Volker Reiche – Killing Is Fun

Volker Reiche – Killing Is Fun

Gespräch
Michele Sciurba vor einem Werk von Volker Reiche  | © Alexander Paul Englert

Der Künstler Volker Reiche hat ein gemaltes Werk geschaffen, aus dem eine Auswahl in der Frankfurter Galerie Art Virus zu sehen ist und in einem Buch der Edition Faust mit dem Titel »Killing is fun«, zusammen mit Texten von Dietmar Dath, Andreas Platthaus und Friedrich Weltzien, dokumentiert ist. Im Gespräch mit Harry Oberländer spricht der Galerist Michele Sciurba über die Gewalt und ihre Gründe in den Bildern Reiches.

Zur Ausstellung bei Art Virus Ltd. – Harry Oberländer spricht mit Michele Sciurba

Harry Oberländer: Wir sitzen hier in der gestern eröffneten Ausstellung von Volker Reiche. Das sind sehr beeindruckende Bilder mit starken Farben und starken Motiven, aber das Besondere daran ist ja auch, dass sie in einer bestimmten Art und Weise eine Verbindung zwischen Comic und Malerei herstellen.

Michele Sciurba: Ich sehe es so, dass diese Trennlinie eine sehr künstliche ist, eine in Deutschland sehr übliche – zu sagen: Das ist Comic, und das ist Kunst, das ist Malerei. Und ich glaube, dass in vielen anderen Ländern, in Frankreich, auch in den USA, damit viel entspannter umgegangen wird. Ich bin überzeugt, dass es diese Trennlinie in Wirklichkeit gar nicht gibt. Es geht eher um die Frage der Eigenständigkeit, darum, wie man zu einem künstlerischen Werk kommt, und dabei kann ein Comic aus meiner Sicht genauso ein Kunstwerk sein wie ein Gemälde. Aber was Volker Reiche hier schafft und wofür er steht, ist, dass er dieses Genre als malerisches Werk nach außen trägt, was in Deutschland meiner Kenntnis nach so niemand macht. Und das ist ihm bildgewaltig gelungen, das heißt, wir haben es hier mit riesigen Formaten zu tun, und in diesen riesigen Formaten zeigt sich nicht nur eine hohe Malqualität, sondern es ist auch schwer, zu beurteilen, wo der Comic aufhört und die Malerei anfängt. Ich glaube aber, dass es darum letztlich gar nicht geht, es geht vielmehr darum, dass Reiche eine eigenständige Position vertritt.

Es sind Gemälde, die durch bestimmte Akzente oder in einer bestimmten Art und Weise immer auch an Comics erinnern. Für mich ist das völlig neu. Ich kann mich entsinnen, dass Robert Gernhardt – der immer auch sehr gerne gemalt hat, er hat Gemälde und Cartoons gemacht – beides deutlich voneinander getrennt hat. Das eine war Malerei, das andere Karikatur, während es hier zu einer sehr schönen Synthese kommt, die ich wirklich beeindruckend finde. Besonders in diesen kleineren Formaten der Bosch-Fighter, weil die einen ganz großen Bogen von der Renaissance bis in unsere Tage spannen.

Einerseits adaptiert Reiche die Bosch-Fighter, weil er die Figur, gerade diesen Bosch-Fighter, sehr nah an dem, was Hieronymus Bosch gemalt hat, belässt. Andererseits besteht seine Adaption natürlich darin, dass er dem, was Bosch in seiner Inferno-Darstellung auf die Leinwand brachte – lauter kleine Hilfsteufel, die die Menschen im Fegefeuer quälen –, eine brisante Aktualität verleiht, die dem Betrachter sehr schnell bewusst wird. Diese Fighter kommen so niedlich daher, und dann guckt man genauer hin und sieht, dass das eigentlich ziemlich grausam ist. Die sind mit gefährlichen Waffen ausgestattet, die sitzen hinten auf dem Jeep, das sieht aus wie mit einem Flak-Gewehr, das sieht aus wie ein IS-Jeep, und so gewinnt diese Adaption – leider, muss ich sagen – urplötzlich Aktualität und Brisanz. Davon haben wir, als wir die Ausstellung geplant haben, noch nichts geahnt.

