Zukunft zwischen Plüsch und Brause

Zukunft zwischen Plüsch und Brause

Ausstellung „Tip of Tongue“ in Bangkok
Circle of Friends | © die Künstler*innen und Napat Pattrayanond

Die Utopie kann als Nicht-Ort begriffen werden, nach dem wir uns alle halb furchtsam, halb erwartungsvoll sehnen; ein vager Horizont mehr als eine benennbare Destination – doch darum nicht weniger sinnlich zu spürendes Phänomen. Die Künstler*innen der Ausstellung Tip of Tongue in Bangkok haben das Utopische auf den Schauplatz der Spitze unserer Zunge verlegt: direkt in unsere Körper und doch immer noch nicht ganz greifbar. Ellen Wagner hat sich die Ausstellung aus 10.991 Kilometern Entfernung auf dem Bildschirm angesehen.

„Tip of the Tongue“. Unchalee Anantawat, Lars Karl Becker, Daniela Kneip Velescu 2. Dezember – 15. Januar, Shophouse 1527, Bangkok

Körperlich eingesackt, aber im Kopf voll da, tiefenentspannt hängt der lila Wurm über dem Barhocker. Es ist früh am Freitagabend, doch er hat sich bereits drei Limos genehmigt. Irgendwer hat ihm, unbemerkt, ein Video untergeschoben, das nun vor seinem inneren Auge – der Wurm hat selbstverständlich kein Sehorgan – flimmert. Obgleich ohne äußere Sinneswahrnehmung, wendet sich der Wurm wie hypnotisiert dem Bildschirm zu. Die subversive Normalität des Untergrunds gewohnt, beginnt er langsam, über das Sitzen und Schweben, das Festsitzen im Hier und Jetzt das Abheben über den Abgrund des Ungewissen zu meditieren. Vielleicht mag ein Wurm nicht die primäre Zielgruppe eines Roadmovies sein. Ein experimentelles Publikum sehr wohl, eines, das fühlen muss, wo es nicht sehen und nicht hören kann.

Die Arbeit From Breakfast to Breakup (trailer), die 2022 entstand und noch bis Mitte Januar im Shophouse 1527 Bangkok zu sehen war, ist auf kompakte Zehnminuten-Kürze getrimmt. Dennoch ist sie viel zu lang für einen Trailer, der sie vorgibt zu sein. Auf wiederholten Spannungskurven ins Nichts manövrierend, erzählt sie, wie ein junges Paar (Daniela Kneip Velescu und Lars Karl Becker) mit dem PKW aufbricht, um diverse Raststätten und (post-)sozialistische Monumente auf dem Weg in Kneip Velescus Geburtsland Rumänien zu erkunden. Der Sound wummert ahnungsvoll durch die ausbleibende Handlung, die sich doch so dynamisch ankündigt, dass man gern mitfahren würde, in den nächsten Tunnel hinein, durch ihn, durch bloß etwas hindurch, egal was.

Im Video, so erzählen Lars Karl Becker und Daniela Kneip Velescu, gehe es um die Frage, was Europa, insbesondere Osteuropa, aus Sicht einer (West-)Europäer*in eigentlich sein soll. Wenn uns selbst ein Verständnis dafür fehlt, in welchen Nachbarschaften wir uns befinden, wie können wir uns dann jetzt und künftig überhaupt in der Welt bewegen? Die Dramaturgie wird zur Abfolge von Gebäuden, die von den Protagonist*innen betreten oder verlassen werden; zum Aufblitzen (un-)möglicher Räume, die nur in der Erinnerung und Imagination existieren.

Genau dieses Aufblitzen gab das Leitmotiv der gemeinsamen Ausstellung von Daniela Kneip Velescu, Lars Karl Becker und Unchalee Anantawat. Ein lichtdurchflutetes Obergeschoss, bespielt mit minimalistisch anmutenden Skulpturen aus Glas, Papier und PVC; darüber zermalmt ein hechelnder Ventilator die staubige Hitze. Im Erdgeschoss klimatisierter Cafébetrieb, das gedimmte Licht taucht alles in zarte Schatten. Tip of the Tongue, die Spitze der Zunge, ist Spielort für all das, was kurz bevorsteht und doch für den Moment unerreichbar ist: Auf der Zungenspitze liegt uns, was wir, direkt vor uns, doch nicht greifen, schmecken, riechen können. Etwas, das wir zu wollen, bereits zu berühren scheinen, ohne es klar benennen zu können. Gibt es eine leichtfüßigere Umschreibung für eine Auseinandersetzung mit der Melancholie des Utopischen als diese, die zerprickelt wie Brausepulver am bereits wunden, unersättlichen Gaumen?

