Boléro und höhere Gewalt

Boléro und höhere Gewalt

Doppelabend des Hessischen Staatsballetts
 | © Staatstheater Darmstadt/ Rita Winder

Mit den Choreografien „Boléro / Force Majeure“ von Eyal Dadon und David Raymond & Tiffany Tregarthen ist ein beeindruckender Doppelabend des Hessischen Staatsballetts im Staatstheater Darmstadt zu erleben. Ravels „Boléro“, schon als Ballettmusik entstanden, wurde in zwei Versionen gespielt und getanzt. Walter H. Krämer wurde beglückt.

Choreografien von Eyal Dadon und David Raymond & Tiffany Tregarthen

In Darmstadt nimmt sich der israelische Choreograf Eyal Dadon, der für seine unkonventionelle Interpretation klassischer Stoffe bekannt ist, Maurice Ravels „Boléro“ an. Obwohl das Werk zu einem unverzichtbaren Bestandteil der Konzertprogramme avanciert ist, wurde es ursprünglich als Ballett für die Tänzerin Ida Rubinstein komponiert und wird daher auch immer wieder neu choreografiert. So auch jetzt für das Hessische Staatsballett.

Ergänzt wird der Abend durch die Neukreation „Force Majeure“ von David Raymond und Tiffany Tregarthen. Für das kanadische Duo, das mit seiner Compagnie „Out Innerspace Dance Theatre“ internationale Anerkennung erlangt, ist es die erste Auftragsarbeit im deutschsprachigen Raum.

„Force Majeure“ bedeutet „höhere Gewalt“ und ist insbesondere in der Versicherungsbranche ein bekannter Begriff für den Ausschluss von Versicherungsleistungen bei Erdbeben, Vulkanausbrüchen, Flutkatastrophen und ähnlichen „unvorhergesehenen“ Ereignissen.

Eine Choreografie mit diesem Titel eröffnet den neuen Doppelabend des Hessischen Staatsballetts. Ein Lichtkegel blitzt auf, aus dem Bühnenboden eine Fontäne von Kostümen – aus Gründen der Nachhaltigkeit wurden keine neuen Kostüme angefertigt, sondern man bediente sich aus dem Fundus. Ein fahrbarer Tisch als viel genutztes Requisit – Konferenztisch, Krankenbett; Totenbahre, Tanzpartner. Ein verdorrter Baum und ab und an der bange Blick gen Bühnenhimmel. Droht von dort die Gefahr? Oder ist es doch das Wissen um den Klimawandel? Konferenzen: Viel Gerede ohne eindeutige Handlungsperspektiven! Höhere Gewalt in Form von Pandemie, Naturkatastrophen und Krieg! Oder geht es auch um das Gewaltpotential, das in jedem von uns steckt?

 | © Foto: Staatstheater Darmstadt; Rita Winder

Die Tänzer*innen auf der Suche nach Antworten in Form von Bewegungen – mal allein, zu zweit, in der Gruppe. Und dazu die Musik – experimentell, minimalistisch, neoklassisch angehaucht – der französischen Komponistin Angèle David-Guillou. Diese Musik ist es vor allem, die Begeisterung hervorruft und eine fast hypnotische Wirkung erzeugt. Schon allein dieser Klänge wegen lohnt sich der Besuch der Aufführung. Ergänzt wird dieses Klangerleben noch durch die Lichtszenarien von James Proudfoot und die Videoprojektionen von Eric Chad.

Drei Theatermittel, die die allesamt hervorragend tanzenden Mitglieder des Hessischen Staatsballetts wirkungsvoll unterstützen und die deren Können sichtbar werden lassen. Die Choreographie von „Force Majeure“ ist vielschichtig und die einzelnen Bausteine werden abwechslungsreich in Szene gesetzt. Doch daraus ergibt sich keine lineare Bühnenerzählung die Antworten gibt, sondern das Geschehen auf der Bühne hat eher den Charakter einer Suche. Für den Zuschauer nicht immer verständlich und nachvollziehbar – aber insgesamt hinterlässt dieser Teil des Abends einen starken und nachhaltigen Eindruck.

Staatstheater Darmstadt; Rita Winder

Maurice Ravels „Boléro“ gehört der zweite Teil des Abends und dies gleich zweimal hintereinander. Zunächst das beeindruckende Solo von Tatsuki Takada, der über die gesamte Dauer des Musikstücks mit und gegen einen vorsichtig und zurückhaltend „dekonstruierten“ Bolèro antanzt, stillsteht, in die Musik hineinhört, sie zertanzt. Eine kaum wahrnehmbare Dekonstruktion, die von weggelassenen Tönen geprägt ist. Bei den insgesamt achtzehn Wiederholungen des Themas entsteht dabei immer an einer anderen Stelle eine Leerstelle. Der Hörer, der das Stück kennt, vervollständigt fast automatisch die fehlenden Töne und hört auf diese Weise das vollständige Werk. Ein einfacher, aber genialer Einfall, mit überraschender Wirkung.

Dann wird diese Musik, die uns allen bekannt ist, die wir in unterschiedlichen Versionen, Situationen schon gehört haben zu unser aller Überraschung vom Staatsorchester Darmstadt unter der Leitung von Johannes Zahn zum zweiten Mal gespielt. Und jetzt kommen auch die anderen Tänzer*innen mit auf die Bühne – aus dem Solo wird ein Ensemblestück – leidenschaftlich und mit Hingabe getanzt.
Und auch für die Tänzer*innen ein neues Erleben: nicht nach und mit Musik aus der Konserve zu tanzen, sondern nach und mit der Musik live gespielt von einem Orchester. Auch die dunkle Seite der Musik wird angedeutet – doch alles nicht über Gebühr strapaziert. Man kann und muss dazu frei assoziieren. Selbst Entscheidungen treffen. Von der Bühne her gibt es keine Eindeutigkeiten.

„Tanzt, tanzt, sonst sind wir verloren!“ Die Tänzer*innen des Hessischen Staatsballetts wissen um diese Weisheit und entlassen uns Zuschauer beglückt in die Nacht und das Leben.

 | © Foto: Staatstheater Darmstadt; Rita Winder

Nächste Termine am Staatstheater Darmstadt sind der 28.04.2023, 19.30 Uhr + der 06.05.2023, 19.30 Uhr

www.staatstheater-darmstadt.de

Letzte Änderung: 14.04.2023  |  Erstellt am: 14.04.2023

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