Im Mittelalter gab es eine einfache Erklärung für solche Phänomene. Wir reden von Teufeln und Hilfsteufeln – es war eben das Böse, das sich da Bahn bricht. Auf Seiten der islamistischen Kämpfer – IS und Taliban usw. – ist dieses Erklärungsmuster ja auch vorhanden: Es gibt das Böse in der Welt, und das muss bekämpft werden. Dietmar Dath hat dazu gesagt, dass die IS-Kämpfer Gewaltverhältnisse sichtbar werden lassen, die sonst versteckt sind, die wir sonst nicht erkennen, weil sie sich nicht in dieser Form des öffentlichen Enthauptens und in der öffentlichen Präsentation und Zelebration von Gewalt darstellen. Wie sehen Sie das?

Ich glaube, um zu verstehen, was sich auf dieser Ebene in den letzten Jahren abspielt, muss man ein Stück weiter zurückgehen. Die Präsenz von Terrorismus, von islamistischem Terrorismus – die hat ja eine Tradition, die irgendwann begonnen hat, ich sage mal: mit den ersten Selbstmordattentätern der PLO. So richtig in unser Bewusstsein katapultiert wurde sie durch die Anschläge auf die Twin Towers in New York. Und ab diesem Moment, glaube ich, passiert etwas, was deutlich macht, dass es in dieser Welt keinen geschützten Raum mehr gibt, keinen Raum, der uns vor Menschen schützt, die bereitwillig Schwarz und Weiß, Gut und Böse voneinander unterscheiden wollen und bereit sind, sich dafür in Fanatismen zu begeben, in denen es weder Differenzierungen noch ein Unrechtsbewusstsein gibt, weil man das Recht auf seiner Seite sieht. Und wenn das der Fall ist und das Ganze zudem mit einer höheren religiösen Instanz verknüpft wird, so dass Religion zu einem politischen Instrument wird, dann braucht man keine Skrupel mehr zu haben, weil man dann gottgewollt das Böse ausrottet. Und genau das findet da statt. Diese einfachen Muster, das ist ja das Erschreckende, sind natürlich kein Novum in der Menschheitsgeschichte. Man kann sie über die Jahrhunderte hinweg beobachten. Und was einem Angst macht, ist, dass in einer – wie wir glauben – zivilisierten und aufgeklärten Welt, in der eine Vielzahl von Informationen verfügbar sind, in der Leute sich durchaus ein differenziertes Bild machen können, offensichtlich die Angst vor der Eigenständigkeit des eigenen Lebens und vor der bewussten eigenverantwortlichen Entscheidung so groß ist, dass man sich lieber einer höheren Macht mit sehr klaren Vorgaben unterordnet und sagt: Der ist ungläubig, und deswegen darfst du dem den Kopf abschneiden. Ich empfinde aber auch eine Form von Mitleid mit diesen Menschen, weil ich denke, die haben überhaupt kein Rüstzeug mitbekommen, um anders und reflektiert mit Dingen umgehen zu können. Darin sehe ich das eigentliche Problem.

Diese Menschen kommen in erster Linie aus Gesellschaften, in denen die Religion auch deshalb noch so eine große Rolle spielt, weil dort die gesellschaftliche Entwicklung völlig anders verlaufen ist als bei uns in Mitteleuropa oder in den USA. Also aus dem arabischen Raum, Afghanistan, Pakistan und so weiter. Da herrschen nach wie vor die großen ungelösten Probleme der Ungerechtigkeit seitens der Weltmärkte und der Weltwirtschafts­ordnung. Daneben gibt es diejenigen, die bei uns aufgewachsen sind und die sich, glaube ich, eine ganz andere Art von Religion selbst zusammenbasteln.

Die Wahrheit ist im Grunde viel dramatischer. In Gesellschaften, in denen keine entwickelte Zivilgesellschaft existiert, stoßen wir vermehrt auf fundamenta­listische, fanatische Mechanismen, die dort einen Nährboden haben. In dem Moment, wo, sagen wir mal, Chefstrukturen, Clanstrukturen vorliegen, wo eine Zivilgesell­schaft fehlt, wo also Strukturen dominieren, die zutiefst undemokratisch sind, die auf bestimmten tradierten Werten basieren, die immer schon so waren, die bestimmte Hierarchien voraussetzen und die insbesondere auch die Rolle der Frau als denkendes, freies Menschenwesen ignorieren – da haben wir es mit Bedingungen zu tun, denen sicherlich bei der Frage, die wir gerade diskutieren, großes Gewicht zukommt. Warum sich keine Zivilgesellschaft entwickelt hat, ist natürlich ein ganz anderes Problem, ein komplizierteres, das wir aus unserer westlichen Sicht immer wieder mit makroökonomischen oder geopolitischen, also immer an der Ökonomie orientierten Erklärungen, zu erhellen versuchen. Das ist aber, glaube ich, nur ein Teil der Wahrheit. Es kann durchaus sein – und das macht es so schwierig –, dass es unterschiedliche Entwicklungsstränge in der Welt gibt, die zu unter­schiedlichen gesellschaftlichen Systemen führen können, und dazu gehören unter Umständen totalitäre und fundamentalistische Systeme.

