Die ganze Heimat

Die ganze Heimat

Überlegungen zur Heimat-Trilogie von Edgar Reitz
Heimat

Der Ort Schabbach ist uns bekannt, obwohl er auf der Landkarte nicht verzeichnet ist. Doch in der „Heimat“ existiert er. Der Regisseur Edgar Reitz, der am 1. November 90 Jahre alt geworden ist, hat nicht nur die epochalen Heimat-Zyklen geschaffen. Sie aber dominieren sein Filmschaffen und vermutlich sein Leben. Marli Feldvoß hat in ihren Überlegungen zur Heimat-Trilogie die veränderlichen Bedeutungen, die die Heimat für Reitz im Laufe der Arbeit einnahm, beleuchtet.

Edgar Reitz auf dem Boulevard der Stars

Vor genau 20 Jahren wurde Heimat, eine deutsche Chronik wie ein großes Wiedersehensfest in der Fernseh-Primetime gefeiert. Zwölf Millionen Zuschauer erkannten sich in dem großzügigen Erzählbogen wieder, der den Werdegang eines Dorfes und seiner Bewohner von 1919 bis in die Zweite Nachkriegszeit hinein rekonstruierte. Schabbach hieß das im Hunsrück gelegene Dorf – in Wirklichkeit eine Erfindung mit Schauplätzen aus Simmern und Umgebung und mit vielen Hunsrücker Schauspielern und Statisten, die sich zu einer großen Filmfamilie vereinten. Im Zentrum stand der Simon-Clan mit dem verträumten Paul Simon als Ahnherr, der – wie die ersten Einstellungen der Heimat zeigen – gerade dabei war, aus einer verlorenen Schlacht gegen den “Erbfeind”, aus einem französischen Kriegsgefangenenlager, heimzukehren.

„Fernweh”, nicht „Heimweh” heißt das erste Kapitel der Heimat und knüpft, so lässt sich vermuten, an ein Nachdenken über Heimat an, das sich immer noch am besten mit dem viel zitierten ersten Satz der Fontaneschen “Wanderungen durch die Mark Brandenburg” beschreiben lässt: „Erst die Fremde lehrt uns, was wir an der Heimat besitzen.” Aber Ahnherr Paul erfüllt nicht die Erwartung, das Vertraute aus der Distanz erkennen und schätzen zu lernen. Paul ist ein Heimkehrer, dem es bald wieder zu eng wird zwischen Kriegerdenkmälern, dörflicher Ausgrenzung und dem warmen Frauenschoß der Maria, die ihm mit Anton und Ernst zwei Söhne gebiert. Paul Simon findet eine neue Heimat in der Neuen Welt, er wird erst nach dem Zweiten Weltkrieg zurückkehren – als Amerikaner. Paul wählt die Weltbürgerlichkeit vor der Heimatverpflichtung. Er verlagert den im Film und bei uns bis heute schwelenden Konflikt zwischen Heimat als dem Gefühl der Übereinstimmung mit der eigenen kleinen Welt und der offenen Gesellschaft in die Ferne. Amerika hält für Paul die klassische Karriere vom Tellerwäscher zum Fabrikbesitzer bereit. Es formt reiche, hart gewordene, selbstbewusste Bewohner – Qualitäten, die von Filmemacher Reitz nicht geschätzt werden, die von ihm einer Art Feindbild vom „Konkurrenzkapitalismus“ zugeschlagen werden. Der Amerikaner ist für Reitz der Prototyp des Weggehers, und ein Weggeher ist ein Verlorener.

Aber schon mit dem zweiten Kapitel „Die Mitte der Welt“ ist die Zielrichtung der heimatstiftenden Chronik besiegelt. Edgar Reitz, der sich 1979 darüber beschwerte, dass uns die Amerikaner mit der Fernsehserie Holocaust die Geschichte weggenommen hätten, entschied sich mit seiner Heimatchronik dafür, diesen „Enteignungsvorgang“ zu bekämpfen und das zerrissene deutsche 20. Jahrhundert endlich zusammen zu denken. Dass ihm – fünf Jahre nach der Ausstrahlung der ersten Heimat – die Wiedervereinigung wie gerufen als historisches Erzählgeschenk in den Schoß fallen sollte, konnte Reitz natürlich nicht ahnen.

