Ludwigsburger Covid-Spätfolgen?

Ludwigsburger Covid-Spätfolgen?

Schlossfestspiele mit Steinzeit und Zeitgeist
Ludwigsburger Schlossfestspiele | © Daniel Wiesmann

Mit dem Intendanten Jochen Sandig wurden die Ludwigsburger Schlossfestspiele zum „Fest der Künste, Demokratie und Nachhaltigkeit“. Nachhaltiger war aber zunächst die Corona-Pandemie, die die Festspiele verhinderte. Nun, da man glaubt, die Gefahr sei vorüber, wurde für den Neustart das Publikum des sonst anspruchsvollen Festivals niedrigschwellig umworben. Thomas Rothschild beschreibt, wie das gelang.

Das Angebot an Sommerfestivals ist kaum noch zu überblicken. Kultur als Tourismusfaktor – sozusagen als Beigabe zur Gastronomie – hat sich durchgesetzt, und selbst an nicht gerade typischen Reisezielen hat man ihren Wert für die regionale Aufhübschung erkannt. Die Ludwigsburger Schlossfestspiele zählen zu den ältesten Veranstaltungen dieser Art. Sie reichen bis in die Zwischenkriegszeit zurück und haben unter den wechselnden Intendanzen unterschiedliche Formate ausgeprägt, bei denen allerdings die Musik stets im Zentrum stand. 2019 wurde Jochen Sandig zum Nachfolger von Thomas Wördehoff berufen, doch ehe er seine Visionen verwirklichen konnte, kam ihm Corona in die Quere.

Das erste, was der neue Intendant ankündigte, war die damals fünfzehn Jahre alte Produktion von Henry Purcells „Dido und Aeneas“ durch Sasha Waltz. Nach zweimaliger Verschiebung taucht sie auch im Programm von 2022 wieder auf – mit drei Vorstellungen im Forum am Schlosspark mit seinen mehr als 1200 Sitzplätzen. Wer die örtlichen Gegebenheiten kennt, mag sich fragen, ob sich Sandig über das Auslastungspotential der Festspielgemeinde kundig gemacht hat. Ein Ausflug in das 15 Kilometer entfernte Ludwigsburg scheint den meisten Stuttgartern offenbar unzumutbarer als ein Besuch von Potsdam den Berlinern. Vielleicht führt der Hinweis, dass Jochen Sandig mit Sasha Waltz verheiratet ist, auf eine Spur. Auch ein zehn Jahre altes Projekt mit dem Titel „Human Requiem Brahms“ stammt aus dem gemeinsamen Fundus von Sandig und Waltz.

Daneben entdeckt man im diesjährigen Festival alte Bekannte wie Isabelle Faust, die schon bei Wördehoff zu den Ludwigsburger Stammgästen gehörte, und die freilich, nachdem sie diesmal im perfekten Zusammenspiel mit der Cellistin Sol Gabetta und dem Pianisten Kristian Bezuidenhout und mit Beethovens Tripelkonzert in Ludwigshafen (!) und ehe sie in Luzern, München und Berlin gastierte, so sehr fasziniert, dass es fast egal ist, wer sie eingeladen hat.