Zumindest autoritäre. Wobei man bei den autoritären manchmal froh ist, wenn sie noch ein gewisses Rechtssystem haben, eine gewisse Verlässlichkeit bieten, wie die Chinesen beispielsweise.

Ja, solche Regime üben Kontrolle aus. Wir haben uns alle über den »Arabian Spring« [Arabischen Frühling] gefreut und darüber, dass da aus unserer Sicht Diktatoren endlich entmachtet wurden. Das Ergebnis war jedoch eine vollkommene Destabilisierung ganzer Weltregionen, und gleichzeitig entbrannten dort neue Verteilungskriege. Da geht es um Machtverteilung: zwischen Clans, zwischen Sunniten und Schiiten, zwischen verschiedenen religiösen Auslegungen. Das hatten wir uns ganz anders vorgestellt. Wir dachten, da gibt’s jetzt einen »Arabian Spring«, und die wollen Demokratie. Ist ja klar, was sollen die sonst wollen? Das war ein bisschen blauäugig.

Das war sehr naiv. Und es war das letzte Mal, dass ich noch vor mir gesehen habe, was ich mein ganzes Leben lang geglaubt oder angenommen hatte: dass es eine Entwicklung dieser Gesellschaften hin zu einer mehr oder weniger westlichen Vorstellung von Demokratie und Gewaltenteilung usw. gibt. Es scheint tatsächlich nicht so zu sein. Man kann das im arabischen Raum auch daran sehen, dass die laizistischen Regierungen, die eine Zeitlang sehr viel stärker waren, abgelöst worden sind. In Ägypten waren sie stark, ebenso in Syrien und im Irak. In Syrien und im Irak sind sie offensichtlich in einer gewissen Weise degeneriert. Anstatt irgendetwas voranzubringen, sind in all den Jahren alte Clanstrukturen und auch die Religion wieder in den Vordergrund getreten.

