Monströs? Schonungslos offen!

Monströs? Schonungslos offen!

Auftragswerk „Blühen“ der Oper Frankfurt
Blühen. Bianca Andrew (Aurelia) | © Barbara Aumüller/Oper Frankfurt

„Blühen“ heißt eine Oper, die im Bockenheimer Depot uraufgeführt wurde. Das Werk wurde zwei Männern, dem Komponisten Vito Žuraj und dem Librettisten Händl Klaus, von der Oper Frankfurt in Auftrag gegeben. Es behandelt ein, selbst in unserer angeblich enttabuisierten Gesellschaft, dennoch weitgehend tabuisiertes, urweibliches Thema: das Bluten der Frau. Können Männer das wirklich sensibel behandeln? Die beiden können es, meint Andrea Richter.

Uraufführung 2023 im Bockenheimer Depot der Oper Frankfurt am Main

Die Handlung basiert auf Thomas Manns letzter Erzählung Die Betrogene. Er schrieb sie 1952 noch im amerikanischen Exil, kurz vor der Rückkehr nach Europa. Händl Klaus hat nur den Plot übernommen, ansonsten ein völlig neues, ganz auf die Gefühlswelten der Protagonisten reduziertes Libretto geschrieben.

Die Handlung ist einfach: Eine Witwe Anfang Fünfzig mit zwei Kindern trauert nach dem Ausbleiben der Menstruation ihrer vermeintlich verlorenen Weiblichkeit nach. Doch dann verliebt sie sich leidenschaftlich in den Englischlehrer ihres Sohnes, und er sich in sie. Da setzen die Blutungen wieder ein, was sie auf die Liebe zurückführt. Ein großer Irrtum: sie hat vielmehr Gebärmutterkrebs und stirbt.

In sieben Bildern entwickelt sich das Drama mal in Deutsch und mal in Englisch, schonungslos und offen. „Offen“ nach 75 Minuten auch das letzte Wort der sterbenden Aurelia lauten. Offen ist auch der eine, große Bühnenraum. In den ersten fünf Bildern werden in zwei Roll-Elemente gesteckte stilisierte Weidenruten mit weißen Knospen als Trennelemente der Bilder und zur Schaffung neuer Räume jeweils umpositioniert.

Peitschenhiebe wie von Weidenruten sind übrigens auch in der Musik immer wieder vernehmbar. Auf der linken Seite ein Objekt, aus dessen äußerer Rindenschicht eine Art blaues Geschwür herausquillt. Es ist ein abstrahierter Baum, den wohl die abstrakt malende Tochter Anna der Hauptprotagonistin und Naturliebhaberin Aurelia so malen würde oder gemalt hat. In der Mitte ein zweites blaues Geschwür in Form eines Sofas. Auf oder neben ihm wird gelebt, geredet, geflirtet, geliebt.

Wie ein Leitmotiv zieht sich das bereits in den ersten Takten erklingende „Krebs-Thema“ der tiefen Instrumente durch das gesamte Stück: Todesahnung. Doch zunächst ist Aurelias Staunen über die viel zu frühe, (romantisch) blaue März-Blüte eines (Lebens-) Baumes zu erleben, den sie, die Naturverbundene, liebt und Erinnerungen mit ihm verbindet. Sein Blühen diagnostiziert sie als Angstblühen vor dem endgültigen Tod des schon morschen Gewächses. Dabei kommt sie auf ihre eigene Situation als Frau nach der Menopause zu sprechen, die sie als Schmerz empfindet. Eine große, teils hochlyrische Arie für Mezzosopran (Bianca Andrew) mit kurzen Einschüben ihrer abstrakt malenden, von der Liebe enttäuschten, den Baum, Körperlichkeit und Emotionalität bis zur Hysterie hassenden Sopran-Tochter Anna (Nica Gorič). Die Kontraste sind inhaltlich wie musikalisch immens. Der Chor singt Vokale, oder hechelt oder stöhnt, Emotionen ohne Worte.