Bitter, sauer, salzig, süß schmeckt vieles, was wir uns wünschen und doch nicht bekommen; was uns vorgesetzt wird, ohne dass wir das Gericht bestellt hätten. Daniela Kneip Velescus Objekte Taste buds (sweet, salty, sour and bitter) setzen ihre Leere, die zugleich Geräumigkeit ist, in Szene. Die Pillenkapseln standen auf dem Boden des Obergeschosses im Shophouse auf Sockeln aus Pappmaché, geformt durch das Platzen eines Modellierballons in ihrem Innern – einer langen dünnen Wurst, wie sie auf Kinderpartys zu Hunden oder Schwänen geknotet wird. Die kollabierte Form wurde zur Stütze einer anderen, um diese gerade so noch in Balance zu halten.

Circle of Friends | © Foto: die Künstler*innen und Napat Pattrayanond

Über den leeren Pillen grinsten Clownsgesichter (Lars Karl Becker & Daniela Kneip Velescu Circle of Friends, 2022). In behandschuhten Händen halten sie rote Nasen, die sie taschenspielerartig präsentieren und verschwinden lassen. Die Figuren erinnern an anonyme Werbespaßmacher. Allerdings scheint ihnen ihr aussagekräftiges Markenprodukt abhanden gekommen zu sein – weshalb sie nun munter kostümierte Sinnesorgane wie Bonbons anzupreisen scheinen.

Dieser stummen Darbietung standen im Erdgeschoss zwei Videos gegenüber, in denen ziemlich viel geredet wird. Neben dem zu Beginn erwähnten Trailer empfing Lars Karls Beckers Good news, comrades! (2021) unter der Treppe mit einer doppelten Fortschrittserzählung: Die Ausdehnung des Universums zu immer größeren eisigen Weiten, in denen die Erde als Eintagsfliege keine Rolle spielt – geschweige denn das Streben der Menschen, die auf ihr leben –, wird mit Bildern aus Pasolinis Avantgardefilm Teorema von 1968 durchsetzt und einer Soundspur inklusive Geisterbahnfahrt gegenübergestellt, in der ein Mädchen vom Alltag in der Baumwollfabrik zu Zeiten der frühen Industrialisierung erzählt. Die überfordernde Gleichzeitigkeit der Erzählstränge einer physikalischen bzw. sozialen Entwicklung – weniger durch Konkurrenz als durch Gleichgültigkeit füreinander gekennzeichnet – zwingt geradezu, sich zu entscheiden: Welcher Spur folgen wir, mit Augen und mit Ohren? An welche Geschichte glauben wir, welche ist letztlich für unser Leben relevant?

Alle Arbeiten der Ausstellung kultivierten eine Art statisches Verharren oder wechselseitiges Blockieren widerstrebender Dynamiken, selbst noch im demonstrativen Verweis auf den Aufbruch, das Ankündigen einer (Aus-)Wirkung, eines Abenteuers. Was bedeutet dies dramaturgisch für das übergreifende Thema zwischen Fülle und Leere, Versprechen und Enttäuschung? Was kann dieser Zwischenraum noch bieten? Hat Frustration wirklich eine zweite Ebene, jenseits neoliberaler Durchhalteparolen?

Besonders haptisch wurde die Ambivalenz zwischen dem Sehnen nach und Konsumieren von Zukünften in den Arbeiten von Unchalee Anantawat, die eine Soft Sculpture – den Wurm vor dem Bildschirm zu Beginn unseres Rundgangs – und eine Airbrush-Malerei präsentierte. Die luftig-knautschig-körperlichen Stofflichkeiten erzeugen verschiedene Unschärfegrade. Ein Atompilz über der Blumenwiese mit überdimensioniertem Schmetterling wirkt, mit sinnbildlich ausreichender Kurzsichtigkeit betrachtet, wenig problematisch – What a beautiful day! (2022), wenn alles glitzert, prickelt für den Moment. Am Morgen danach folgt der Kater. Anantawats Plüschwurm mit dem Namen lonely Tylenol (2022) scheint das ihm titelgebende Schmerzmittel bereits zu einem anhaltenden Gefühl der Linderung verstoffwechselt zu haben.

lonely Tylenol | © Foto: die Künstler*innen und Napat Pattrayanond

Auch ich habe die ergonomische Haltung aufgegeben, krieche in den Bildschirm hinein, klicke mich durch die Installation Views aus dem Shophouse 1527. Die Ausstellung wurde mir per Download-Link auf den Rechner geliefert. Ohne räumliche Orientierung grabe ich mich durch die Etagen, verwechsle ständig, was oben und was unten ist. Vielleicht liegt es am übermäßigen Limokonsum. Vielleicht auch daran, dass ich visuell eingearbeitet, überarbeitet bin.

