Cool

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Jazz – neue CD-Veröffentlichungen
Dave Brubeck (l.) und Paul Desmond | © Carl van Vechten

Wer jemals „Take Five“ gehört hat, wird das Stück ein Leben lang nicht mehr aus dem Kopf kriegen. Das liegt nicht nur am ungewöhnlichen Fünfviertel-Takt, sondern an Paul Desmonds musikalischen Ausdrucksweise. Der Saxophonist, der das Stück auch komponiert hatte, greift einem mit seinem fließend gehauchten Spiel unmittelbar ins Gemüt. Von seinen Studioproduktionen auf CD und anderen Veröffentlichungen von Musikern, deren Namen allein schon klingen, berichtet Thomas Rothschild.

Paul Desmond, Jim Hall, Anita O’Day, Jimmy Giuffre, Stan Getz, Gerry Mulligan, Lee Konitz

Cool hat man in den vierziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts, noch lange, ehe die Vokabel differenziertere Ausdrücke als Modewort inflationär ersetzte und ihre spezifische Bedeutung einbüßte, eine Stilrichtung des Jazz genannt. Auf der Trompete wurde Miles Davis ihr Großmeister. Aber eine ganze Reihe von Saxophonisten, die aus der Jazzgeschichte nicht wegzudenken sind, haben den Cool Jazz in ihrer je eigenen Art gepflegt und weiter entwickelt.

Einer davon ist Paul Desmond. Man kennt ihn in erster Linie als Partner des Pianisten Dave Brubeck und als Komponisten des Superhits „Take Five“. Aber vielleicht mehr noch als in Brubeck fand Desmond in dem Gitarristen Jim Hall einen Mitmusiker, der seinen Stil und sogar, bei aller Verschiedenheit der Instrumente, seine Klanggestaltung teilte.

Jetzt ist eine Box mit vier CDs erschienen, die sämtliche Studioaufnahmen des Paul Desmond – Jim Hall Quartet, ursprünglich sechs LPs, enthält. Zum Quartett wird das Duo durch den Schlagzeuger Conny Kay, bekannt als Drummer des Modern Jazz Quartet, und durch, abwechselnd, Percy Heath, George Duvivier, Gene Cherico und Gene Wright am Kontrabass. Conny Kay hält sich durchweg zurück, benützt vorwiegend die Becken, und die Bassisten beschränken sich, höchst wirkungsvoll, auf die Technik des Walking Bass. Auf zwölf Bonus Tracks kommt noch ein Orchester hinzu.

Mit seinem Legato und seinem gedämpften Sound scheint der Altsaxophonist Desmond ebenso wie Jim Hall mit seinen Akkorden, seinem Melodiespiel und seinen Tönen, die wie Wassertropfen aus den Saiten perlen, der Nervosität und den Eruptionen des damals dominierenden Bebop den Kampf anzusagen. Dabei benützt er teilweise das gleiche musikalische Material, mit dem er allerdings auf seine Weise umgeht. Unter den 56 Stücken der Edition finden sich Standards wie „Greensleves“, „Two Degrees East, Three Degrees West“, „You Go To My Head“, „Here’s That Rainy Day“, „My Funny Valentine“, „I’ve Got You Under My Skin“, „Autumn Leaves“, Filmschlager wie „A Taste Of Honey“ oder „Hi-Lili, Hi-Lo“ und neben dem „Samba de Orfeu“ aus Marcel Camus’ „Orfeu Negro“ Eigenkompositionen von Desmond mit lateinamerikanischen und anderen Rhythmen, auch ein paar Stücke von Jim Hall. Manchmal muss man sich anstrengen, die vertrauten Themen zu entdecken, so frei und doch streng auf der Grundlage der vorgegebenen Harmonien, wie es der Jazz vor dem Free Jazz verlangt, improvisieren Desmond und Hall.