Ihre kurze Tournee eröffnete in Ludwigsburg auch die Geigerin Patricia Kopatchinskaja mit ihrem Programm „Les Adieux“. Das Mahler Chamber Orchestra spielt unter ihrer Leitung und im Stehen ohne Übergänge Beethovens 6. und den Trauermarsch aus seiner 3. Symphonie sowie Fragmente von Schumann, Schostakowitsch und Nono. Die Kopatchinskaja tritt wie gewohnt barfuß auf, in einem schlichten Bühnenbild. Fade projizierte Naturbilder begleiten die „Pastorale“, verstörende Fernsehausschnitte unterbrechen sie. Zu Schostakowitsch öffnen und schließen sich Blüten im Zeitraffer. Das Ganze ist insofern zeittypisch, als es das Misstrauen gegenüber der Musik belegt. Was die Schlagerrevue vorgemacht hat, wird nun auch in der „Klassik“ nachgeahmt: die unsinnige visuelle Zutat, die nichts einbringt, sondern nur ablenkt. Eigentlich schade. Denn das Mahler Chamber Orchestra ist ein hervorragender Klangkörper, der aufmerksames Zuhören verdiente. Unser Musiklehrer im Gymnasium wählte einst gerne Programmmusik für den Unterricht, weil sie weniger Musikaffinen den Zugang erleichtert, aber er machte kein Geheimnis daraus, dass er Programmmusik für zweitrangig hielt. Konzerte wie „Les Adieux“ bestärken die Unsitte des Inhaltismus. Veranstalter mögen das. Wer mit Kunst mehr im Sinn hat als die didaktische Aufbereitung von Gesinnung, sieht das anders. Aber vermutlich wird der nicht Festivalleiter oder kann zumindest die zuständigen Politiker nicht beeindrucken wie vollmundige Beschwörung von Nachhaltigkeit und Betroffenheit. Im übrigen ist auch diese Strategie nicht von Erfolg gesegnet. Der Saal blieb nur halb voll, also halb leer.

Einer der schönsten Veranstaltungsorte der Ludwigsburger Festspiele ist die Alte Kelter im benachbarten Bietigheim. Über Jahre hinweg wurde sie vernachlässigt, bis Thomas Wördehoff sie wieder in seine Programmierung einbezog. Traditionell fanden hier Konzerte statt, die sich nicht in das übliche System der Genres einordnen ließen. So auch diesmal die „Diálogos Flamenco Barroco“ der Accademia del Piacere. Auch hier allerdings: von den siebzehn Reihen waren nur zehn gefüllt. (Der Berichterstatter wurde mit seiner Begleitung in die leere elfte gesetzt.) Wenn es zutrifft, dass die Menschen nach den Lockdowns nach Live-Kultur ausgehungert seien, dann ist es jedenfalls den Machern der Ludwigsburger Schlossfestspiele nicht gelungen, die angebotene Verköstigung hinreichend attraktiv zu servieren.

Flamenco als Kunstmusik, mit zwei nicht eben flamencotypischen Violen da Gamba, einer Gitarre und Perkussion und Eigenkompositionen des als Sohn eines syrischen Vaters und einer palästinensischen Mutter in Spanien geborenen Gambisten und Leiters der Accademia Fahmi Alqhai, aber auch einer Komposition von Claudio Monteverdi – das klingt apart, aber die Vitalität und die Kraft des genuinen Flamenco gehen bei diesem Crossover, das immerhin von solchen spezialisierten Festivals wie den Innsbrucker Festwochen der Alten Musik akzeptiert wird, verloren. Wäre da nicht die Stimme und die Artikulationstechnik der Sängerin Rocío Márquez. Sie verfügt über das charakteristische Timbre, die Stimmfarbe des Flamencogesangs, erinnert aber auch an Mercedes Sosa und an die großen Interpretinnen des Fado und steht beziehungsweise sitzt buchstäblich im Zentrum der Darbietung.

Eine der schönsten Veranstaltungen der diesjährigen Festspiele war angekündigt als „Pina Bausch Sacre“. Das ist ein wenig irreführend. Wer annahm, es handle sich um ein Gastspiel des Tanztheaters Wuppertal, musste sich korrigieren lassen. Zwar wurde Pina Bauschs Choreographie von Strawinskys „Le sacre du printemps“ („Das Frühlingsopfer“) aus dem Jahr 1975 getanzt, aber nicht vom aktuellen Ensemble an Pina Bauschs Wirkungsstätte, sondern, in einer aufwendigen Koproduktion, von afrikanischen Tänzerinnen und Tänzern.
Wie soll man den Abend beschreiben, ohne den Verdacht des Rassismus zu erregen? Ein großer Teil der Wirkung hängt nun einmal mit der Tatsache zusammen, dass die Akteure Schwarze sind, mitsamt den Klischees, die sich damit verbinden. So zu tun, als wäre das den Zuschauern nicht bewusst, hieße, sich zugunsten des Anscheins eines unverfänglichen Sprachgebrauchs dumm und blind zu stellen. Tatsächlich nimmt man in Strawinskys Musik wie in Pina Bauschs Choreographie Elemente wahr, die man, wenn man es nicht besser wüsste, für „typisch afrikanisch“ halten möchte.

