Die Bedeutung der Ukraine für den Weltkrieg

Die Bedeutung der Ukraine für den Weltkrieg

RückBlick: Leitsätze von 1917
Denkschrift, München 1917

1917, im Jahr der russischen Oktoberrevolution, geht in einer Denkschrift, die im Auftrag des Verbandes deutscher Förderer der ukrainischen Freiheitsbestrebungen erstellt wurde, der Geheime Bergrat Prof. Dr. F. Frech-Breslau auf die Folgen ein, die im Falle einer „militärischen Operation“ im Donezbecken entstehen würden. Die 70-seitige Broschüre aus dem Jahr 1917 beginnt mit 8 Leitsätzen, die hier dokumentiert werden.

 
 
Nur in der Ukraine – nicht im Zentrum und im Norden – ist Rußland tötlich zu treffen:

 
 
1. Abgesehen von der gewaltigen Produktion von Weizen, Zucker und Futtermitteln (Vill) liegt der Mittelpunkt der bergbaulichen und Hüttentätigkeit Rußlands im Süden.

2. Die Kohlenlager des Donjez (1) bestreiten mit rund 20 Millionen Tonnen Jahresförderung drei Viertel des russischen Bedarfes und zusammen mit dem schon besetzten russisch-polnischen Becken genau 92 Prozent der Kohlenförderung des Reiches. Von der europäischen Förderung wird sogar nur ein Dreissigstel (und zwar vorwiegend am Ural) außerhalb der beiden Hauptgebiete gewonnen.

3. Neben der Kohle liegen zwei reiche Eisenreviere (II, III) und von dem gesamten russischen Steinsalz wird ein Drittel unterirdisch – im Donezgebiet, ein weiteres Drittel in den Salzgärten des Schwarzen Meeres gewonnen (IV).

4. Die Vorschiebung der Besetzungsgrenze bis zur Donezlinie (Charkiw, Rostiw und Taganrog) schneidet das Zentrum des Reiches in der Hauptsache von der Verbindung mit dem Kaukasus d. h. von den Zentren der Erdöl- (V), Kupfer- und Manganversorgung ab (es bleibe nur die eingeleisige Linie über Zarizyn an der Wolga übrig)

5. Die Besetzung der Donezlinie würde Rußland zum langsamen Ersticken verurteilen und zwar infolge des Fehlens der Kohlenversorgung und der sehr starken Behinderung der Erdölzufuhr:
a) Die Munitionsfabriken werden stillgelegt.
b) Der Eisenbahn- und Wasserstraßenverkehr (Erdöldampfer) wird allmählich, aber sicher unterbunden.
c) Ein Ersatz der fehlenden Kohlen auf den Einfuhrwegen Archangelsk und Wladiwostok ist aus verkehrstechnischen Gründen wegen der gleichzeitigen Notwendigkeit der Munitions- und Waffenzufuhr unmöglich.
d) Die asiatischen Kohlen Rußlands sind nicht zum Abbau vorgerichtet, und viel zu weit entfernt, um Ersatz liefern zu können.

Rußland geht also nach Besetzung der Donezlinie an Kohlennot und der hierdurch bedingten Unterbindung der Munitionszufuhr zu Grunde.

6. Der Reichtum der Ukraine an Getreide, Futtermitteln und Vieh (V III) würde die Ernährung des deutschen Volkes und seines – auch im Frieden an Getreide-Defizit leidenden – osmanischen Bundesgenossen (VII) für unbegrenzte Zeit sicherstellen.

7. Für militärische Operationen ist der Frühling und Frühsommer (Mitte April – Mitte Juni, eventuell auch etwas länger) wegen des Futterreichtums am günstigsten, dagegen wäre der Hochsommer mit Rücksicht auf die leichte Entzündbarkeit der trockenen Kornfelder ungeeignet (VIII).

8. Der Kohlenvorrat der Ukraine, der 56 Milliarden Tonnen nach offiziellen russischen Statistiken, d. h. das Fünffache der belgischen Kohlenreichtümer beträgt, ist – ebenso wie die Hüttenwerke (VI) – so gut wie ausschließlich in den Händen französischer Kapitalisten (z. T. unter der Firma belgischer Gesellschaften). Im Boden des Donezreviers liegt die Kr i e g s e n t s c h ä d i g u n g D e u t s c h I an d s.

NB. Die römischen Ziffern bezeichnen die Abschnitte der Begründung I-VIII.

