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Lutz Driessen in Köln

In den vergangenen Jahren hat der Kölner Künstler Lutz Driessen (Jahrgang 1976) einen Gemäldezyklus geschaffen, der den Obertitel "Die Kranken" trägt. Der Titel geht auf ein eindringliches Motiv zurück, das Matthias Grünewald auf dem dritten Wandelbild des "Isenheimer Altars" darstellte.

Auf dem (ursprünglich) rechten Flügel des “Isenheimer Altars” sieht man in der linken Ecke von “Der heilige Antonius von Dämonen gepeinigt”, weit unten, eine Figur mit Schwimmhäuten und einem geschwollenen, pockennarbigen Bauch (der ‚Kapuzenmann mit Buchbeutel‘). Man nimmt an, dass diese deformierte Gestalt einen Mann verkörpert, der an einer Mutterkornvergiftung leidet – ein Zustand, der mit krampfartigen Symptomen (auch bekannt als Veitstanz) und schweren, intensiven Halluzinationen einhergeht. Er (oder ‚sie‘, wie Driessen und einige Wissenschaftler*innen vermuten, obwohl der Künstler es vorzieht, die Figur als androgyn zu deuten) wurde wahrscheinlich von den Mönchen im Hospital des Klosters Isenheim gepflegt, wo Grünewald seine Runden machte, um die Motive für sein Werk zu studieren.

Driessen vergleicht Grünewalds Figur mit einem zeitgenössischen Clochard, einem Obdachlosen. Warum hat er dieses Motiv gewählt? Was bedeutet es? Driessen bringt es auf den Punkt. „Als ich mit diesen Werken begann, fragte ich mich: Was ist gesund, was ist krank, worin liegt der Unterschied? Ich wollte existenziellen Fragen nachgehen, aber durch das Prisma der Kunst. Krankheit wird in Grünewalds Altarbild sowohl als körperlicher als auch als seelischer Zustand dargestellt: Der Mensch kämpft mit allerlei Monstern, die buchstäblich in seinen Körper hinein- oder aus ihm herauskriechen. Und noch ein Gedanke hat mich beschäftigt. In meinen Bildern stelle ich die ‚gesunde Abstraktion‘ der ‚kranken Figuration‘ gegenüber. Damit beziehe ich mich auf eine Kunstauffassung, die heute in bestimmten Kunstkreisen verbreitet ist. Aber die Kunstgeschichte hat uns in keiner Weise auf diese Gegenüberstellung vorbereitet! Das sagt etwas über darüber aus, wie pervertiert die Welt ist. Es fällt uns sehr schwer, das Kranke, Falsche und Neurotische an unserer Realität zu erkennen und damit umzugehen.“

Der Zyklus “Die Kranken” besteht aus ikonenhaften Grotesken und aufsteigenden Träumereien. Die Hauptgruppe der Werke ist in intensiven, satten Farben mit starken Kontrasten gehalten (gelb-braun-blau, rot-schwarz-gelb-weiß, grün-indigo-schwarz-orange-gelb-weiß). Die andere Gruppe ist in schwarz-weiß ausgeführt. Das gemeinsame Motiv ist ein verdrehter Körper, genauer gesagt ein Torso, der durch zwei weit gespreizte Beine angedeutet wird (Peter Flötners Stich “Menschliche Sonnenuhr” (1534), der einen Mann beim Stuhlgang mit weit gespreizten Beinen zeigt, schwingt in diesem Motiv mit). Entscheidend ist, dass wir weder Gesicht noch Augen der nackten Figur sehen, die unter enormem Druck stehen muss. Diese Figur winkt uns zu und konfrontiert uns. Anfangs wird das Motiv mit starken, aber graduellen Unterschieden wiederholt. Doch im Laufe des Prozesses beginnt sich der Künstler für eine vollständige Transformation des Motivs zu interessieren. Auf den ersten Blick geben die in farbigen Malereien die halluzinatorischen Visionen, den ‚Wahnsinn‘ einer deformierten Person in einer ikonischen Bildsprache wieder, die eine psychedelische Kraft ausstrahlt.

Die schwarz-weißen Bilder haben eine andere Tonalität: Sie sind forschend und zupackend (ihr Fokus ist nach außen gerichtet). Während sie meist dicht mit Formen und Figuren bevölkert sind, lassen sie Freiräume offen oder löschen frühere Figuren buchstäblich aus oder verdecken sie. Um den Stillstand zu überwinden, wird mit der Palimpsest-Technik (geschichtete Bilder, die durch Malen/Zeichnen und partielles Ausschneiden/Radieren, Abkratzen entstehen) angedeutet, in welche Richtung sich ein Motiv entwickeln könnte: sein Potenzial. Hier löst sich der ängstliche Körper auf, zuweilen mit Hilfe äußerer Kräfte: in einem Werk berühren sich die Hände, und ein neuer Geisteszustand entsteht! Driessen hat dieses Motiv einem Wandbild von Cocteau entnommen, das den Kampf und die Kapitulation von Petrus vor den römischen Soldaten im Garten Gethsemane zeigt und im neoklassizistischen Stil gehalten ist. In einer anderen Malerei ist ein Stuhl vor den Beinen der Figur platziert, sodass der Körper (oder das Geschlecht) wie ein Tabu verdeckt wird: ‚Dies darf man nicht sehen!’ Diese Malereien haben eine flüchtige Qualität, sie erinnern an spirituelle Séancen, in denen ein Motiv/eine Form beschworen wird: ‚Möge es sich verwandeln und wohlauf sein!‘

Jede Malerei weist charakteristische und wiederkehrende Elemente auf. Die Figur (verdrehter Körper, abstrahierte, weit gespreizte Beine) erscheint in einem offenen, flachen Raum; die Bildebenen erinnern an die romanische Kunst. Im Hintergrund erhebt sich ein Säulengerüst oder dessen Segmente (eine Anspielung auf das Martyrium des Heiligen Sebastian, ein Motiv, das Driessen bereits in früheren Werken aufgegriffen hat). Zwischen den Beinen schwebt oder sitzt eine Form/ein Vlies, die/das einer Membran ähnelt (die klare Kontur erinnert an die Frisur der Zeichentrickfigur Marge Simpson). Diese kraftvolle Form, die an Eingeweide/einen Bauch, oder an das weibliche Geschlecht denken lässt, findet sich in allen Werken wieder, in den Farben Rot, Blau, Gelb, Weiß… Die Werke enthalten auch diskrete Darstellungen von Extremitäten und Körperöffnungen. Seine Hände und Füße haben etwas Liebenswertes an sich: Diese Anhängsel sind im fruchtbaren Moment unmittelbar vor einer eleganten Bewegung festgehalten: ein feiner Tanz, eine anmutige Geste. Seine Löcher und (Sexual-)Organe wirken entwaffnend: ein Anus mit perlmuttartigem Glanz; ein phantasievoller Penis in Regenbogenfarben. Diese körperlichen Elemente bilden einen Kontrapunkt: Hier liegt das Glück!

Text: Mark Kremer

Letzte Änderung: 03.10.2023  |  Erstellt am: 03.10.2023

Lutz Driessen
dying

Eröffnung:
Freitag, 6. Oktober 2023, 18-21 Uhr

Dauer der Ausstellung:
6. Oktober – 4. November 2023

JUBG
Albertusstrasse 13-17
50667 Köln

www.jubg.space

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