Im fiktiven Hunsrückdorf Schabbach kreuzen sich die Fluchtlinien von Norden nach Süden und von Westen nach Osten. Schabbach liegt am Nabel der Welt, es ist zur Keimzelle des neuen Heimatgefühls bestimmt. Die mit dem Jahrhundert geborene Maria, die Seele der Serie, wird – auch noch mit der Unterstützung von Großmutter Katharina und dem Chronisten Glasisch – zur Integrationsfigur. Alle sind sie Jahrhundert-Zeugen mit gutgläubigen Gesichtern und unschuldigen Händen – unverwechselbare deutsche Gesichter, die aus August Sanders Porträtgalerie hätten stammen können. In dieses Schabbach kehrt auch Marias Erstgeborener Anton nach den Zweiten Weltkrieg wieder zurück, nachdem er über 5000 Kilometer zu Fuß aus dem Ural zurückgelegt hat und seine Stiefel, aber mehr auch nicht, als ewiges Glücksunterpfand behalten wird. Der dritte und letzte Heimkehrer der Simons – und damit wäre der große Bogen zur Heimat 3 in die 1990er-Jahre geschlagen – ist das 1940 geborene Hermännsche, der Benjamin der Sippschaft, Spross von Marias zweiter großer Liebe zu Otto Wohlleben, der beim Bombenentschärfen zerfetzt wird.

Die Tatsache, dass Maria gleich zweimal verlassen wird, bereitet die vaterlose und auf neue Art heimatlose Gesellschaft der nächsten Generation eigentlich schon vor. Dass dabei schon für Paul Simon, noch mehr für seine Söhne Anton und Ernst, der Krieg zum Vater aller Dinge wurde – wie er stets auch als Ursprung technologischer Erfindung gilt – wird als Gedanke jedoch nicht weitergeführt.

Schabbach ist und bleibt der Inbegriff von „Heimat“, der Ort, wo noch das Hunsrücker Platt regiert, was später mit den Klangfarben der neuen Bundesländer und dem gurrenden russischen Aussiedler-Akzent aufgemischt wird. In Schabbach zählt das Beharrliche, das Eingebettetsein, das Wiedererkennen in der ewigen Wiederkehr des Alltags und in den wechselnden Jahreszeiten. Das ändert sich erst in der Nachkriegszeit mit dem Einbruch des Amerikanismus und dem unseligen Konkurrenzgedanken. Der kräftig von den Brüdern Anton und Ernst voran getriebene Ausverkauf von Schabbach ist dann nicht mehr aufzuhalten.

Obwohl Reitz den 1930er- und 1940er-Jahren mit sieben von elf Kapiteln ein Übergewicht einräumt und obwohl er die 30er und die 60er Jahre als „Brutstätten von Geschichte“ bezeichnet, verweigert der Film ausdrücklich eine Stellungnahme zur Geschichte des Dritten Reiches. Reitz sah sich lieber als jemand, der beim Erfinden ganz selbstverständlich auf das Leben selbst gestoßen sei; er bestand darauf, dass die Wahrheit in der sinnlichen Wahrnehmungsweise, im persönlichen Detailerlebnis zu finden ist, und unterstützt das oft genug mit einer raffinierten Farbdramaturgie. So rettet der „rote“ Nelkenstrauß die eher triste, schwarzweiße Ferntrauung von Anton und Martha an der „Heimatfront”. Statt sichtbare Widersprüche zu vertiefen, bemüht sich die Regie um die Herstellung jener genealogisch, familial, dörflich-religiös, auch noch matriarchal konnotierten „Heimat-Innenwelt“, die mit dem Chronisten Glasisch noch späte Höhepunkte feiert. Bei der Radioübertragung von Hermanns erstem elektronischen Konzert 1967 hört er in den verfremdeten Stimmen der Vögel und Bäche das Heimische heraus, entdeckt als einziger „im Fremdländischen das Schöne“.