Vorausgeschickt wurde dem mit dem zugkräftigen Namen Pina Bauschs beworbenen modernen Klassiker ein stilles, introvertiertes, fast hermetisches Duett von Germaine Acogny, der 78jährigen Gründerin der senegalesischen École des Sables, und der nur 74jährigen Malou Airaudo namens „common ground[s]“, das mit der mit Maurice Béjart konkurrierenden wilden Zügellosigkeit und den faszinierenden Gruppenszenen des „Sacre“ kontrastierte.

Der barocke Ordenssaal des Ludwigsburger Schlosses, das den Festspielen seinen traditionellen Namen gab, ist entschieden schöner als das moderne Forum am Schlosspark, aber bei hohen Temperaturen auch entschieden ungemütlicher. Hierher kehrte auch Dorothee Oberlinger zurück und brachte Anna Friederike Potengowski mit, die auf Steinzeitflöten spielt, genauer: auf Replikas aus Vogelknochen. Es wurde ein Höhepunkt der heurigen Festspiele – neben dem Oratorium „Il diluvio universale“ von Michelangelo Falvetti, das 1682 in Sizilien uraufgeführt wurde. Die Partitur, verschollen und vergessen, wurde erst in unserem Jahrhundert wiederentdeckt und das Werk 2010 von der Cappella Mediterranea und dem belgischen Chœr de Chambre de Namur unter der Leitung des Argentiniers Leonardo García Alarcón und jetzt eben in Ludwigsburg wiederaufgeführt. Oberlinger und Potengowski erklärten ihre Instrumente, charmant und sachlich. Hingegen fragt man sich, warum die Texter von Programmen stets in Superlativen schwelgen, als hätten die Musiker das nötig. So heißt es über Dorothee Oberlinger, ihr sei „das Kunststück gelungen, die Blockflöte von ihrem lausigen Image als ‚Schreckenspfeife aus dem Kinderzimmer‛ zu befreien“. Das ist Frans Brüggen schon gelungen, als sie noch nicht geboren war.

Allerdings wird die Blockflöte gemeinhin mit Alter Musik assoziiert, in der sie eine zentrale Rolle spielt (von wegen „Kinderzimmer“!) und zu deren profilierten Kennern auch Dorothee Oberlinger zählt. Das Besondere des Programms, das den Titel „Eternal Breath – Ein Atem durch die Zeit“ trägt, und an dem neben Oberlinger und Potengowski der Perkussionist Georg Wieland Wagner sowie das Ensemble l’arte del mondo unter der Leitung von Werner Ehrhardt mitwirken, ist die Verklammerung von alter und zeitgenössischer Musik – von Dorothée Hahne, Willy Merz sowie von den Beteiligten Potengowski und Wagner. Ein kurzes Stück von Potengowski heißt „Vogelimprovisation“ und geht bruchlos über in das Allegro aus Vivaldis „Der Distelfink“. Offenbar haben die Blockflöte und ihre Vorläufer seit der Steinzeit von den Vögeln gelernt. Oder war es umgekehrt?
 
 
Ludwigsburger Schlossfestspiele

Letzte Änderung: 19.07.2022  |  Erstellt am: 16.07.2022

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Kommentare

Melanie Suchy schreibt
Lieber Herr Rothschild, was Sie da über das Tanzgastspiel von "Pina Bausch Sacre" schreiben, wird der Sorgfalt, die Ihre sonstigen Rezensionen auszeichnet, nicht gerecht, finde ich. Haben Sie denn je das Original des "Sacre" gesehen? Es wird ja alle paar Jahre vom originalen Wuppertaler Tanztheater wiederaufgenommen. Was war denn nun in der gesehenen Version im Vergleich damit so anders?

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