Lucian Freud – Malerei ohne Feigenblatt

Lucian Freud – Malerei ohne Feigenblatt

Faust-Gespräch mit Rotraut De Clerck
Selbstportrait Lucian Freud, 1985

Der bedeutende britische Maler Lucian Freud starb 2011 im Alter von 88 Jahren in seinem Londoner Atelier. Die Familie des 1922 in Berlin geborenen Enkels von Sigmund Freud emigrierte 1933 vor den Nationalsozialisten nach London, 1939 wurde er britischer Staatsbürger. Von Kritikern wird Lucian Freud als einer der „größten realistischen Maler der Gegenwart“ gefeiert, seine Gemälde erzielten schon zu Lebzeiten Höchstpreise. Das war aber nicht immer so. Seine Aktgemälde wurden bis in die 1970er Jahre als pornografisch gebrandmarkt und werden bis heute von einigen Betrachtern als abstoßend, zudringlich oder gar hässlich empfunden. Lucian Freud hat immer jede Verbindung seines Werkes mit dem seines Großvaters Sigmund Freud abgestritten. Die Frankfurter Psychoanalytikerin Rotraut De Clerck, die sich seit über zwanzig Jahren mit dem Werk des Künstlers auseinandersetzt, sieht jedoch durchaus eine Parallele zwischen dem „rücksichtslosen Zu-Leibe-Rücken“, mit dem sich Lucian Freud den Körpern seiner Modelle nähert, und der Intensität, mit der sich Sigmund Freud dem seelischen Leid seiner Patienten gewidmet hat.

Sie haben sich aus psychoanalytischer Sicht intensiv mit dem Werk von Lucian Freud beschäftigt. Wann kamen Sie das erste Mal mit der Kunst des Sigmund-Freud-Enkels in Berührung?

Die ersten Bilder, die ich von Lucian Freud gesehen habe, mochte ich nicht sonderlich (siehe Abb.1 und 3). Das war bei einer Ausstellung in London 1985/86. Ich schätzte damals die gegenständliche Malerei nicht, mich zog es zum deutschen Expressionismus und zur Abstraktion. Dennoch fand ich faszinierend, dass es jemand wagte, so unbeirrt gegen den Strom der Zeit zu schwimmen.

Während eines eineinhalbjährigen London-Aufenthalts erfuhr ich dann, dass der Enkel von Sigmund Freud als Maler in London lebt. Ich fand bemerkenswert, dass es überhaupt einen Maler in der Freud-Familie gab und begann, mich mit dem Werk des Künstlers zu beschäftigen. Trotz der örtlichen Nähe war es mir zu dieser Zeit nicht möglich, mit Lucian Freud direkt Kontakt aufzunehmen. Er gab kaum Interviews und galt wegen seines Lebensstils auch im Kollegenkreis als „Persona non grata“. Es hieß, er habe ein wildes Sexualleben und viele Kinder aus unterschiedlichen Beziehungen. Die Psychoanalyse an sich kann natürlich nicht wirklich prüde sein, aber es gibt eben doch einen Unterschied zwischen dem, womit sich Psychoanalytiker beschäftigen und dem, womit sie sich gesellschaftlich dann in Beziehung setzen.

Wann hat sich die Wertschätzung für Lucian Freud weiter vertieft?

In Frankfurt gab es 2002 im Museum für Moderne Kunst kuratiert von Rolf Lauter eine Ausstellung mit Lucian Freuds „Naked Portraits“ (Abb. 5–8). Es ergab sich, dass meine Tochter dort in dieser Zeit ein Praktikum absolvierte und in die Arbeiten für die Ausstellung und den Katalog stark einbezogen wurde. Lucian Freud trat so in neuer Weise auch in mein Leben. Bei der Betrachtung der Bilder hatte ich diesmal das deutliche Gefühl, dass zwischen Lucian Freuds Porträts und Sigmund Freud eine Beziehung besteht. Ich spürte, dass in der Art, Personen in allen Aspekten ihrer Persönlichkeit darzustellen, eine Verbindung zu den freudschen Fallgeschichten existiert. Diese Fallgeschichten lesen sich teilweise selbst wie Novellen, scheinen also eher dem kulturellen, als dem naturwissenschaftlichen Bereich zu entstammen.

Dies also war der Moment, der mich zur Beschäftigung mit Lucian Freud zurückführte. Es gab ein Gefühl von Vertrautheit, dass da jemand ist, der einen durchlässigen Zugang zum Unbewussten hat. Ich empfand, dass das keine glatte Malerei ist, auch keine Kunst über Kunst, sondern Kunst über Menschen.

