Zeitenwende

Zeitenwende

Ein Liederabend in der Oper Frankfurt
Jakub Józef Orliński  | © Barbara Aumüller

Eine neue Musikergeneration zieht in Konzertsäle und Opernhäuser ein. Talentierte und blendend ausgebildete Sänger:innen und Pianisten tragen mit Verve, Können und ausgefallenem Repertoire dazu bei, dass die noch vor wenigen Jahren angeblich vom Aussterben bedrohte Art des Liederabends gerettet werden kann. Zwei, die den eigenen Spaß am Tun auf das Publikum übertragen, sind Jakub Józef Orliński (Countertenor) und Michał Biel (Klavier), findet Andrea Richter.

Ein Liederabend mit dem Countertenor Jakub Józef Orliński und dem Pianisten Michał Biel

Auffällig beim Liederabend in der Oper Frankfurt war schon beim Reingehen der vergleichsweise geringe Anteil an gediegener Kleidung, dafür der hohe an Freizeitkleidung an diesem warmen Mai-Abend. Vielleicht angeregt von Orliński selbst, der im Sommer 2017 in Aix-en-Provence in Turnschuhen, Bermudas, mit weit aufgeknöpftem, zerknittertem Hemd und hochgekrempelten Ärmeln sowie schlecht rasiert im Freien sang. Ein Versehen, weil ihm gesagt worden sei, es handle sich um eine Radiosendung ohne Publikum, hatte er sich entschuldigt. Einen Riesenschreck habe er bekommen, als er von Menschen und Kameras überrascht worden sei. Zum Glück nicht so sehr, dass es ihm seine wunderbare Stimme verschlagen hätte. Das davon ausgehende Signal: Auch in Bermudas kann man kunstvollste hohe Koloraturen der Barockmusik in Spitzenqualität singen. Zumal sie in diesem Fall einem offensichtlich bestens durchtrainierten, sehr männlichen Sportler-Körper entsprangen. Die Aufzeichnung wurde im Laufe der Zeit mehr als vier Millionen Mal Im Netz aufgerufen. Damals galt er noch als Geheimtipp unter Freunden und Kennern guter Stimmen.

Auch noch, als er im Herbst 2017 in Frankfurt Händels Rinaldo sang und klar machte, wie sehr auch Tanz und Bewegung zu ihm gehören. Das Publikum jubelte und erfuhr, dass er internationale Preise im Breakdance gewonnen hatte. 2019, in der Rolle des Unolfo in Rodelinda, legte er dann auf der Bühne tatsächlich kleine Breakdance-Einlagen ein, landete nach wilden Sprüngen und Umdrehungen auf den Händen wieder auf seinen Füßen und sang Takt und Ton genau weiter, als sei vorher nichts gewesen. Natürlich lag ihm das Publikum zu Füßen. Da war er schon viel mehr als ein Geheimtipp.

Und dann, während der Corona-Bühnenabstinenz, stellte er ein ums andere Mal kurze Videos mit Arien und Liedern von zuhause in Warschau aus ins Netz, mal im Anzug mit Turnschuhen, mal barfuß in Jeans und T-Shirt und präsentierte sogar in Baritonlage – er hat früher im Chor sogar im Bass mitgesungen – ein selbst komponiertes Poplied Stay home. Das hatte viel mit guter, aber wenig mit Ehrfurcht gebietender Sangeskunst zu tun. Singen, weil es Spaß macht, so die Devise.

Jakub Józef Orliński  | © Foto: Barbara Aumüller

Schubert sang in Gasthäusern

So hat es schon Schubert gehalten. Die meisten seiner Lieder hat er Freunden und Fremden vorzugsweise spontan in Wiener Gasthäusern vorgestellt, wo er als eine Art Popstar gefeiert wurde und sich gern betrank. Singen konnte er gut, feierlich fein ging es dort vermutlich nicht zu. Die Länge der Songs lag in der Regel bei ungefähr drei Minuten, viele der Melodien konnte man sich leicht merken und nachsingen. Ins Heute übertragen, wäre Schubert sicher ein international gefeierter Star, mit Live-Auftritten in großen Hallen oder Open-Air, mit mindestens einer CD pro Jahr, mit Videos auf Youtube (tausend- oder gar millionenfach angeklickt), mit Botschaften über soziale Netzwerke. Eben einer wir Leonhard Cohen, Sting oder Jamie Cullum. Die hört man sich auch nicht im Anzug oder im Kleinen Schwarzen an, trotz ihrer unbestritten hohen Qualität.