Zusammenfassung
Die wirtschaftlichen Reichtümer der Ukraine sind im Kr i e g u n d Frieden von gleicher Bedeutung. Unter der außerordentlichen Mannigfaltigkeit der Mineralschätze der Erdrinde beanspruchen das Steinsalz, die Eisenerze und die Kokskohle wegen ihrer U n er s et z l ich k e i t einen Vorrang vor allen übrigen. Der Besitz von verkokbarer Steinkohle bedingt wegen der Verwendbarkeit für Transport, für Fabriken sowie wegen des für den Hochofenprozeß unentbehrlichen Koks an und für sich hervorragende Wichtigkeit ; durch das als Nebenprodukt der Verkokung hergestellte Benzol vermag die Kokskohle das für viele Zwecke unentbehrliche Erdöl zum großen Teile zu ersetzen. Was das so gut wie gänzliche fehlen der Steinkohle im Lande in Kriegszeiten für Folgen zeigt, beweist das Beispiel von Italien und bis zu einem gewissen Grade das von Frankreich, das in den ersten Kriegsmonaten mehr als zwei Drittel seiner Steinkohlenschächte eingebüßt hat.

Über die Unentbehrlichkeit von Eisen und Steinsalz braucht kein Wort verloren zu werden. Von diesen mineralischen unentbehrlichen Schätzen besitzt nun die Ukraine im europäischen Rußland von Eisen die ausgedehntesten Lager in Kertsch und die hochwertigsten in Kriwji Rig, und zwar beide in erreichbarer Nähe der Kokskohle.

Von Steinsalz liefert die Ukraine zwei Drittel des russischen Jahresbedarfs. Von Kohle besitzt die Ukraine v e r k ok b a r e St e i n k oh l e und den Anthrazit allein; sie lieferte bisher rund drei Viertel der russischen Steinkohlenförderung in Europa, zusammen mit den der Herrschaft Rußland endgültig entrückten polnischen Steinkohlenrevieren aber sogar 29 % der Steinkohlenförderung.
 
 

Nachbemerkung
Um Platz zu schaffen für neue Bücher sollte im Keller etwas umgeräumt werden, da fielen zwei Broschüren in meine Hände: Leo Trotzki, Der neue Kurs (Raubdruck mit rosa Umschlag, erworben im Jahr 1972) und Die Bedeutung der Ukraine für den Weltkrieg. Denkschrift (plus zwei Werbeseiten des J. F. Lehmanns Verlag).

Günter Platzdasch (Lafargue) hat auf Twitter, unter Bezug auf den Fund im Keller, auf einen Wikipedia-Beitrag zu Fritz Frech, den Verfasser der Broschüre verwiesen: Auch das noch: „Im Ersten Weltkrieg wurde er als leitender Geologe dem deutschen Armeekommando beim Asien-Korps an der syrischen Front zugeordnet, starb in Aleppo nach wenigen Wochen.”

In der Broschüre befanden sich auch Werbeseiten zu anderen Publikationen. Hier einige Titel: „Der Koloss auf tönernen Füssen. Gesammelte Aufsätze über Russland“; „Zwei Millionen Deutsche in Russland. Rettung oder Untergang?“; „Berlin-Bagdad. Neue Ziele mitteleuropäischer Politik“; „Die Ostjudenfrage. Zionismus und Grenzschluß“. Zur „Zeitschrift für Deutschlands Aufgaben im Osten und Südosten“ mit dem Titel „Osteuropäische Zukunft“ schreibt die Schriftleitung: „Zu den wichtigsten Fragen, welche der Weltkrieg aufgerollt und deren Bedeutung jetzt mit riesenhafter Flammenschrift sich unser Aller Bewusstsein einprägt, gehören die des Ostens und Südostens Europas. Wir haben die Wucht der Entscheidungen, die diesem grössten politischen Sphinxrätsel eignet, bisher nicht erkannt.“
Norbert Saßmannshausen
 
 

Quelle: Die Bedeutung der Ukraine für den Weltkrieg. Denkschrift. Bearbeitet unter Mitwirkung von Geh. Rat Prof. Dr. Aereboe-Breslau im Auftrage des Verbandes deutscher Förderer der ukrainischen Freiheitsbestrebungen „Ukraine“ von Geh. Bergrat Prof. Dr. F. Frech-Breslau. Mit 2 Karten. J.F. Lehmanns Verlag / München 1917 By. (73 Seiten)

Letzte Änderung: 14.04.2022  |  Erstellt am: 10.04.2022

Die Bedeutung der Ukraine für den Weltkrieg | © Foto: Denkschrift, München 1917
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