Zu den Saxophonisten des Cool Jazz gehört auch Paul Desmonds Altersgenosse Jimmy Giuffre, der, wie Desmond, gerne mit Jim Hall zusammen spielte. Er machte sich aber auch als Arrangeur einen Namen. Die wunderbare Sängerin Anita O’Day, die stets ein wenig im Schatten von Ella Fitzgerald stand, hat mehrere Standards im Arrangement von Jimmy Giuffre aufgenommen, begleitet von Stars der Jazzgeschichte wie Art Pepper, Frank Rosolino, Mel Lewis und Jimmy Giuffre selbst. Die Arrangements von Jimmy Giuffre machen knapp die Hälfte der Tracks auf der vorliegenden CD aus. Die anderen sind Songs von Cole Porter im Arrangement von Billy May sowie eine Aufnahme mit dem Schlagzeuger Gene Krupa und unter anderem Benny Carter, Red Nichols, Barney Kessel. Alle Titel bis auf „Memories Of You“ mit Gene Krupa wurden im April 1959 aufgenomen. Auffällig ist das extrem schnelle Tempo, mit dem Anita O’Day einzelne Songs interpretiert, die üblicherweise eher langsam gesungen werden, wie beispielsweise „Love For Sale“, „I Get A Kick Out Of You“ oder „Night And Day“.

Zu den Höhepunkten der Schallplattengeschichte gehört das „Gipfeltreffen“ zwischen den damals 30jährigen Saxophonisten Stan Getz und Gerry Mulligan im Jahr 1957. Beide galten bereits als Pioniere ihres Instruments, die durch unverwechselbare Klanggebung und Improvisationstechniken aufgefallen waren, und beide hatten schon einen Gefängnisaufenthalt wegen Drogenmissbrauchs hinter sich, der ihre Karriere vorübergehend unterbrochen hatte. Ergänzt wird das Duo durch Lou Levy am Klavier, Ray Brown am Bass und Stan Levey am Schlagzeug. Stan Getz spielt Tenorsaxophon, Gerry Mulligan das sprödere Baritonsaxophon, auf drei Titeln aber tauschen sie ihr Leibinstrument aus, und Getz bläst das Baritonsaxophon, Mulligan das Tenorsaxophon. Es gibt wenig Aufnahmen, die so schlagend beweisen, dass es für einen Dialog keiner Worte bedarf. Wie sich Getz und Mulligan abwechseln, wie sie einander in halben Phrasen ergänzen, wie sie die Besonderheiten von Tenor und Bariton auf einander abstimmen, das ist phänomenal. Hier gerinnt Musik zur Utopie der Verständigung, die uns im Alltag so oft fehlt. Die Rhythmusgruppe will da nicht stören, aber wenn dem Klavier, meist gegen Ende des Stücks, ein kurzes Solo gewährt wird, bewegt es sich auf dem von den Saxophonisten definierten Niveau.

Wer es mit der Begrifflichkeit genau nimmt, mag einwenden, dass Stan Getz und Gerry Mulligan zwar vom Cool Jazz infiziert, nicht aber Vertreter dieser Stilrichtung im strengen Sinn sind. Das wird deutlich, wenn man die Aufnahmen von Getz und Mulligan mit den fast zur gleichen Zeit, 1956 entstandenen Quartettaufnahmen von Lee Konitz vergleicht. Da steckt noch eine Menge Swing drin. Er steht nicht im Gegensatz zum Cool des Altsaxophons oder gelegentlich des Tenorsaxophons. Die Aufmerksamkeit sei gelenkt auf den Gitarristen Billy Bauer. Er spielt in vier Titeln im Quartett und ist nicht so berühmt wie Jim Hall, aber seine Soli verdienen es, auch neben dem großen Lee Konitz beachtet zu werden.

Ein Ausflug in die Vergangenheit, mehr als ein halbes Jahrhundert zurück: Neuauflagen in erstklassiger technischer Qualität machen ihn möglich. Und es erweist sich: der Cool Jazz ist nicht stärker „veraltet“ als Bach, Mozart oder Schostakowitsch. Mag sein, dass der Jazz – wie übrigens auch der Rock – historisch geworden ist. Ein Blick in die verbliebenen Jazzclubs und auf die Konzertprogramme scheint diesen Befund zu bestätigen. Auch das Fahrrad ist historisch. Ist es deshalb schlechter als das Auto oder der Elektroroller?

Letzte Änderung: 08.08.2022  |  Erstellt am: 08.08.2022

Lee Konitz | © