Was da in den 50er und 60er Jahren an künstlerischen Aktivitäten in Polen Bahn brach, galt auch in unseren, gewöhnlich gut informierten Kreisen als Sensation. In der Zeit der „kleinen Stabilisierung“ unter dem Staatschef Władysław Gomułka schritt die polnische Kultur zur Avantgarde. Thomas Rothschild berichtet von der Schallplattenserie „Polish Jazz“, die die Produktionen und Live-Mitschnitte dieser Jahre repräsentiert.
1956, nach dem so genannten „Polnischen Oktober“, leitete Władysław Gomułka in seiner Heimat eine Liberalisierung ein, die im Westen weitgehend wohlwollend beobachtet und kommentiert wurde. Es waren die Jahre, in denen man auch János Kádár und sogar Nicolae Ceaușescu für ihre Unabhängigkeitsbestrebungen gegenüber der Sowjetunion lobte wie später Alexander Dubček. Was aber im Zeichen des anhaltenden Kalten Krieges kaum jemand konzedieren wollte, ist dies: In Polen gab es in den frühen sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts auf allen Gebieten der Kultur eine Vitalität und eine Modernität, mit der kein westeuropäisches Land konkurrieren konnte.
Der polnische Film eroberte sich im internationalen Vergleich mit Andrzej Wajda, Jerzy Kawalerowicz, Andrzej Munk, Roman Polański und mit charismatischen Schauspielern wie Zbigniew Cybulski oder Elżbieta Czyżewska die obersten Ränge. Auf dem Theater setzten Jerzy Grotowski, Tadeusz Kantor, Konrad Swinarski, Kazimierz Dejmek, Krystyna Skuszanka, Józef Szajna, Erwin Axer, Wojciech Siemion Maßstäbe. Die bildende Kunst konnte mit Talenten wie Zofia Artimowska, Stefan Gierowski, Jan Lenica oder Nikifor aufwarten. Polnische Plakate wurden auch jenseits der Grenzen zu Sammelobjekten und Kopiervorlagen. In der Musik erregten Krzysztof Penderecki, Tadeusz Baird und Henryk Mikołaj Górecki internationales Aufsehen. Mit Niemen betrat einer der ausdrucksvollsten Rocksänger des nicht-englischsprachigen Raums die Bühne. In der Literatur gab es in allen Genres so viele überragende Autoren von Zbigniew Herbert bis Wisława Szymborska, von Tadeusz Różewicz bis Sławomir Mrożek, von Jarosław Iwaszkiewicz und Jerzy Andrzejewski über Stanisław Lem und Hanna Krall bis Czesław Miłosz und Leszek Kołakowski, dass man gar nicht erst anfangen mag, sie aufzuzählen.
Auf keinem Gebiet aber ist Polen so offensichtlich autorisiert, den ersten Rang für sich zu beanspruchen, wie auf dem des europäischen Jazz. Die Fülle von Musikern im Polen der sechziger Jahre ist atemberaubend, und keine Stilrichtung, die damals aktuell war, fehlt im polnischen Angebot.
Das ehemals staatliche Label Polskie Nagrania Muza (Polnische Aufnahmen Muse) hat seit Mitte der sechziger Jahre Schallplatten unter dem Serientitel „Polish Jazz“ produziert und es bis 1989 nach und nach auf stolze 76 Folgen gebracht. Die Warner Music Group, die das Label 2015 aufgekauft hat, hat nach 2016 noch ein paar Volumes hinzugefügt und einzelne ältere Folgen als CDs wiederveröffentlicht. Die Auswahl ist halbwegs repräsentativ, aber eben nur eine Auswahl von weniger als zehn Prozent des Bestands. Es fehlt entschieden und unerklärlicherweise der einflussreiche Pianist Andrzej Trzaskowski. (In Polen scheint eine Ausgabe von 15 CDs aus dem Jahr 1989 zum sagenhaften Gesamtpreis von ca. 14 Euro zu kursieren.)