Diese Heimat wurde vor 20 Jahren als „Requiem der kleinen Leute“ (Karsten Witte) gefeiert oder auch als „einfache Wahrheit in kosmopolitischer Zeit“, eine Aussage, die gleich von Werner Herzog, Alexander Kluge, Volker Schlöndorff, Margarethe von Trotta und Wim Wenders unterschrieben wurde. Reitz’ Heimat -Epos fiel in eine Zeit, als der lange verpönte Begriff „Heimat“ wieder salonfähig wurde. Die Serie Heimat war nicht Leitstern, sondern erschien wie die Summe einer Zeiterscheinung, Produkt eines Zeitgeistes, der im steifen Wind der Geschichte immer wieder umschlagen wird. Eine Flut von Publikationen widmete sich seit Beginn der 1980er-Jahre der Rückbesinnung und dem Rückzug auf das dörfliche Leben. Das verstärkte Suchen nach „Heimat“ fiel auch mit der politischen Wende zusammen. „Eine merkwürdige, verschämte, leicht errötende Heimatliebe war da herangewachsen“, schrieb der linke Publizist Lothar Baier 1984, der Heimat und Eigensinn zusammenbrachte.

Die acht Jahre später herausgekommene Zweite Heimat heißt München, die Stadt, in der Hermann in den 1960er-Jahren Musik studiert, eine Familie gründet, in der aber auch Edgar Reitz, als dessen Alter ego dieser Hermann anzusehen ist, seit den 1950ern lebt und arbeitet. Auch dieses Mal steht Reitz nicht gänzlich quer zum Zeitgeist. Nach der totgesagten Metropole kehrte die Stadtkultur zurück, die Urbanität, die gern zum Lobgesang der Individualität gerät. Das Erkennungsbild der Serie Die Zweite Heimat zeigt ein Stadt-Panorama, ganz Unübersichtlichkeit, ganz anders als die monolithische Steinmetzarbeit aus Heimat, die noch den ursprünglichen, distanzierenden Titel Made in Germany trägt – eigentlich ein Grabstein, der vieles zudeckt. München liegt nicht am Nabel der Welt, sondern ist eine Stadt irgendwo im Süden der Republik, eine imaginäre Stadt, die manchmal – ihr sympathischer Zug – mit provozierender Lebensfreude von der ewigen Sehnsucht nach dem Land zu zehren scheint, wo die Zitronen blüh’n. Die Großstadt als Anziehungspunkt für die Provinz, als Schmelztiegel, wird zehn Jahre lang Spielort bleiben. Für diese zehn Jahre von 1960 bis 1970 braucht Reitz 26 Stunden Filmzeit gegenüber 15 für Heimat und elf in Heimat 3. Schon die Länge allein unterstreicht den Willen, den Begriff „Heimat“ neu zu setzen, neu zu füllen.

Auch Hermann Simon ist zunächst ein Weggeher, und es zeigt sich bald, dass er nicht die Ausnahme ist, sondern die Regel. Noch zu Hause in Schabbach fällt sein Blick in den Spiegel, er wird zurückgeworfen auf sich selbst; die alte Heimat, ihre schützende Symbolwelt ist zerbrochen, sie ist nur noch Provinz. Hermanns herausgeschleudertes „Nein!“, das zunächst mehr dem Liebesschmerz gilt, das Auflehnung ist gegen die verbotene Liebe zu Klärchen, ist der erste offen gewagte Widerspruch, es ist eine Kriegserklärung an „Heimat“. Hermann ist der erste, der auszieht, um Ich zu sagen.

Dabei taucht in der Erinnerung des Zuschauers noch einmal der sich in diesigem Grau verlierende Vater Hermanns, Otto Wohlleben, auf. Er nahm nicht Abschied, aber es war wie ein Abschiedsbild, das den Untergang eines Reichs, einer Epoche vorweg nahm. In Heimat kamen und gingen die Väter stillschweigend. Otto Wohlleben hinterließ seinem Sohn nicht einmal seinen vielversprechenden Namen. „Heimat“ ist da zu Ende, wo Reitz es wagt, von der vaterlosen Gesellschaft zu sprechen, wo nicht das Warten und die Hoffnung Familiengeschichte kitten. Der Verlust der Väter und der Vorbilder ist der gemeinsame Nenner, das, was das Generationsgefühl der „Gruppe“ ausmacht. „Vergessen wir die Väter. Wir haben uns selbst geboren. Wir sind Götter.“