Das ist die eine Seite. Es besteht noch ein anderes Problem, das hier nicht wirklich wahrgenommen wird. Die zweite Seite ist die: Auf dem afrikanischen Kontinent gibt es diese Entwicklung, von der Sie sprechen, in vielerlei Hinsicht, zum Beispiel in Nigeria solche Geschichten wie Boko Haram. Das Wort Boko Haram besagt: Vertreibt oder tötet alles, was ungläubig ist, Westen ist Sünde. Es bezieht sich darauf, dass man laut Sure 3, 5 und so weiter die Ungläubigen schlagen und umbringen darf. Aber damit haben wir uns nie auseinandergesetzt. Zum Beispiel: Nigeria ist ein Riesenland. Das Wort Boko Haram kommt aus der Hausa-Sprache, und die wird von 20 Millionen Menschen gesprochen. Ich kenne so gut wie niemanden in Deutschland, der überhaupt weiß, dass es Hausa gibt. Unsere Unkenntnis, unser mangelndes Bemühen um Verständnis dessen, was sich dort abspielt, war für uns nie ein Problem. Da gab es irgendwelche totalitären Systeme, die hatten Rohstoffe, und solange wir Zugang zu den Rohstoffen hatten, war uns das – muss man ehrlicherweise sagen – in der Regel ziemlich egal.
Und ein weiteres Moment ist, dass wir in den westlichen Industrienationen überhaupt nicht erkannt haben, dass die Rohstoffvorkommen in solchen Regimen genau der Fluch sind, der die Entwicklung einer Zivilgesellschaft verhindert. Denn wenn du dir mit militärischer, auch religionsgebundener Macht den Zugang zu Geld sichern kannst, indem du einfach Rohstoffe verkaufst, dann besteht kaum Notwendigkeit, dir technisches Know-how anzueignen, ein Bildungssystem und eine Infrastruktur aufzubauen. Du kannst mit diesen Einnahmen sehr gut Machtstrukturen finanzieren. Und am Ende sieht es dann so aus: Für die multinationalen Konzerne, die Regierungen der Ölimportländer ist es völlig egal – insbesondere wenn das Öl offshore gefördert wird mit 1.500 Meter Wasserüberdeckung –, ob in Angola gerade ein Bürgerkrieg stattfindet. Diese Regime brauchen alle Geld. In Angola, wenn man sich das mal überlegt: 45 Jahre Krieg, 20 Jahre Unabhängigkeitskrieg, 25 Jahre Bürgerkrieg – aber spielte das für uns wirklich eine Rolle? Und jetzt passieren mit dieser religiösen Komponente plötzlich zwei Dinge: Da haben religiöse Fanatiker in bestimmten Regionen – ich sage mal bewusst Verrückte – plötzlich sehr viel Geld zur Verfügung, um ihren Krieg gegen die westliche Welt zu finanzieren, und vertreten auf einmal einen Hegemonialanspruch, der Welt­beherrschung heißt. Und mit ihren Rohstoffen bekommen sie das Geld dafür. Meiner Ansicht nach können Tausende, Zehntausende, Hunderttausende Tonnen Rohöl aus dem Irak über die Türkei geschmuggelt werden, aus deren Verkauf sich der IS finanziert. Da muss ich mir die Frage stellen: Wie kann das sein, ohne dass Regierungskreise und -institutionen und, und, und, davon Kenntnis haben? Ich kann mir das überhaupt nicht vorstellen. Man muss sich einmal den logistischen Aufwand vorstellen, der dazu notwendig ist. Das ist das eine, und das andere ist: Wir ringen um die Glaubwürdigkeit unseres Wertesystems. Das ist es, was Volker Reiche – um noch einmal den Bogen zur Ausstellung zu schlagen – in seinen Bildern zum Ausdruck bringt. Wenn er zum Beispiel Picassos Guernica neu interpretiert (s.u.) und es in seiner Lesart nur noch Täter und keine Opfer gibt, nach dem Motto: Hier kann keiner mehr seine Hände in Unschuld waschen, dann geht es um dieses Ringen nach Glaubwürdigkeit. Wir haben Wirtschaftspartner wie Saudi-Arabien, wo die Scharia herrscht. Trotzdem sind wir relativ entspannt. Zwar ist das ein autokratisches, totalitäres System, in dem im Zweifelsfall Widerstand mit Panzern unterdrückt wird, Leute ausgepeitscht, öffentlich gesteinigt werden und man ihnen die Köpfe abschlägt, in dem aber all das in einem rechtlich geordneten, wenn auch nicht demokratischen Rahmen passiert, doch solange das funktioniert und alles ruhig verläuft, so lange sind wir davon nicht betroffen, so lange bleibt das unser Wirtschaftspartner, mit dem wir beste Beziehungen unterhalten, und so lange drücken wir beide Augen zu. In dem Moment aber, in dem ein Hegemonialanspruch von Fundamentalisten, die das gleiche Gesetz fordern, den Terror in die westliche Welt exportiert, schreien wir auf. Dass wir aber viel früher hätten aufschreien und über unsere eigenen moralischen und vor allen Dingen ethischen Grundsätze nachdenken sollen, wird für gewöhnlich unter den Teppich gekehrt.

Jetzt möchte ich noch auf einen anderen Aspekt kommen, den wir kurz berührt haben. Wir haben das Problem ja deutlich vor Augen, nicht nur dadurch, dass der IS es durch öffentliche Enthauptungen, durch bestimmte Aktionen der Weltöffentlichkeit vorführt, sondern auch dadurch, dass diese Staatsgründung, die Etablierung eines Kalifats, die auf der Basis eines fundamentalistischen Islams erfolgen soll, offensichtlich eine große Attraktivität für Jugendliche in Westeuropa hat – bei uns in Deutschland, auch in Frankreich, überall, und zwar nicht nur für junge Männer, sondern auch für junge Frauen. Es heißt, dass dadurch offenkundig ein starkes Bedürfnis bei Leuten angesprochen wird, die aus unserer Gesellschaft kommen. Das ist ein zusätzliches Problem.

