Die Essays zu Völkerrecht und Globalisierung erklären in mehreren Teilen die Bedeutung des Völkerrechts im historischen Kontext und beleuchten künftige Herausforderungen bei der Verteidigung von universellen Menschenrechten und bürgerlichen Freiheiten. Im vierten Teil geht Michele Sciurba auf globale Krisen und soziale Ungleichheit während der Coronakrise ein und betrachtet den zunehmenden grenzüberschreitenden Einfluss nicht-staatlicher Akteure auf nationale und internationale Politik.
Die moderne globalisierte Welt
Globalisierung beschränkt sich nicht mehr nur auf wirtschafts-, finanz- und handelspolitische Fragen, sondern betrifft heute alle Bereiche des gesellschaftlichen und politischen Lebens. Globale Herausforderungen wie der Klimawandel, Waldbrände, der Anstieg des Meeresspiegels oder die Coronavirus-Pandemie sind durch Zweckrationalität oder neue Technologien allein nicht in den Griff zu bekommen. Die Gesundheitssysteme sind vielfach aufgrund mangelnder Vorbereitung, ausländischer Lieferketten und eines Versagens der politischen Führung unzureichend ausgestattet, um angemessen auf Covid-19 zu reagieren. Nicht nur in Entwicklungsländern, sondern auch in den USA ist die Covid-19-Mortalitätsrate bei armen/sozial schwächeren Bevölkerungsschichten (dies betrifft insbesondere Hispano- und Afroamerikaner) deutlich höher als bei anderen Gruppen. Ein fehlendes Sicherheitsnetz und die auseinanderdriftenden gesundheitlichen Folgen für Arm und Reich sind symptomatische Schwachpunkte des Kapitalismus amerikanischen Stils beim Umgang mit der globalen Krise.
Studien belegen, dass Bürger nicht mehr daran glauben, Einfluss auf den Prozess demokratischer Entscheidungsfindung ausüben zu können.₁ Diese Vertrauenskrise in die Fähigkeit, demokratische Veränderungen herbeizuführen, kommt zu einer Zeit, in der globale Bedrohungen nicht mehr mit traditionellen Mitteln durch einzelne Nationalstaaten abgewendet werden können. Während die internationale Gemeinschaft die globale Finanzkrise noch mit politischer Zusammenarbeit und bekannten Mechanismen der finanziellen Intervention und Überwachung bewältigte, waren bei den neuen Krisen der letzten Jahre nationaler Egoismus und Protektionismus wesentlich dafür verantwortlich, dass keine adäquaten Lösungen umgesetzt worden sind. Die Folgen des Klimawandels – Flutkatastrophen, Brände und Pestilenzen biblischen Ausmaßes – zuvor Reminiszenzen an das Mittelalter, sind Teil der modernen globalisierten Welt geworden.
Die zunehmende Fragmentierung der Welt
Die Corona-Pandemie ist nicht nur für viele Entwicklungs- und Schwellenländer lebensbedrohlich, sondern, aufgrund des fehlenden Zugangs zu Gesundheitssystemen, auch für reiche Industrienationen. Für Länder wie Indien, Bangladesch, Myanmar oder Länder des afrikanischen Subkontinents, die weder über ein soziales Sicherheitsnetz noch über die Möglichkeit der „sozialen Distanzierung“ verfügen, werden die menschlichen und wirtschaftlichen Folgen der Pandemie voraussichtlich verheerend sein. Infolge neuer existenzieller, globaler Risiken ist die heutige Welt mehr denn je auf internationale Zusammenarbeit angewiesen.
Mit ihrer Vorstellung von grenzenlosem Wachstum und einem ewigen Fortschrittsglauben haben Präsidenten der Babyboomer-Generation wie Jair Bolsonaro, Viktor Orbán und ehemals Donald Trump die Welt zu einem lebensbedrohlichen, gespaltenen Ort gemacht, in dem die Menschheit sich mit steigender Geschwindigkeit auf die eigene Ausrottung zubewegt. Technologische Fortschritte können bei der Einschränkung von Auswirkungen globaler Krisen hilfreich sein, doch selbst die reichsten Länder sind den Konsequenzen von hemmungsloser Ausbeutung und der Zerstörung natürlicher Ressourcen und Ökosysteme letztendlich machtlos ausgeliefert. Auch wenn die Ergebnisse der Weltklimakonferenz 2021 in Glasgow noch deutlich weitreichender ausfallen hätten müssen, so gibt zumindest die Rückkehr der Staatengemeinschaft zur Verpflichtung aus dem Pariser Klimaschutzabkommen 2015, die Erderwärmung aus 1,5 Grad zu begrenzen, Grund zur Hoffnung.
