Im Strudel der Daten

Im Strudel der Daten

Journalismus oder Content-Management?

Die Spezialisten für schwarze Zukunft, die Dystopisten, haben es uns oft und ausführlich beschrieben, wie unter unseren Händen totalitäre Gesellschaften entstehen. Vor dem Einsatz von Gewalt wird zumeist die Auflösung journalistischer Standards geschildert, die Herabwürdigung von Journalisten zu Schreibsklaven. Matthias Buth bemerkt in seinem Kommentar, dass wir uns mitten in diesem Prozess befinden.

„Ich geb‘s auf, gehe aus der Redaktion. Dafür habe ich nicht Journalismus studiert. Ich will kein Content-Manager sein!“
Ein Satz, der nachklingt. Ein Einzelfall bei einem ARD-Sender oder ein Lichtkegel auf die sogenannte Vierte Gewalt im Staate, den Journalismus? Gibt es diese Kraft noch? Journalismus ist für die Bundesrepublik Deutschland essentiell. Artikel 5 des Grundgesetzes ist die Grundlage. Journalismus ist der Zwilling der Meinungsfreiheit und kommt aus dem Norden, er wurde vom Verfasser des genialen Liedes „Der Mond ist aufgegangen“, von Matthias Claudius erfunden. Von 1770 bis 1775 schrieb und redigierte er seinen Wandsbecker Bothen. Und jetzt ist’s dahin mit dem Journalismus?
Die digitale Revolution hat die Medienwelt global verbunden und zugleich so zergliedert, dass sich Verlorenheit zeigt – beim Texthersteller, den man einst Journalist nannte und beim Leser, dem sogenannten User. In Blogs, Vlogs, Kanälen auf Videoportalen, Chat-Apps oder in Microblogging-Diensten kann sich jede und jeder zum Journalisten aufschwingen. Aber ist die Bezeichnung noch richtig? Ist Contentmanagement nicht eher zutreffend? Das Sammeln, Erstellen und Bearbeiten von Informationen aller Art und in jeglicher Form. Und das Gesammelte so drapieren, als sei es ein eigener Text! Dieses Verfahren wird noch verschärft durch das sogenannte Clickbaiting, mit dem Anfüttern der User mittels reißerischer Überschrift, um sie dann in den Strudel der Daten, meist der Werbedaten zu ziehen. Und über Facebook, Twitter, Instagram sowie durch die Vernetzung verschiedener Distributionskanäle wird so eine immense Daten- und somit Textmenge produziert, dass ein digitales Ertrinken droht, nein: schon die Regel ist. Jeder und jede kann was ins Netz stellen. Hinzu kommen die durch Algorithmus und Künstliche Intelligenz erzeugten Texte sowie jene, die in den Strategien des Content-Marketings von Firmen und Dienstleistern adressenorientiert generiert werden.

Brauchen wir da noch Journalisten in Print- und Funkmedien?
Viele fühlen sich degradiert. Und nicht wenige werden nicht einmal das, denn sie bleiben vor den Toren der Redaktionen: Sie werden erst gar nicht eingestellt, auf die sogenannten freie Mitarbeit verwiesen und manchmal mit dem Status des Ständigen Freien ausgestattet. Diese Personen müssen sind besonders geschmeidig zeigen, um etwas zu platzieren und so ein wenig Honorar einzustreichen. Auf der Grundlage des neuen Bürgergeldes kann man das einige Zeit so machen, aber es zermürbt und beschädigt den Journalismus. Die umfassende, selbstverantwortlich Recherche, das Für und Wider einer Darstellung ist oft nicht mehr das Leitprinzip. „Fischen Sie aus dem Netz, aus den Portalen und Blogs, was raus und bringen Sie es ins Blatt!“ Ein solcher Auftrag vom Chefredakteur muss den studierten Journalisten irritieren.

Die ARD-Anstalten und die Zeitungsverlage wildern zudem in dem Kompetenzbereich des anderen: Alle wollen alles machen, digital in Wort und Video. Aber was brauchen wir als Verfassungsstaat? Was macht unabhängigen Journalismus aus, einen, der den Mächtigen auf die Finger schaut, in Industrie, Politik und Gesellschaft, Kirche und Verbänden? Und was ist, wenn sich Journalismus an die Herrschenden in Staat und Gesellschaft anschmiegt, nicht unbedingt mit Geld, sondern mit Positionierung in der Medienwelt, also mit sozialem Status? Und ist es nicht ein Fanal, wenn manche im Journalismusbetrieb kaltgestellt und – bei voller Bezahlung – ausgegrenzt werden wie derzeit beim WDR? Und das ist kein Einzelfall, auch die Zeitungsleute kennen das. Denn auch die Medienunternehmen verfolgen das Machtspiel, das politische Loyalität bis zur Unterwerfung an den Mainstream der Hausleitung einfordert. Das Spektakel des RBB steht für viele. Teilhabe: das ist das Codewort. Es klingt so gefällig und demokratisch, es steht aber für Ressource, für Macht und Einfluss sowie für sozialen Stand.

Das ist alarmierend und kann nur durch gesetzliche Regelungen und Compliance-Verpflichtungen sowie durch arbeitsrechtliche Vertragsgestaltungen mit jedem einzelnen Mitarbeiter (m, w, d) eingedämmt werden. Der Krieg Russlands gegen die Ukraine, die Klimakastrophe und die Atomisierung der Gesellschaften verunsichern, ja lähmen viele. Ein Journalismus, der Verhältnisse durchdringen will, der Antworten versucht und nicht nur oberflächlich abbildet, ist unverzichtbar. Sonst verlieren wir uns, vereinsamen oder flüchten uns in totalitäre Subkulturen, denen alles gegen den Strich geht und die den freiheitlichen Rechtsstaat wegfegen wollen.

Matthias Claudius gab nach fünf Jahren die Redaktion des Wandsbecker Bothen auf, nachdem sein Herausgeber von Schimmelmann ihn nicht mehr machen ließ. Wir brauchen mehr Claudius, mehr Mut und Entschlossenheit, die Freiheit der Worte mittels Journalismus zu erklären und zu verteidigen.
Das ist der Content, der Inhalt, den man mitgestalten kann und dem man eben nicht wehrlos ausgeliefert ist.

Letzte Änderung: 21.12.2022  |  Erstellt am: 21.12.2022

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