Wie erschließen sich die Arbeiten von Lucian Freud aus psychoanalytischer Perspektive?

Lucian Freuds Bilder lassen sich erst auf den zweiten oder dritten Blick erschließen. Oberflächlich gesehen könnte man das Werk leicht als konventionelle Malerei abtun. Es gibt jedoch eine psychoanalytische Art, sich etwas zu erschließen, die mich bei der Betrachtung von Lucian Freuds Bildern unterstützt hat. Man kann sagen, dass man als Psychoanalytiker eine besondere Kompetenz mitbringt, einen gewissen Hintergrund in der Schulung des Sehens und in der Schulung des Zusammenführens von Gesehenem. Das lässt sich gut für die Interpretation von Kunst nutzbar machen. Es wird gesagt, dass wir Experten des Unbewussten sind und Experten darin, die latenten Strukturen in äußeren Erscheinungsformen zu entdecken. Die Situation ist ähnlich wie bei einem Patienten. Man steht vor etwas, das man nicht kennt, dass einem ein Stück verschlossen und rätselhaft ist. Dann versucht man, sich über eine Kombination aus Professionalität, die wir gelernt haben, und Offenheit einen Zugang zu verschaffen – man muss die Übertragung und die eigene Gegenübertragung berücksichtigen und all das in der Gesamtbetrachtung zusammenführen.

Hatten die Bilder für Sie auch etwas Schockierendes?

Ich war nicht wirklich schockiert, aber durch die Überlebensgröße der Bilder entsteht eine Irritation, ein Gefühl, dass man sich von diesem erdrückenden Fleisch wieder freischaufeln muss. Eine Kollegin meinte, diese überlebensgroßen Fleischbilder wären wie die Perspektive eines kleinen Jungen gegenüber dem Körper der Mutter, diese Bemerkung fand ich interessant.

Noch 1992 durfte ein Ausstellungsplakat mit einem Motiv aus Freuds Naked-Porträts-Serie in den USA nicht gehängt werden, weil der Vorwurf der Pornographie erhoben wurde. Was ist der Unterschied zwischen Sex und Sexualität? Warum sind die Bilder Lucian Freuds nicht pornographisch oder obszön?

Pornographische Bilder sind rätsellose Bilder, welche die Krisen, die mit der Sexualität verbunden sind, wie Angst, Verlusterfahrungen und Ambivalenzen, gar nicht in sich aufnehmen können. Sigmund Freud hat uns bewusst gemacht, dass es eine in der Kindheit angelegte, sehr individuelle Sexualität gibt, die sich über Entwicklungskrisen hinweg bis in die mittleren Jahre und bis ins Alter hinein immer wieder neu formt. In der Sexualität gibt es also eine Zeitperspektive, sie ist nicht etwas einmal Gegebenes, sondern „work in progress“, sie wird immer wieder hergestellt, in ihr sind Körperliches und Seelisches einzigartig eng verbunden.

Zu dieser von Sigmund Freud formulierten Zeitperspektive der Sexualität findet sich, denke ich, eine Parallele in Lucian Freuds Bildern. Auch in seinen Werken ist Sexualität etwas, was sich über Krisen, Alterungsprozesse und Verluste hinweg immer wieder neu formt, das ist etwas ganz anderes als Sex oder Pornographie. Pornographische Bilder können nicht helfen, Konflikte zu lösen. Dieser Aspekt trägt auch zu der süchtig machenden Funktion dieser Bilder bei, sie können nichts lösen und müssen daher rein für die Stimulation und Abfuhr immer wieder neu aufgesucht werden.

Welche Bedeutung hat die Nacktheit des Körpers in Freuds Porträts?

Für Analytiker gehören alle Partien des Körpers zum Menschen, sie bilden einen Gesamtkosmos. Für den Psychoanalytiker gehören auch die Genitalien ganz selbstverständlich zu diesem Kosmos dazu, sie sind niemals nur mit einer physiologischen, sondern immer auch mit einer psychischen Tätigkeit verbunden. Bilder, die in den Genitalien auch das Seelische verkörpern, können von uns nie als Pornographie angesehen werden. Ein solches Beispiel ist von Lucian Freud das Werk „Man posing“ von 1985 (Abb. 4).