Globalisierung durch das Internet und Soziale Medien
Globalisierung bedeutet, dass das nationale, soziale und politische Leben äußeren Einflüssen unterliegt, die nicht restlos unter der Hegemonie einer Nation, einer Gruppe von Nationen oder einer oder mehrerer regionaler Mächte stehen.₂ Lange Zeit wurde Globalisierung nur im Zusammenhang mit der Sicherung freier Märkte und der Förderung des Welthandels im Einklang mit internationalen Prinzipien, wie z. B. die der WTO, betrachtet. Heute muss Globalismus weitaus umfassender verstanden werden. Technologische Errungenschaften wie das Internet und Soziale Medien haben ein dezentralisiertes, globales Kommunikationsnetz ins Leben gerufen, das überwiegend außerhalb staatlicher Kontrolle operiert.
Zu Beginn der Internet-Ära regte die „Demokratisierung“ der globalen Kommunikation zu utopischen Träumen der Nutzung dieses Mediums zur Einleitung eines neuen Zeitalters des Liberalismus und der Demokratie an. Der Glaube an die Verwendung digitaler Technologie für liberale, demokratische Zwecke wurde während des „Arabischen Frühlings“ gestärkt, als sich die demokratischen Kräfte des Volkes zum Sturz autoritärer Regimes durch globalisierte Kommunikationstechnologien mobilisierte. Ohne das Internet und Soziale Medien wäre auch die globale Sichtbarkeit von Bewegungen wie Occupy 2011 oder die 2019er Proteste in Hongkong undenkbar gewesen.₃ Doch es darf nicht außer Acht gelassen werden, dass die gleichen digitalen Kanäle auch die Stimmen von radikalen Minderheiten oder extremistischen Gruppen verstärken. Um Veränderungen herbeizuführen, braucht man so keine Mehrheit der Wählerschaft, sondern lediglich einen Bruchteil der Bevölkerung, nämlich eine Basis engagierter Anhänger: „Followers“. Die Werte, die öffentlich präsente Gruppen vertreten, sind dabei sehr unterschiedlich, von fortschrittlichen Umweltbewegungen wie „Fridays for Future“ bis hin zu terroristischen Gruppen wie dem IS.
Influencern sind in den Sozialen Medien keine nationalen Grenzen gesetzt. Auch gefährliche Gruppen wie die russischen Hacker bei der US-Präsidentschaftswahl 2016 (oder bei der Brexit-Kampagne oder der Europawahlen) nutzen das Internet und Soziale Medien, um mit verschleierter Identität über nationale und internationale Grenzen hinweg politischen Einfluss auszuüben. Die Grenze zwischen Innen- und Außenpolitik verwischt zunehmend.₄ Im Unterschied zu Sozialen Medien lässt sich der zur Lösung globaler Probleme erforderliche langsame, mühselige Fortschritt der politischen Koalitionsbildung und der Diplomatie nicht in einem Tweet festhalten.
Der Einfluss nicht-staatlicher Akteure auf Nationalstaaten
Die Diskrepanz zwischen politischer und virtueller Realität hat das Vertrauen der Öffentlichkeit in die Glaubwürdigkeit und Wirksamkeit staatlicher Institutionen geschwächt, während sie die Kräfte des Populismus stärkt. Staaten müssen mit Nationalstaaten zusammenarbeiten, die konkurrierenden oder abweichenden Interessen und Werte vertreten, wenn sie ihre eigene nationale Politik innerhalb der Staatengemeinschaft wirksam gestalten wollen. Eine Hauptaufgabe des modernen Staates ist es, seine nationalen Interessen in einen Rahmen regionaler und internationaler Strukturen zu integrieren, um eigene politischen Ziele, wie Sicherheitsfragen, Umweltschutz oder Freihandelsabkommen, umzusetzen. Diese Bemühungen können heute von kleinen Gruppen mit starker Social-Media-Präsenz schnell untergraben, gelenkt und für eigene Interessen instrumentalisiert werden, was zu einem gefährlichen Bedeutungsgewinn extremer Anschauungen führt, die in Wirklichkeit nicht repräsentativ sind für die jeweilige Gruppe oder Gesellschaft, der sie zugeordnet werden.
Nur wenige Staaten können es sich leisten, wie die Vereinigten Staaten es unter der Trump-Administration mit ihrer nationalistischen „America First“ Agenda getan haben, im Alleingang zu fahren. Die Vereinigten Staaten sind politisch, wirtschaftlich und militärisch mächtig genug, um auf der internationalen Bühne ihr Gewicht in die Waagschale zu werfen. Darüber hinaus sind die Vereinigten Staaten in der Lage, ihre Macht zur Einflussnahme auf nichtstaatliche Akteure zu nutzen, wie der anhaltende Einfluss der USA bei der Politikgestaltung des IWF, der Weltbank und der WTO beweist; auf Institutionen, die ihrerseits großen Einfluss auf die nationalen handels- und finanzpolitischen Entscheidungen vieler ärmerer Länder ausüben.₅ Entwicklungsländer haben in diesen Organisationen bis heute nur wenig Einfluss, während diese Politik, die das Vertrauen in internationale Organisationen und demokratische Prozesse nachhaltig erschüttert hat, weiterhin zu noch größerer Armut beiträgt.₆ Doch kaum ein Land kann sich dem Einfluss internationaler Regierungs- und Nichtregierungsorganisationen auf seine staatliche Souveränität in seinen innerstaatlichen Regelungen entziehen. Der Einfluss nichtstaatlicher und privater Akteure auf souveräne Nationalstaaten hat im Zuge der Globalisierung stark zugenommen.