Auf den Hüllen der CDs ist jeweils die Nummer der ursprünglichen Folge auf Vinyl angegeben. Die niedrigste Nummer, 5, ist dem, jedenfalls älteren Jazzfans, wohl bekanntesten polnischen Jazzer, Krzysztof Komeda zugeteilt, und der Pianist spielt darauf mit zwei weiteren prominenten Landsleuten, mit dem Altsaxophonisten Zbigniew Namysłowski und dem Trompeter Tomasz Stańko. Hinzu kommen der deutsche Bassist Günter Lenz und der schwedische Schlagzeuger Rune Carlsson. Die Aufnahme stammt aus dem Jahr 1965. Im Titelstück „Astigmatic“, dem längsten der Platte, lässt Komeda seinen Mitmusikern den Vortritt. Nach der Einführung des Themas absolvieren sie in der erwartbaren Reihenfolge – Stańko (unterstützt von der Rhythmusgruppe), Namysłowski, Lenz, Carlsson – einer nach dem anderen ein ausgedehntes Solo, ehe das Quintett kollektiv zum Thema zurückkehrt. Während das zweite Stück „Kattorna“ durch das Unisono der Bläser geprägt ist, kommt Komeda im dritten und letzten Stück „Svantetic“ endlich zu seinem Recht als Pianist, wobei man bedauern mag, dass es die Technik mit ihm nicht so gut gemeint hat wie mit dem souveränen Kontrabassisten Günter Lenz. Etwas mehr Präsenz würde dem Klavier gut tun. Allerdings kursiert die Ansicht, dass die eigentliche Bedeutung Komedas in der Komposition liege und nicht in seinem Klavierspiel. Er wird kaum je erwähnt ohne den Hinweis auf seine Musiken zu solchen Filmen wie Polańskis „Messer im Wasser“ und „Rosemaries Baby“, Wajdas „Unschuldige Zauberer“, Skolimowskis „Start“ und viele mehr. Krzysztof Komeda war gerade ein Jahr älter als sein Wiener Kollege Joe Zawinul. 1967 reiste er nach Los Angeles, wo er sich 1968 bei einem Unfall eine Hirnblutung zuzog, an der er bald darauf, noch keine 38 Jahre alt, in Warschau verstarb.
Die Volumes 22 und 81 gehören Tomasz Stańko. Die CD mit dem Quintett, bestehend aus Tomasz Stańko (tp), Zbigniew Seifert (ss) – als Geiger ist er leider in der CD-Edition nicht präsent –, Janusz Muniak (ts), Bronisław Suchanek (b) und Janusz Stefański (dr), trägt den Titel „Music for K“, und mit K, klar doch, ist Krzysztof Komeda gemeint. Die fünf 1970 aufgenommenen Stücke, von denen das Titelstück fast die Hälfte der Spielzeit einnimmt, dokumentieren Polens Beitrag zum Free Jazz. Nur schüchtern deuten sich tonale Phrasen an, als sollte der Hörer in die Irre geführt werden. Der beherrschende Gestus dieser CD ist der des Expressiven, der Rebellion und der Anarchie. Und auch hier gibt es keinen wirklichen „Leader“. Zwar trägt das Quintett Stańkos Namen, aber die anderen Musiker sind gleichberechtigt. „Music for K“ ist jedoch ein Meilenstein auf dem Weg Stańkos, der sich mit seinen späteren CDs bei ECM zu einem der bedeutendsten Trompeter im internationalen Maßstab gemausert hat. Aus seinen zahlreichen Aufnahmen vor seinem Krebstod im Jahr 2018 kann man die unterschiedlichsten stilistischen Einflüsse heraushören. Der Free Jazz ist nur einer von ihnen.
Vom Free Jazz ziemlich weit entfernt ist das neben Stańko aus Sławomir Kulpowicz (p), Czesław Bartkowski (dr) und Witold Szczurek (b) bestehende Quartett auf „Music 81“. Wer an eine lineare Entwicklung der Musik glaubt, mag diese CD als Rückschritt gegenüber „Music for K“ empfinden. Ursprünglich 1984 veröffentlicht, klingt sie eher nach 1960.
Volume 46 hat den Titel „Kujaviak Goes Funky“, und genau darum geht es. „Kujaviak“ (korrekt: Kujawiak – das Polnische kennt kein v) bezeichnet einen Bewohner von Kujawien, einer Gegend im Norden Polens, aber auch einen von dort stammenden Volkstanz. Das Zbigniew Namysłowski Quintett – Zbigniew Namysłowski (as), Tomasz Szukalski (ss, ts), Wojciech Karolak (ep), Paweł Jarzębski (b), Czesław Bartkowski (dr) – verknüpft im Titelstück, einer dreiteilige Suite, die fast auf die Sekunde exakt die Hälfte der CD einnimmt, aber auch auf dem vierten und letzten Track „Das verirrte Lämmchen“ den Funk des Jazzrock mit folkloristischen Motiven. Die LP wurde 1975 aufgenommen, und man kann sie als die polnische Antwort auf Weather Report interpretieren, zugleich aber als eine der europäischen Bemühungen, sich durch den Rückgriff auf nationale Überlieferungen von der amerikanischen Hegemonie zu lösen. Es drängen sich auch weniger offensichtliche Assoziationen auf. So hatte Jan Garbarek ein Jahr zuvor mit Keith Jarrett, Palle Danielsson und Jon Christensen das Jahrhundertalbum „Belonging“ aufgenommen. Bei allen Unterschieden in Temperament und Klanggestaltung lassen sich doch zwischen Garbarek und Namysłowski Verwandtschaften entdecken im Streben nach einem spezifisch europäischen Jazz, der die transatlantischen Entwicklungen nicht ignoriert oder gar geringschätzt.
