jahrhundert v. Chr. Es folgen Hinweise auf die Novelle von Wilhelm Jensen und die Studie von Sigmund Freud. Die Inventarnummer wird mit 1284 angegeben.
8 Walter Burkert: Griechische Religion der archaischen und klassischen Periode. Stuttgart, Berlin, Köln, Mainz 1977, S. 268, 270; Der Kleine Pauly, Band 2, s.v. Horai, 1216.
9 „Athena übergab an Aglauros, Herse und Pandrosos eine ‚Kiste‘ (kístaí) mit dem Verbot, sie je zu öffnen; die Neugier siegte“, Burkert 1977, S. 348.
10 Die Novelle erschien unter dem Titel „Gradiva. Ein pompejanisches Phantasiestück”, Dresden / Leipzig 1903. Vgl. auch Bernd Urban (Hg.): Sigmund Freud, Der Wahn und die Träume in Wilhelm Jensens ‚Gradiva‘, Frankf. /Main 1995 sowie Michael Rohrwasser, Gisela Steinlechner, Juliane Vogel (Hg.,): Freuds pompejanische Muse. Beiträge zu Wilhelm Jensens Novelle ‚Gradiva‘, Wien 1996 und Elfriede Löchel „Verwicklungen im Zeichen der ‚Gradiva‘. Psychoanalyse, Literatur und Wissenschaft“, in: Dies. / Insa Härtel (Hg.): Verwicklungen. Psychoanalyse und Wis-senschaft. Göttingen 2006, S. 93-122.
11Jacques Derrida: Dem Archiv verschrieben. Eine Freudsche Impression. Berlin 1997, S.171. Dem Text liegt die englische Vortragsfassung Derridas zugrunde: Archive Fever: A Freudian Impression, in: Diacritics, Vol. 25, Nr. 2 (Summer 1995), 9-63, hier: 61.
12 Vgl. die instruktive Studie von Lydia Marinelli zu Gradiva „Meine … alten und dreckigen Götter. Aus Sigmund Freuds Sammlung, in „Tricks der Evidenz“, hg. Andreas Mayer, Wien/Berlin 2009, hier S.191
13 Roland Barthes: Fragmente einer Sprache der Liebe, Frankfurt am Main, 1986, S. 117.
14 Sigmund Freud: Der Wahn und die Träume in W. Jensens ‘Gradiva’, Gesammelte Werke Band VII, 1907
15 Gisela Steinlechner / Juliane Vogel: Vorwort, in: Michael Rohrwasser, Gisela Steinlechner, Juliane Vogel (Hg.,): Freuds pompejanische Muse. Beiträge zu Wilhelm Jensens Novelle ‚Gradiva‘, Wien 1996, S. 7-13, hier S. 11.
16 Juliane Vogel: Das pompejanische Phantasiestück. Konstellationen von Eros und Archäologie, in: Michael Rohrwasser, Gisela Steinlechner, Juliane Vogel (Hg.,): Freuds pompejanische Muse. Beiträge zu Wilhelm Jensens Novelle ‚Gradiva‘, Wien 1996, S. 91-122, hier S. 118
17 Jacques Derrida: Dem Archiv verschrieben. Eine Freudsche Impression. Berlin 1997, S.169, 174f.
18 Gisela Steinlechner: Fundsache Gradiva. Auftritt der pompejanischen Muse im Surrealismus, in: Michael Rohrwasser, Gisela Steinlechner, Juliane Vogel (Hg.,): Freuds pompejanische Muse. Beiträge zu Wilhelm Jensens Novelle ‚Gradiva‘, Wien 1996, 123-155, hier S. 124/125.
19 Auch die Broschüre zur Ausstellung 2008 zeigt Gradiva ganzseitig. In der Ausstellung „Du Regard à L’Écoute” (Musée d‘arts et d‘histoire du Judaisme, Paris Dezember 2018 bis Februar 2019) ist Gradiva gleich zwei Mal ver-treten: einmal als überlebensgrosse Fototapete, deren oberer Rand die Gardinenbordüre ziert, die man auch auf Fotos des Arbeitszimmers von Freud oberhalb des Gipsrelief sehen kann; zum anderen als Gipsrelief inmitten einer ganzen Reihe anderer antikisierender Objekte.
20 Vgl.: Contemporary Muslim Fashions, edited by Jill D’Alessandro and Reina Lewis, München, London, New York 2018.
21 Sharbat Gula, in: Untold. The Stories behind the Photographs, by Steve McCurry. Phaidon, London 2013, S. 77
22 https://www.sueddeutsche.de/kultur/afghanistan-sie-wollen-ein-exempel-statuieren-1.3225173, zuletzt aufgerufen am 5.5.2023.
23 ZDF / 3Ssat: Das Geheimnis der Meister: Jan Vermeer (Doku 2017), zuletzt aufgerufen am 5.5.2023

Letzte Änderung: 04.06.2023  |  Erstellt am: 04.06.2023

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