Ich glaube, dass Volker Reiche recht damit hat, wenn er sagt: KILLING IS FUN. Wir leben in völlig durchregulierten Gesellschaften, in einer Welt – für die Bundesrepublik trifft das sicherlich zu –, die in einem ewigen Einerlei mehr oder weniger sicher, stabil, zuverlässig funktioniert. Aber sie bietet wenige Höhen und wenige Tiefen. Die Regelungswut, mit der die Europäische Union und die einzelnen National­staaten in die intimsten Bereiche der bürgerlichen Gesellschaft eingreifen, ist inzwischen so groß geworden ist, dass es im Prinzip für alles ein Piktogramm, ein Schild, einen Erlass, ein Gesetz gibt. Nehmen wir mal einen aufgeweck­ten Jugendlichen, der aus irgendeinem Grund in dieser Gesellschaft marginalisiert wird – und bei dem Personenkreis, über den wir gerade sprechen, handelt es sich meistens um marginalisierte Jugendliche. Marginalisiert heißt: Die einzige Anerkennung, die du bekommst, läuft über die Schiene, dass du Dinge tust, die man hier eigentlich nicht tut. Und dafür wirst du bestraft, du erlangst sozusagen traurige Berühmtheit in deinem unmittelbaren Umfeld. Genau das trifft ja auf sehr viele dieser jungen Menschen aus den westlichen Staaten zu, die sich dem IS anschließen. Und jetzt kriegst du dort die Möglichkeit, zu brandschatzen, zu töten, Frauen zu vergewaltigen, kurz: alle möglichen Dinge zu tun, die du hier nicht tun darfst. Und als junges Mädchen bekommst du Gelegenheit, deinen Helden anzuhimmeln, mitzukämpfen. Du hast plötzlich einen Machtstatus inne, hast enorme Freiheit auf der Ebene all dessen, was hier untersagt ist, die dich quasi in die Lage versetzen, tatsächlich über Leben und Tod zu entscheiden. Das ist ungeheure Macht, von der ein großer Anreiz ausgeht. Und ich glaube, dass das stark damit zusammenhängt, dass wir hier so gut wie jeden Abenteuerfaktor, jeden Erlebnisfaktor mittlerweile durchreguliert haben, und zwar so, dass es nur noch sicheres Erleben und sichere Abenteuer gibt.

Ja, das ist der eine Aspekt, den ich auch sehe, und der andere … ist der, dass sich Jugendliche, die sich in einer perspektivlosen Situation befinden, eventuell auch schon kriminell geworden sind, mit dieser Glaubensideologie auch eine gute Moral verschaffen können. Sie stehen dann plötzlich sehr viel besser da, sind nicht mehr die kriminellen Outlaws, sondern können sich als Kämpfer verstehen, und zwar für eine »gute und gerechte« Sache. Da schließt sich der Kreis, da rückt uns das Ganze ungeheuer nahe wie bei dem Anschlag auf die Redaktion von Charlie Hebdo, durch den das, was wir durchaus mit kritischen Absichten vertreten, nämlich die Freiheit der Kunst, plötzlich massiv angegriffen wurde, und das mit blutigen Konsequenzen.

In der Tat ist es lebensgefährlich geworden, Satire zu machen, im Zweifelsfall ein Buch zu schreiben, einen Film zu drehen oder andere Dinge. Das haben wir alles erlebt, ohne dagegen gewappnet zu sein. Wir sind auch nicht so erzogen, dass wir zur Waffe greifen, um uns zu verteidigen, das wäre sicherlich der falsche Weg. Und deswegen macht uns das Angst, jedem von uns, der sich öffentlich zu Wort meldet oder sich als Autor betätigt. Die erste große Drohung galt Salman Rushdie mit seinen Satanischen Versen, der nach wie vor 24 Stunden am Tag bewacht wird. Aber zu einer Zivilgesellschaft wie der unsrigen und zu unserem Demokratie­verständnis gehört auch Zivilcourage, das heißt, dass man sich nicht einschüchtern lässt. Die Solidaritäts- und Trauerkund­gebungen in Paris waren schon beeindruckend und eine einmalige Geschichte: Da ist wirklich eine ganze Gesellschaft aufgestanden und hat zu verstehen gegeben: Egal, wie viele ihr umbringt, wir werden damit weitermachen. Ich finde es absolut richtig, dass wir uns diese Freiheit durch nichts beschneiden lassen. Natürlich fordert Freiheit oftmals Opfer. So hart das klingt, für zivile, bürgerliche Rechte war immer irgendein Preis zu zahlen, aber die Frage lautet doch: Wie hoch ist der Preis, wenn wir auf sie verzichten? Wie hoch ist der Preis, wenn wir meinen, jeden Bereich durch Sicherheitsarchitektur, neue Gesetze, mehr Erlasse, mehr Überwachung kontrollieren zu können? Das ist eine Illusion. Das heißt, wenn wir anfangen zu glauben – das ging ja 2001 los –, dass wir uns schützen können, indem wir immer mehr Sicherheits­gesetze verabschieden, die jeden von uns in seiner persönlichen Freiheit einschränken, dann leisten wir genau dem Vorschub, was uns totalitären Systemen immer näher bringt. Eine solche Entwicklung ist eigentlich eine Katastrophe.