Volume 80 von 2016 ist wiederum Krzysztof Komeda gewidmet, und zwar von seinem zu diesem Zeitpunkt bereits 80-jährigen Weggefährten Jan Wróblewski, der den Spitznamen „Ptaszyn“ („Piepmatz“ – eine Reverenz an Charlie „Bird“ Parker?) trägt. Der Titel der von Joachim Ernst Berendt angeregten LP, die das Wróblewski Sextett paraphrasiert, heißt „Meine süße europäische Heimat“. Das polnische „ojczyzna“ enthält das Wort für „Vater“, wäre also genau mit „Vaterland“ zu übersetzen. Alle Stücke stammen von Komeda. Er hat sie 1967 zu Texten polnischer Dichter komponiert, die damals – „Jazz + Lyrik“ kam gerade in Mode –, von Karl Dedecius ins Deutsche übertragen, auf der LP von Helmuth Lohner gesprochen wurden. Sie sind mit einer Ausnahme durchweg besinnlich und spielen zum Teil auf religiöse Vorbilder an. Höhepunkt ist die nur etwas mehr als drei Minuten lange „Litania“ („Litanei“), ein Hymnus, aus dem Wróblewskis Tenorsaxophon zwei Mal respektlos ausbricht. Für diese Aufnahmen hat sich der Altmeister mit fünf jüngeren Jazzern umgeben, die beweisen, dass der polnische Jazz weiterlebt. Das Doppelalbum ist eine editorische Ausnahmeerscheinung: Es enthält das gesamte musikalische Material in zweifacher Ausführung, einmal als Studioaufnahme und dann als Livemitschnitt, bei dem die Trompete durch ein Sopransaxophon ersetzt wurde.
In die Gegenwart führt auf Volume 85 das Maciej Gołyźniak Trio: Maciej Gołyźniak (dr), Robert Szydło (b) und Lukasz Damrych (p, syn). In Arthur Schnitzlers „Einsamem Weg“ meint Stephan von Sala: „Es scheint mir überhaupt, dass jetzt wieder ein besseres Geschlecht heranwächst, – mehr Haltung und weniger Geist.“ In Analogie dazu ließe sich sagen: „Mehr Elektronik und weniger musikalische Substanz.“ Im Grunde ist „The Orchid“ eine ziemlich einfallslose Angelegenheit, wäre da nicht der Flügelhornist Łukasz Korybalski als Gast. Mit seinen Einfügungen erinnert er an die große Vergangenheit des polnischen Jazz.
Drei Nachsätze
1. In der Polish Jazz-Reihe ist nur eine LP unter dem Namen des Schlagzeugers Czesław Bartkowski erschienen (Vol. 50 von 1976). Sieht man jedoch die Besetzungslisten durch, dürfte es der am häufigsten genannte Name sein. Schlagzeuger sitzen im Hintergrund. Aber ohne sie wären viele Aufnahmen so fad wie eine ungesalzene Suppe. Bartkowski ist der polnische Beitrag zur internationalen Riege der großen Drummer von Art Blakey über Max Roach bis Mel Lewis und Jack DeJohnette. Er sei hier ausdrücklich erwähnt.
2. Die polnischen Jazzstars verzichten auf Standards. Sie sind alle zugleich Komponisten von Format, die ihre eigenen Erfindungen hörbar machen und ausbauen.
3. Erstaunlich viele Stücke des Polish Jazz haben, analog zu modernen Filmen, ein „offenes Ende“. Sie steuern nicht auf eine Klimax zu, sondern verstummen allmählich, tröpfeln wie ein undichter Wasserhahn oder setzen zaghaft zu neuen, nicht ausgeführten Fragmenten an. Dahinter verbirgt sich eine Haltung. „Noch ist Polen nicht verloren.“ Aber wir wollen nicht in den Fehler einer Überinterpretation verfallen.
Letzte Änderung: 28.12.2021 | Erstellt am: 25.04.2021
Jan Ptaszyn Wroblewski Sextet Komeda Moja Slodka Europejska Ojczyzna - Polish Jazz Vol. 80
2 CDs
Label: Polskie Nagrania, 2016