Dies ist ein Bild, das alles offenlegt, aber ich könnte es nie als pornographisch ansehen, denn Lucian Freud ist kein Voyeur, dessen Darstellungen auf sexuelle Erregung angelegt sind. Er zeigt einerseits alle Körperteile, die zum Körper dazugehören und andererseits einen Seelenzustand, der mich zum Beispiel sehr berührt. Wie man das Bild interpretiert, mag jeweils verschieden sein, der eine sieht mehr Depressivität, der andere sieht den Zustand nach dem Koitus, eine Ruhe, ein Hingegossensein, auf jeden Fall aber eine Selbstverständlichkeit, sich so zu zeigen, wie wir eben nun einmal aussehen und sind.

Lucian Freud wurde auch als ein „vom Fleisch besessener“ Maler bezeichnet. Wie bewerten Sie diese Zuordnung?

Vom Fleisch besessen finde ich sehr übertrieben. Ich meine, es hat ihn vielmehr fasziniert, wie sich Fleisch umgeben von Haut malerisch darstellen lässt. Lucian Freud ging es vor allem um die Erkenntnis, wie der Menschen aussieht: eben nicht glatt und normiert. Er hat gezeigt, jeder ist anders, er hat das Individuelle festgehalten – den Menschen in der Haut, die er ganz speziell hat, mit den Genitalien, die er ganz speziell hat.

Man könnte darin auch einen kritischen Impuls gegen Erscheinungen unserer Gesellschaft sehen. In unserer Zeit, in der die glatten Gesichter, die glatte Haut, das Stereotype und die Massenphänomene so stark verbreitet und damit kulturell bestimmend sind, tritt Lucian Freud als ein Gegenpol auf und konfrontiert uns mit seinen realistischen Bildern. Ich habe ihn zwar so gedeutet, weiß aber nicht, ob das seine eigene Intention gewesen ist. Jeder einzelne ist anders, jeder ist ein Kosmos in diesem spezifischen Sosein, das ist eine Erkenntnis, die natürlich auch das ganz Werk von Sigmund Freud durchzieht.

Ist es auch der schonungslose, nach Erkenntnis suchende Blick des Forschers auf sein Gegenüber, der Großvater und Enkel verbindet?

Ja, das ist eine weitere Parallele, die ich zwischen Sigmund Freud und Lucian Freud aufgefunden habe.

Sigmund Freud hat sich ja als Naturwissenschaftler verstanden, aber auch Lucian Freud hat einmal gesagt, ich bin Biologe. Dass er aber über diesen genauen Forscherblick gerade dazu kommt, das Eigene und Eigenartige zu sehen und festzuhalten, das ist eine Parallele, die ich bei beiden sehe – der „kalte“ Forscherblick und das Ergebnis ist doch so menschlich.

Gibt es auch eine Verbindung zu der Kunsttradition dieser Zeit in Wien?

Man kann in einem Maler immer alle möglichen Einflüsse sehen. Bei Lucian Freud wird aus englischer Perspektive eine Verbindung zu John Constable hergestellt. Aber seine Art, mit der Sexualität umzugehen, erinnert schon sehr an das Werk von Egon Schiele und an die Zeit um 1900 in Wien, als es darum ging, das nackte Individuum zu ergründen und die Verkleidungen der k.u.k. Monarchie abzulegen. Diese Unbedingtheit, mit der das Wesen ohne jedes Feigenblatt erforscht wird, führt auch zu den Zeichnungen von Gustav Klimt.

Sehen Sie eine künstlerische Nähe zwischen Lucian Freud und seinem Londoner Malerkollegen Francis Bacon?

Ich bin ja kein Kunstexperte und will das auch überhaupt nicht sein, ich sehe nur ein paar entscheidende Unterschiede. Bei Lucian Freud gibt es nie geöffnete Körper, die Haut bleibt immer als Hülle intakt, und das ist bei Francis Bacon vollkommen anders. Bei Bacon sehen wir auch eine Sexualisierung der Gewalt, also eine Verbindung von Sexualität und Brutalität. Trotz seines zudringlichen Blicks ist Lucian Freud ein sanfter Maler. Bei ihm ist die Verbindung eher die zwischen Sexualität und Trauer, die Auseinandersetzung mit Lust und Vergänglichkeit. Das macht die besondere Spannung bei Lucian Freud aus, daher sind seine Bilder – und das wäre wiederrum eine Parallele zu Bacon – nicht leicht konsumierbar.

Letzte Änderung: 14.10.2022  |  Erstellt am: 14.10.2022

Lucian Freud: Big Sue Tilley, 1995
Lucian Freud: Woman Holding her Thumb, 1992
Lucian Freud: Girl with a White Dog, 1951/52
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