„Wir sind noch da“
In der Reihe REGINAS GÄSTE begrüßt die Gastgeberin Regina Heidecke diesmal die Autorin, Filmemacherin und Menschenrechtsaktivistin Nahid Shahalimi. Sie spricht über mutige Frauen in Afghanistan.
Ihren eigenen Worten nach wurde Nahid Shahalimi in das „Goldene Zeitalter“ von Afghanistan hineingeboren, und damit meint sie die kurze Spanne der 1960er- und 1970er-Jahre, die vor allem für viele Frauen des Landes einen Aufbruch in die Freiheit bedeuteten. Shahalimi stammt aus einer der angesehensten Familien des Landes, ihr Vater war Minister, Botschafter und Gouverneur, zwölf Jahre ihres Lebens genoss sie ein Leben in unbeschwerter, großbürgerlicher Atmosphäre. Doch dieser Zustand endete jäh mit dem Tod des Vaters, der unter mysteriösen Umständen, nach einer Operation durch russische Ärzte, verstarb. Ihre noch sehr junge Mutter floh mit ihren vier Kindern, zunächst nach Pakistan und dann weiter nach Kanada, wo Nahid Shahalimi Kunst und Politik sowie Südostasienwissenschaften mit dem Schwerpunkt Menschenrechte studierte. Im Jahr 2000 kam sie − der Liebe wegen − nach Deutschland und lebt seitdem mit ihren beiden Töchtern in München.
Tatsächlich ist und bleibt Afghanistan ihr Dreh- und Angelpunkt, so erschienen neben Filmarbeiten zwei Bücher, die sie den mutigen Frauen von Afghanistan gewidmet hat. In ihrem ersten Buch „Wo Mut die Seele trägt“ porträtiert sie 20 Afghaninnen, mit ganz unterschiedlichen Berufen: von der Unternehmerin, Dirigentin, Sportlerin, Generalin bis zur Modeschöpferin, Pilotin, Graffiti-Künstlerin, Kinderaktivistin oder Kommandantin, um nur einige zu nennen. Shahalimi ging es bei ihren aufwendigen Recherchen und Interviews, die teilweise unter gefährlichen Umständen zustande kamen, um den Mut und die Energie von Frauen in einem Land, das nicht selbstverständlich alle Bildungswege und Berufswünsche für Frauen offenhält. Nach der Befrei- ung von den Taliban im Jahr 2001 hat die internationale Gemeinschaft sehr viel Geld speziell in die Ausbildung von Frauen investiert und man konnte die Ergebnisse und Veränderungen für Frauen mit Händen greifen. Doch was ist heute, nachdem am 15. August 2021 erneut das puritanische Regime der Taliban in einer Blitzaktion das Land übernommen hat, die USA und Nato Hals über Kopf das Land verlassen mussten?
Alle Ziele und Positionen, die das Land bis dahin erreicht hatte, wurden in Frage gestellt und mit einem Schlag hinweggefegt. Das Frauenministerium wurde nur ein paar Wochen später geschlossen zugunsten des Ministeriums für „Gebet und Führung und die Förderung von Tugenden und Verhinderung von Lastern“. Was für ein tiefer Fall, was für eine Demütigung. Aber Nahid Shahalimi hat einen weiteren Band mit Geschichten von Frauen herausgebracht, der zeigen soll „Wir sind noch da“ − so auch der Titel des Buches, das eine große Aufmerksamkeit erfährt und inzwischen im Suhrkamp Verlag präsentiert wird.
Krieg, Zerstörung, Angst, Korruption und Besatzung haben die Menschen in Afghanistan fast ein halbes Jahrhundert geprägt. Und doch haben gerade Frauen in den vergangenen 20 Jahren ihre Visionen auf beeindruckende Weise entwickeln können − davon hat Shahalimi in ihrem ersten Buch berichtet. Das ist heute unmöglich geworden, der Rückschritt ist greifbar und erschütternd für die Menschen in Afghanistan und drückt sich am ehesten in der Unsichtbarkeit von Frauen aus. Wir wissen in diesen Tagen, wie schnell alte Gewissheiten und Sicherheiten zerstört werden können, wir erfahren aber auch, welchen Mut, welchen Widerstand Menschen aufbringen können, wenn es um die eigene Existenz und um die Heimat geht.
Auch wenn die Autorin den größten Teil ihres Lebens inzwischen im Ausland verbringt, so hängt sie mit ganzem Herzen an Afghanistan, jetzt umso mehr.
Regina Heidecke
… hat in Frankfurt Soziologie, Germanistik und Philosophie studiert und war seit 1978 Redakteurin der Kulturredaktion beim Hessischen Rundfunk, von 2001 bis 2014 Schlussredakteurin der Sendung Kulturzeit bei 3sat. Als Filmemacherin realisierte sie für den Hessischen Rundfunk, arte und 3sat Feature und Porträts in den Bereichen Theater, Tanz und Ballett, aber auch Magazinbeiträge zu gesellschaftlichen und politischen Themen, sowie Reisefilme. Daneben war sie viele Jahre als Ballettkritikerin für HR2 tätig. Als Redakteurin bei Kulturzeit hat sie sich vermehrt den Themen Politik, Bildung, kritischer Journalismus, sowie Fragestellungen zum Islam und dem Nahen Osten zugewendet.
Ganz besonders am Herzen lag ihr die Ausbildung und Betreuung von jungen Journalisten und Filmemachern aus Ländern wie dem Irak, Tunesien, Pakistan, Afghanistan in Kooperation mit ifa, dem Institut für Auslandsbeziehungen. In Workshops hat sie mit dem Goethe-Institut in Syrien, mit dem IWPR (Institute for War and Peace Reporting) im Nordirak, sowie mit dem SES (Senior Expert Service) in Indonesien zusammengearbeitet.
Seit 2015 ist Regina Heidecke freie Journalistin.
Letzte Änderung: 22.03.2022 | Erstellt am: 22.03.2022
Reginas Gäste
Regina Heidecke im Gespräch mit Nahid Shahalimi
10. April 2022, 17 Uhr
Neue Stadthalle Langen
Südliche Ringstrasse 77
63225 Langen
Eintritt: 9,80 Euro
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