Die Zweite Heimat ist die Geschichte einer Gruppe von Ähnlichen, eines Freundeskrei-ses von Musikern und Filmemachern, die zunächst wie ein Bohème-Völkchen zusammen leben, die im „Fuchsbau“, einer alten Münchner Villa unter der Schirmherrschaft der Mäzenin Fräulein Cerphal, noch einmal in eine andere, vergangene Zeit zurücktauchen. Hier triumphiert der bürgerliche Salon, eine Scheinwelt mit fragwürdigem Niveau. Der „Fuchsbau“, noch beredtes Zeichen der „unbewältigten Vergangenheit“, wird einen Ausverkauf erleben, ähnlich wie die Schabbacher Heimat. Darin ist Reitz sehr genau, er zeigt das Verschwinden der Vergangenheit, er zeigt, wie sich ein Schleier über die Geschichte legt.

Die Zweite Heimat heißt Heimatlosigkeit, das Scheitern der Gruppe und die Desillusionierung sind vorprogrammiert. Am Beispiel von etwa 14 Personen, Männern wie Frauen, verfolgt Reitz die Lebensläufe einer Generation, die nur alte Vorbilder kennen gelernt hat, die Familien gründet, obwohl sie deren Auflösung voraus ahnt, die an der Schwelle zu etwas Neuen steht, aber das Neue nur mit einem radikalen Bruch herbeiführen kann. Dieser Bruch wird nur mit der Lyrikerin Helga Aufschrey vollzogen, die sich in eine schonungslose Analytikerin verwandelt: „Es gibt einen Faschismus der Gefühle. Wir sprechen diese Wahrheit aus. Danach wird nichts mehr so sein wie zuvor.“

Hermanns melodramatisches „Nein!“ bleibt ein romantischer Protest und mündet in einen alten Geniebegriff, der für Musiker wie Filmemacher gilt. Reitz ist allzu verliebt in die Kunst, die hier mit ausführlichen Ausflügen in die neuere Musikgeschichte der Avantgarde zur eigentlichen „zweiten Heimat“ wird. Die Fragestellung „Kunst oder Leben“ beherrscht erst das letzte Filmkapitel; den Sinn des Lebens haben die jungen Künstler, darin ganz Wirtschaftswunderkinder, bisher hauptsächlich als Erfolg gedeutet.

Der Weg von den deutschen Geschichten zur deutschen Geschichte ist weit. Er verfängt sich immer wieder in Sackgassen. Reitz bemüht die Fremden, den chilenischen Emigranten Juan wie die in Venedig lebende jüdische Fotografin Esther, Tochter einer gemordeten Mutter, ausgebootete Verlagserbin, um über die deutsche Vergangenheit zu sprechen. Zu kurz kommen die rebellischen 68er, an ihnen stört den katholischen Reitz wohl das Abstrakt-Theoretische, der verordnete Hedonismus, die propagierte sexuelle Freiheit. „Die Krähen schreien. Wohl dem, der jetzt noch Heimat hat”, heißt die Gesangszeile, die das Kapitel „Kennedys Kinder” einleitet. Auch darin, dass sie das Nachtstück bevorzugt, in dem ein Nachklang von „Denk’ ich an Deutschland…” mitschwingt, geht Die Zweite Heimat immer wieder in Opposition zur Heimat. Die abschließende Aufführung von Clarissas „Hexenpassion” ist dann mehr als ein Tribut an die Frauenbewegung. Bisher waren es nur die Frauen, die bei Reitz Emanzipationsprozesse durchliefen, die sich die Freiheit nahmen, Entscheidungen zu verwerfen, die von der Möglichkeit der Revision der eigenen Geschichte Gebrauch machten.

Die dritte Heimat beginnt mit grobkörnigen Schwarz-weiß-Bildern in der geteilten Stadt Berlin, die, anders als München, das eindrucksvolle Panorama verweigert. Jetzt zählt weniger der Schau- als der Symbolwert, denn wir schreiben den 9. November 1989, und die bekannten Fernsehbilder vom Mauerfall übernehmen die Berichterstattung, in die sich das überraschende Wiedersehen des einstigen Liebespaars Hermann und Clarissa aus der Zweiten Heimat mischt. Jetzt kann Reitz endlich mit gutem Gewissen das „Heimweh“ ins Spiel bringen, das die Deutschen auf einen Schlag zum „glücklichsten Volk der Welt“ machte, wie der Berliner Bürgermeister Walter Momper im Vereinigungsrausch befand. Zur ersten Kapitelüberschrift von Heimat 3 ernannt, schlägt das geflügelte Wort vorerst einen leicht ironischen und damit neuen Tonfall in der _Heimat_-Trilogie an.