Vielleicht erstreckt sich der Zwischenraum, der die Utopien und Dystopien vom Jetzt trennt und sie zugleich mit uns verbindet, in der Spanne zwischen unserer Sprachlosigkeit und dem mühevollen Versuch, zu kommunizieren, sich verständlich zu machen, aufmerksam, berührbar zu sein. Die Ausstellung Tip of the Tongue weist in diese Richtung, wenn sie einerseits slapstick-stummes Fröhlichsein und glasklare Wirkungslosigkeit zeigt, andererseits in ernster Komik und Hartnäckigkeit betriebene Versuche, bestimmte Räume, Umräume, zu verstehen und zu beschreiben: Das Roadmovie ist geprägt von gebrochenen Sprachanläufen auf Rumänisch, um den liegengebliebenen Wagen wieder ins Rollen zu bringen; der Plüschwurm kann nichts sehen und hören und ist doch so vor dem Bildschirm positioniert, dass er als Verkörperung einer Anstrengung lesbar wird, sich an ein ihm Unverständliches heranzutasten.

Vermutlich braucht es die Reflexion und das Experiment über leere Gesten, um sich den eigenen Standort, Standpunkt im ewigen Sich-Annähern an geographische oder temporale Ziele und Anliegen bewusst zu machen – sich bewusster zu machen, welche Distanzen wir überbrücken, wenn wir unterschiedliche Sprachen mit der Stimme und dem Körper sprechen. Tip of the Tongue war eine Ausstellung über das Anlaufnehmen, mit den Beinen und im Kopf. Nicht immer sehen wir jedes Detail klar, schmecken jede Nuance aus dem improvisiert Zubereiteten heraus, müssen darum ins Verschwommene starten. Das Utopische ist Konjunktiv der Gegenwart. Es ist kein Ort, sondern eher dem Motor einer nicht mehr ganz neuen Karre vergleichbar, der durch die magischen Hände unzähliger Mechaniker*innen wandert und gegen jede Vermutung meistens doch immer wieder anspringt.

lonely Tylenol | © Foto: die Künstler*innen und Napat Pattrayanond

 
 
The Shophouse 1527; https://maps.app.goo.gl/oBeBaLWAYK9R1Hmi6
Die Ausstellung wurde ermöglicht von Sathit Sattarasart und gefördert durch die Senatsverwaltung für Kultur und Europa, Berlin.

Letzte Änderung: 28.01.2023  |  Erstellt am: 28.01.2023

Unchalee Anantawat (*1982) ist Mitbegründerin der Plattform Speedy Grandma, die über ihre Rolle als Ausstellungsraum hinaus ein wichtiges Drehkreuz für Bangkoks unangepasste zeitgenössische Künstler*innen ist. Hier hat sie 2018 die Bangkok Biennial ins Leben gerufen: ein internationales Kunstereignis, das von der Kunstszene Bangkoks im Open Source Verfahren organisiert wurde. Anantawats Arbeiten kommen oft überraschend leichtfüßig daher – nehmen sich aber auf den zweiten Blick ernster Sujets an.
https://xspace.gallery/artistview?i_uid=p8j93tfzi3rg

Lars Karl Becker (*1984) versucht sich an der Konstruktion prekärer Dimensionstore zwischen Kunst und Leben. Zunächst war er DJ und Soziologiestudent. Das Veranstalten von gegenkulturellen Techno-Partys in besetzten Uni-Gebäuden bot aber nicht genügend Reibungsfläche. So begann er sich über Musik und Performances am Feld der Kunst abzuarbeiten. Heute ist er selbst Künstler und betreibt nebenher den Ausstellungsraum TheTip in Frankfurt a.M.
https://larskarlbecker.com

Daniela Kneip Velescu (*1982) erzählt schelmisch komplexe Geschichten der An- und Abwesenheit menschlicher Körper, sozialer Beziehungen und Moral im Spätkapitalismus. Geschickt lässt sie oftmals Dokumentation und Werk ins eins fallen und somit bewusst das Versteckspiel mit der oft noch gesuchten klassisch-modernen Künstler*innenfigur ins Leere laufen. Hier entsteht Raum, welchen sie geschickt mit Autofiktionen zu füllen weiß.
https://kneipvelescu.de

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