Noch trauen sich die neuen Jungen nicht, generell selbst in Alltagskleidung auf Konzertbühnen zu erscheinen. Vielleicht weil sie Angst haben, das Publikum könnte sie und ihre Kunst nicht ernst nehmen. Sie sollten es aber tun, um endlich dem Vorurteil des Elitären der klassischen Musik den Garaus zu machen.

Auch Orliński und Biel trugen in der Frankfurter Oper Anzüge. Und das für ein Publikum, das sich, neben der Garderobenetikette, nicht an die „Regeln“ eines deutschen Liederabends hielt. Schon der Einzug der Beiden wurde mit ungewöhnlichem Jubel von Fans begrüßt. Und dann? Nach jedem Lied respektive jeder Arie und nicht wie üblich nach Liedgruppen, Applaus mit der dazugehörigen Unterbrechung der Konzentration für Musiker wie Publikum. Doch Orliński ließ sich nicht aus der Ruhe bringen, dankte jedes Mal kurz charmant lächelnd und dachte sich wahrscheinlich, dass er schließlich auch und vor allem für Menschen singen möchte, die sonst klassische Konzerte eher scheuen. Nach einer ersten ruhigen, schlichten Arie von Johann Joseph Fux zur Einstimmung ging es barock weiter mit Henry Purcells Paradestücken für Countertenöre. Er machte seine Sache richtig gut: entwickelte die nötige Dramatik mit Crescendi und Decrescendi, wechselte mühelos zwischen Kopf- und Bruststimme (beide gleichermaßen kräftig) und schien sich bei alledem kaum anstrengen zu müssen. Edith Wiens von der Juilliard School in New York ist nun einmal eine der besten Gesangslehrerinnen weltweit – bei ihr hat er unter anderem studiert!

Jakub Józef Orliński  | © Foto: Barbara Aumüller

Botschafter polnischer Kultur

Dann, wie er selbst erklärte, „Weltpremiere“: polnische Lieder, die vor ihm noch kein Counter gesungen hat. In seinem Heimatland sind sie populär, außerhalb der Landesgrenzen jedoch kaum bekannt. So wenig wie die Komponisten Henryk Cysz (1923-2003), der (übersetzte) Texte von Alexander Puschkin vertonte, und Mieczysław Karłowicz (1876- 1909), in dessen Liedern bereits die Hinwendung zur Moderne erklingt und seine Verehrung für Richard Strauss durchscheint. Wesentlich volkstümlicher ging es bei Stanisław Moniuszko (1819-1872) zu. Er wird als „Vater der Polnischen Nationaloper“ Halka verehrt und verfasste ein 12-bändiges Liederbuch für den Hausgebrauch für Klavier und Gesang: 268 Lieder zu Gedichten seiner Epoche. Zwei davon wurden präsentiert. Man brauchte nichts zu verstehen, um die überwiegend melancholische Stimmung einzufangen und zu erkennen, wie sehr Orliński seiner so oft durch Fremdherrschaft unterdrückten Kultur verhaftet ist und ihr als Botschafter dienen möchte.

Zwischendurch entführte er noch zweimal virtuos in die koloratur- und verzierungsträchtige Barockwelt Purcells, um mit Händels Amen, Alleluja offiziell zu enden.

Vier Zugaben plus Akrobatikeinlage und standing ovations für den 31-Jährigen, der innerhalb von fünf Jahren vom Geheimtipp zum weltweit gefragten, hippen Star wurde, der Jung und Älter zu begeistern weiß und dem das alles selbst so gut zu gefallen scheint wie seinem Publikum. Jetzt muss er nur noch die Kleidung wechseln, um der ideale Lied- und Arienbotschafter zu werden, auch wenn sich manch Ältere/r gestört fühlen sollte. Die Zeitenwende ist angebrochen, das Publikum ist bereit.

Jakub Józef Orliński  | © Foto: Barbara Aumüller

Letzte Änderung: 21.05.2022  |  Erstellt am: 21.05.2022

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