Ehe man sich’s versieht, schmieden Clarissa und Hermann Zukunftspläne. Schon sind sie gemeinsam auf dem Weg nach Westdeutschland. Mit dem Grenzübertritt stellen sich bereits die satten Primärfarben als Grundton der dritten Heimat ein und verändern auch das Erzählkolorit. „Schlafend trägt man mich in mein Heimatland“, singt diese Clarissa mit wachen Augen und legt den romantischen Grundstein für eine neue Heimat, die sie sich schon seit einiger Zeit in einem verfallenen Fachwerkhaus, dem sogenannten Günderrode-Haus – direkt gegenüber der Loreley und zufällig ganz in der Nähe von Schabbach gelegen – vorstellen kann. Aber dafür mussten sich die beiden international anerkannten Künstler, die Sängerin Clarissa Lichtblau und der Dirigent Hermann Simon, erst wiederfinden. Beide der Kategorie der „Heimatlosen“ zugehörig, haben sie lange aus dem Koffer gelebt und sehnen sich nun nach einem Ruhepol und einer Heimstatt. Wiedersehen und Wiedervereinigung gehen also von vornherein eine Symbiose ein, die, so scheint es, auch auf eine neue Vorstellung von Heimat zielt.

Dem kurz vor der Lebensmitte stehenden Hermännsche mit dem silbergrauem Haar und dem schwarzen wallenden Künstlermantel fällt die Erzählerrolle zu. Schon deshalb muss er gegen seinen heiligen Schwur das nun so nahe gerückte heimatliche Schabbach erneut betreten und seine Brüder Anton und Ernst und die wenigen Überlebenden aus der ersten Serie wiedersehen. Aus der, wie er sagt, „absurden“ Heimat soll jetzt, wie Phönix aus der Asche, neues Glück erstehen. Fürs Grobe und für den Hausbau werden die fleißigen Helfer aus der Ex-DDR angeheuert, die Clarissa für zehn Mark Stundenlohn aus Leipzig mitgebracht hat. Da scheint sich endlich ein Kreis zu schließen, doch das große Wiedersehen auf allen Ebenen wird in den folgenden fünf Kapiteln durch Zwietracht, Tod, sogar durch den massiven Eingriff der Naturkräfte, wieder in Stücke gerissen. Erst jetzt schält sich unverkennbar heraus, dass Heimat 3 eigentlich der dritte Teil einer Tragödie ist. Auch Reitz’ Äußerungen, der Heimat 3 als „die Beschreibung eines Absturzes aus großen schwindelerregenden, euphorischen Höhen, als ein langsames Heruntertrudeln eines ganzen Volkes“ schildert, zielen in diese Richtung.

Heimat 3 hat den langen Zeitraum von elf Jahren Wiedervereinigung bis zum Millenium zur Verfügung, um endlich mit größerem Nachdruck zeigen, was die Zyklen Heimat und Die Zweite Heimat im epischen Erzählfluss untergehen ließen oder nicht zu Ende zu denken wagten. Jetzt löst Edgar Reitz endlich sein Versprechen ein und macht die Zeit-geschichte zum Motor des Geschehens. Jetzt drängeln auf einmal die historischen Ereignisse auf den Plan, die vormals vor den Individualgeschichten zurückstehen mussten. Jetzt spielen Mauerfall und Mauerspecht, die Völkerbewegung von Ost nach West, die DDR-Altlasten, die Protest-Aktionen der Friedensbewegung im militärischen Sperr- und Pershing-Stationierungsgebiet rund um Schabbach ihre geschichtsträchtige Rolle. Hinzu kommt das Schicksal der Simon-Dynastie mit Tycoon Anton Simon an der Spitze, der sich mit dem in Schabbach gelegenen Stammsitz seiner Optik-Werke zum Hauptarbeitgeber der Region entwickelt hat.