Wobei als weiteres Problem hinzukommt, dass es mittlerweile auch Gegenreaktionen gibt. Das heißt, ein Teil der Gesellschaft meint, man könne das Problem dadurch lösen, dass die Gesellschaft Zuwanderung begrenzt, dass sie Kontrollen verschärft und dass sie anstatt mit Offenheit und einer offenen Debatte mit Abschottung und einem neuen Nationalismus darauf reagiert.

De facto verhält es sich so: Wenn man Dinge historisch betrachtet, wissen wir alle, dass Kleinstaaterei immer zu Krieg geführt hat in Europa, dazu braucht man kein Geschichtsprofessor zu sein. Das ging schon los in Italien, wo sich immer wieder Kriege zwischen den Städten ereignet haben, etwa zwischen Modena und Bologna. Das hat Tradition: Je kleiner die Einheiten werden, desto mehr lokale Konflikte und Flächenbrände gibt es am Ende. Die Konstruktion der Europäischen Union, die man an ganz vielen Stellen kritisieren kann, hat letztlich tatsächlich dazu geführt, dass wir in Europa, also innerhalb der Europäischen Union, seit Jahrzehnten keinen Krieg mehr kennen. Das ist sicherlich positiv. Die Frage, die sich daran anschließt, lautet: Darf das zur Folge haben, dass man nicht mehr von universellen Menschen­rechten, sondern nur noch von Bürgerrechten spricht? Das ist genau der Punkt. Bürgerrechte stehen nur denen zu, die Bürger sind. Das heißt, Gleichheit und das Recht auf Bildung, auf sauberes Wasser, auf medizinische Versorgung, auf Essen, auf ein menschen­würdiges Leben stehen nur Bürgern zu. Diese Position wird heute von zunehmend mehr Leuten vertreten. Damit sagen sie de facto: Es gibt kein universelles Menschenrecht, sondern nur Bürgerrechte, aber da musst du Glück haben und musst Bürger sein. Wenn du kein Bürger bist, dann bist du eigentlich nur ein halber Mensch, denn dann hast du auf all diese Rechte keinen Anspruch. Diese Haltung führt dazu, dass wir die Grenzen der Europäischen Union hermetisch abschließen. Wenn man heute mit dem Auto an eine sogenannte EU-Außengrenze fährt, dann hat das etwas fast Sciencefictionmäßiges, es ist wirklich beeindruckend, wie diese Grenzen gestaltet sind. Sie haben Festungscharakter. Man sehe sich nur einmal an, was sich hinter so schönen Begriffen wie Frontex-Agentur verbirgt. Die Frontex-Agentur ist sicherlich keine demokratisch legitimierte Institution. Das ist eine Agentur, die in Polen sitzt und auf alle Polizei- und sonstigen Kräfte der Nationalstaaten zurückgreifen kann, um Grenzen zu sichern. Nicht um Menschen zu retten, sondern um Grenzen zu sichern. Das sollte man wissen. Das ist keine Rettungsinstitution für Leute, die im Mittelmeer absaufen …
So. Das ist die Entwicklung, die derzeit stattfindet. Es wäre also falsch, zu sagen, die Europäische Union sei dabei, ihre Grenzen zuzumachen, nein, die Europäische Union hat ihre Grenzen zugemacht, und zwar weitestgehend. Natürlich wird an der Perfektionierung dieser Abschottung weitergearbeitet. Dass immer noch Wahnsinnige in Schlauchboote steigen und versuchen, aus Afrika in die EU zu kommen, ist dann bedauerlich, einen Rettungsanspruch haben sie nicht. Die italienische Regierung hatte nach 300 Toten Mare Nostrum zur Seenotrettung ins Leben gerufen, aber inzwischen gehört diese Einrichtung der Vergangenheit an. Das ist das Thema, auf das Volker Reiche hinweist, wenn er sagt: Bei allem, was wir nicht kennen, bei allem, was uns fremd ist, liegt es in der Natur des Menschen, dass er es erst einmal für gefährlich hält und am liebsten darauf schießen würde. Wenn wir wissen, dass wir den Großteil unserer Rohstoffe aus den schwierigsten Ländern dieser Erde beziehen müssen, und uns gleichzeitig deren Schicksal aus Gründen der Besitzstandswahrung nicht wirklich interessiert, wird es zynisch. In einer globalisierten Welt kann das meiner Meinung nach nicht gutgehen. Man kann Reichtum in dieser Welt nur so verteilen, dass alle Menschen zumindest in dem Maße an ihm teilhaben, dass sie ein menschenwürdiges Leben führen können. Das muss ein universelles Recht sein, zu dem auch die Einwanderung zählt. Dazu gehört weiter, dass wir nicht 20.000 Syrer aufnehmen und behaupten, es seien 100.000, dass wir die Aufnahmeprozedur so in die Länge ziehen, dass Jahre vergehen. Vielmehr sollten wir mit unseren Ressourcen und unserem Reichtum großzügig umgehen. Nehmen wir das Beispiel der Rumänen, die innerhalb der EU anreisen und hier gerne arbeiten wollen, aber keinen Anspruch auf Sozial­leistungen haben, die dann zelten oder auf Baustellen oder sonst wo übernachten müssen. Ich halte das für fatal. Ich glaube, dass das eine Gesellschaft geistig und moralisch ärmer und unglaubwürdig macht und schließlich zu mehr sozialen Problemen und zu wachsender Gewalt führt.