Fazit
Die Globalisierung stellt die Fähigkeit von Ländern mit unterschiedlichen wirtschaftlichen und politischen Systemen sowie unterschiedlichen Interessen und Werten, sich aufeinander abzustimmen, auf die Probe. Diese Herausforderungen beschränken sich jedoch nicht nur auf die Zusammenarbeit zwischen Nationalstaaten, sondern erfordern auch die Kooperation anderer wichtiger privater und öffentlicher Akteure wie großer Stiftungen, Forschungsuniversitäten, Think Tanks und Nichtregierungsorganisationen (NGOs). Die zunehmende Fragmentierung der Welt ist eine Gegenbewegung zu supranationalen Strukturen wie der EU. Dennoch sind alle Staaten auf transnationale Zusammenarbeit angewiesen, um die Korrelation zwischen nationaler Politik und den Erfordernissen der Globalisierung auszugleichen. Dies setzt voraus, dass die Politik von Experten bestimmt wird und dass internationale Organisationen und andere staatliche und nichtstaatliche Akteure sowie die Medien ihre Politik von grundlegenden Menschenrechten und Werten leiten lassen. Dazu gehören die Beteiligung und Präsenz von Staaten in internationalen Organisationen und die effektive Zusammenarbeit mit anderen gesellschaftlichen Akteuren bei der Politikgestaltung.
Die miteinander verflochtenen Volkswirtschaften und Gesellschaften sind anfällig für globale Probleme. Die Ausbreitung der Coronavirus-Pandemie bedroht weiterhin die Weltwirtschaft und die Aufrechterhaltung globaler Lieferketten. Ähnlich wie die globale Finanzkrise zeigt auch diese Krise, dass transnationale und multilaterale Zusammenarbeit zwischen Staaten notwendig ist, um die Auswirkungen systemisch relevanter Krisen abzufedern und zu überwinden. Das Problem bei der Bewältigung von Bedrohungen wie internationalem Terrorismus, Pandemien und dem Klimawandel besteht darin, dass sie nicht mit technischen Mitteln, seien sie wirtschaftlicher, militärischer, finanzieller oder politischer Natur, gelöst werden können. Es braucht vielmehr ein Umdenken und die Anerkennung, dass es notwendig geworden ist, unseren Lebensstil, jenseits individueller Interessen, zugunsten unserer Selbst und anderer anzupassen. Verantwortungsvoller Konsum und die gerechte Verteilung von Ressourcen, die soziale und ökologische Notwendigkeiten berücksichtigen, müssen von jedem Einzelnen eingefordert und umgesetzt werden.
1) D Muro und G Vidal, ‚Persistent Unemployment Poses a Substantive Threat to Democracy in Southern European Countries‘ (LSE EUROPP Blog, 13. März 2014) < https://blogs.lse.ac.uk/europpblog/2014/03/13/persistent-unemployment-poses-a-substantive-threat-to-democracy-in-southern-european-countries/> aufgerufen am 20. November 2021.
2) I Take, ‚Weltgesellschaft und Globalisierung‘ in S Schieder und W Spindler (Hrsg.), Theorien der Internationalen Beziehungen (Verlag Barbara Budrich 2010) 281.
3) J Michie, Advanced Introduction to Globalisation (Edward Elgar 2017) 44–45.
4) M Telò, ‚Globalization, New Regionalism and the Role of the European Union‘ in M Telò, European Union and New Regionalism (Routledge 2016) 11.
5) C Laborde und M Ronzoni, ‚What is a Free State? Republican Internationalism and Globalisation‘ (2016) 64(2) Political Studies 279, 282.
6) S Hameiri, ‚Failed States or a Failed Paradigm? State Capacity and the Limits of Institutionalism‘ (2007) 10(2) Journal of International Relations and Development 122, 129. – In den 1990er Jahren drängten der IWF und die Weltbank viele Entwicklungsländer zur Durchführung von Strukturreformen, wie z. B. die Privatisierung des Agrarsektors, als Voraussetzung für Budgethilfe. Die meisten dieser Länder endeten als gescheiterte Staaten.
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Letzte Änderung: 15.12.2021 | Erstellt am: 16.12.2021