In Schabbach schlagen die Uhren schon lange anders. Die einst verträumte Ortschaft ist längst zur Endstation für die Busse der Friedensdemonstranten geworden, die mit ihren Menschenketten über die sanften Hügel ziehen, während in den brach liegenden Simon-Gehöften hochdotierte Rennpferde gezüchtet werden. Nur Kneipenwirt Rudi und Außenseiter Ernst, Fliegernarr und ewiger Junggeselle, sind halbwegs noch die alten. Ernst hat seine ganz persönliche Beutekunst, den europaweit zusammengesammelten Bilderschatz, im „Nibelungenhort“ vergraben. Und wieder sind es die Fremden, die neu-en Bundesbürger, der 14-jährige Jugoslawen-Spross Matko, den sich Ernst als Erbe aussucht, und die in Scharen herbeiströmenden Aussiedler-Russen, die der ausgebluteten Heimat frische Nahrung zuführen und das Herz auf dem rechten Fleck haben, dort, wo beim zerstrittenen Simon-Clan nur die merkantile Fabrikantenseele schlägt.

Die eigentliche Überraschung von Heimat 3 liegt darin, dass Reitz seine verzweigten Ausflüge in die einzelnen Lebensgeschichten und in die alten und neuen Länder dann doch auf einen Kern zurückführt, und der heißt zuletzt: „Familie“. Die Familienbande der Simons sind zwar längst durch Tode, Erbstreitigkeiten und Firmenniedergang durchtrennt, auch sind die einzelnen Familienmitglieder zuletzt in der ganzen Republik verstreut. Nur Hermann hat nach Irrungen und Wirrungen wieder zu Clarissa, aber auch zu Tochter Lulu und zu seinem Enkel zurückgefunden – neun Personen und drei Generationen wohnen zuletzt im alten Fachwerkhaus mit dem Loreley-Blick. Nur die einstige Wiedervereinigungseuphorie ist auf der Leinwand wie in der Wirklichkeit längst verpufft. Lang, lang ist’s her, seit der Leipziger Gunnar auf der Zugspitze „Deutschland, du mein Vaterland, du mein Heimatland“ gesungen hatte – da war gerade „das glücklichste Volk der Welt“ geboren. Da schmolzen Begriffe wie Heimat und Vaterland gemeinsam auf der Zunge, während die Familien zerbrachen und sich neu sortierten: eins West, eins Ost.

Wenn Clarissa dann bei ihrem letzten Auftritt beim Milleniums-Sylvester “Maybe this time I win” singt, wird der Blick in eine neue Zukunft gelenkt, die jedoch überraschend mit alten, bislang verworfenen Werten gefüllt wird. Denn plötzlich wird in Wort und Bild der Familie, die alles überdauern wird, das Wort geredet. Zuletzt gewinnt doch wieder der Satz aus den Fontaneschen „Wanderungen durch die Mark Brandenburg“, dass erst die Fremde uns lehre, was wir an der Heimat besitzen, wieder an Terrain. Der Heimatbegriff hat lange das Bodenständige, Ideologische hinter sich gelassen, hört sich gelegentlich etwas patriotisch an, meint aber kein Land, keinen Ort, ist vielleicht, wie Herbert Grönemeyer singt, nur ein Gefühl.

Edgar Reitz verabschiedet sich in Heimat 3 mit dem Glauben an die Familie als der kleinsten und doch sichersten Überlebensgarantie, wo man auf den Bruder, auf Nähe, Verständnis und Menschlichkeit zählen könne. Da trifft er sich mit der überwältigenden Mehrheit der Deutschen, die genau dort Heimat ansiedeln, in der näheren Umgebung, in der Familie, im Freundeskreis. Die Heimat, sagt Reitz, sei für ihn heute ein Ort und ein Ding, das sich gegen die Globalisierungsideologie stelle. „Es gibt einfach Dinge, die sind nicht globalisierbar, und Heimat insbesondere ist es nicht. Deswegen halte ich an dem Begriff im Moment fest.“
 
 

Der Beitrag erschien zuerst im „Lexikon des Internationalen Films“ 2005.

Letzte Änderung: 14.11.2022  |  Erstellt am: 14.11.2022

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