Blühen.  Bianca Andrew (Aurelia) | © Foto: Barbara Aumüller/Oper Frankfurt

Humorvoll geht es weiter mit der Englisch-Lernstunde von Bariton-Sohn Edgar (Jarrett Porter) mit dem Tenor-Lehrer Ken (Michael Porter) aus Amerika. Herrlich, wie Edgar den Anfang von Edgar Allen Poes Novelle Der Fall des Hauses Usher mit starkem, deutschen Akzent vorliest, und korrigiert wird. Dazu kurz aufblitzend die Hymnen der beiden Länder. Aurelia serviert Tee und sofort wird die Zuneigung zwischen ihr und Ken spürbar. Das alles musikalisch heiter und beschwingt. Mit einem langen „Aurelia“ erhebt sich Kens Stimme über das Ensemble. In den nächsten Bildern leben Aurelia und Ken ihre Liebe leidenschaftlich aus, in quasi „klassischer“ Opernmanier unter anderem mit einem ergreifenden Kuss-Duett. „Blut“, jubelt Aurelia angesichts ihrer wundersamen Wieder-Verjüngung im fünften Bild zu Orchesterklängen im Tanzrhythmus.

Doch dann hebt sich der Vorhang an der Bühnenrückseite: auf einer weißen Wand ein riesiges amorphes, braunes Gebilde: eine von Krebs zerfressene Gebärmutter und Doktor Muthesius. „und des ovars der eierstöcke auch das bauchfell ist betroffen harnleiter und lymphdrüsen“, ein offenes Arzt-Patientin-Gespräch wie es bisher wohl kaum auf einer Bühne zu sehen war, erst recht nicht in der Oper. Aurelia wird auf das nun mit weißem Tuch verhängtem Sofa gebettet. Alles klinisch hell.

„Lass etwas Licht herein“, bittet Violetta singend ihre Vertraute Annina im letzten Akt von La Traviata. „wie hell es ist“, sagt die mit Morphium vollgepumpte Aurelia zu Tochter Anna zu Beginn des letzten Bildes von Blühen, der Sterbeszene. Doch anders als Violetta kann Aurelia kaum mehr singen. Das Singen mit Worten übernimmt nun oft der Chor für sie. Alle sind bei ihr, durchleben ihr Entgleiten gemeinsam, in großer Ruhe. „endlich bin ich ohne Hoffnung, offen“. Die Pauke schlägt ihren langsamen Puls, Schalenglocken lassen andere Sphären erahnen. Der letzte Paukenschlag und ein langer, elektronischer Spektralakkord. Ein schöner Tod, so möchte man sterben.
„O Gott, das ist monströs“, sagte ein offensichtlich schockierter Mann zu seiner Begleiterin beim Verlassen des Depots nach der Vorstellung. Monströs? Nein: Realität, schonungsloses, offenes und weitgehend tabubefreites Musik-Theater, das sowohl textlich als auch vor allem musikalisch tief berührt.

Ein bewegendes und vielschichtiges Werk hat das Männer-Duo Vito Žuraj und Händl Klaus geschaffen, eines das lange im Publikum nachhallt. Wozu es allerdings so hochkarätiger Musiker wie dem Ensemble Modern, den auch schauspielerisch talentierten Sängersolisten (allen voran Bianca Andrew als umwerfende Aurelia zu nennen), eines feinabgestimmten Vokalensembles, alles unter der äußerst präzisen Leitung eines Dirigenten wie Michael Wendeberg sowie einer durchdachten Regie, die durch Brigitte Fassbaender wieder einmal garantiert wurde, bedarf. Ansonsten können die vielen musikalischen Einzelelemente kaum eine Klanggemeinschaft bilden. In der Frankfurter Produktion konnten sie es.

Letzte Änderung: 25.01.2023  |  Erstellt am: 25.01.2023

Blühen. Nika Gorič (Anna) und Bianca Andrew (Aurelia; sitzend) | © Foto: Barbara Aumüller/Oper Frankfurt

Blühen
Musik von Vito Žuraj
Text von Händl Klaus
frei nach Thomas Manns Erzählung Die Betrogene (1953)
Auftragswerk der Oper Frankfurt
Uraufführung 2023 im Bockenheimer Depot der Oper Frankfurt am Main

Musikalische Leitung: Michael Wendeberg
Inszenierung: Brigitte Fassbaender
Bühnenbild: Martina Segna
Kostüme: Anna-Sophie Lienbacher

Aurelia: Bianca Andrew
Anna: Nica Gorič
Ken: Michael Porter
Dr. Muthesius: Alfred Reiter
Edgar: Jarrett Porter

Vokalensemble
Ensemble Modern

Weitere Vorstellungen: 25., 28., 30., Januar, 3., 5., 8., 10. Februar 2023. Bitte auf die unterschiedlichen Vorstellungsbeginne achten!
Oper Frankfurt

divider

Kommentare

Es wurde noch kein Kommentar eingetragen.

Kommentar eintragen