An dieser Stelle könnte man eigentlich einen Schlusspunkt setzen. Ich stelle trotzdem noch eine Frage. Auf der einen Seite ist es ja sehr schön, eine Ausstellung zu machen mit Bildern, die die Diskussion über solche Fragen anregen. Auf der anderen Seite handelt es sich bei ihnen natürlich auch um Kunst im Sinne des Kunsthandels. Deswegen lautet meine letzte Frage: Ist diese Art von kritischer Kunst als Verkaufsobjekt interessant? Wer wird sich dieses wunderbar amerikanische Gewalt-Triptychon an die Wand hängen?

Dazu gibt es Folgendes zu sagen. Unser Konzept in der Art Virus hatte immer zwei Seiten: Zum einen gibt es den kommerziellen Aspekt, Künstler zu vermarkten, und das muss man auch, denn Künstler müssen Bilder verkaufen, sonst können sie nicht leben. Zum anderen haben wir den nichtkommer­ziellen Aspekt: Kunstpräsentation hat auch mit Kunstvermittlung zu tun. Das entspricht unserem eigenen Anliegen. Mindestens einmal im Jahr wollen wir eine politische Ausstellung machen. Im letzten Jahr war das »La Frontera«, auch zum Thema »Occupy« haben wir ausgestellt, und ein bisschen ist das natürlich auch mit Reiche so. Nun, es gibt tatsächlich »Verrückte«, die so etwas kaufen, das ist auch gut so, aber ich hätte die Bilder natürlich auch gezeigt, wenn niemand sie kauft. Diese Ausstellung hier ist mit Begeisterung vorbereitet und mit großem Engagement von der Kunsthistorikerin Nicole Thamm kuratiert worden. Wir wollten diese Ausstellung machen, weil wir glauben, dass sie eine gute Grundlage bietet, um – über die Kunst – zu reflektieren, was zurzeit unglaublich viele Menschen anlässlich der Ereignisse in Syrien, der Anschläge in Paris und kürzlich in Dänemark bewegt. Sie ist ein guter Anlass, ohne moralisch erhobenen Zeigefinger – denn Moral ist ein schlechter Ratgeber in dieser Diskussion – darüber reden zu können. Wir sind natürlich privilegiert, das wissen wir auch, weil wir die Räume haben, weil wir es uns leisten können, solche Werke zu zeigen, und nicht darauf angewiesen sind, damit Geld zu verdienen.

Letzte Änderung: 02.02.2022  |  Erstellt am: 14.11.2021

divider

Hat dir der Beitrag gefallen? Teile ihn mit deinen Freunden:

Kommentare

Es wurde noch kein Kommentar eingetragen.

Kommentar eintragen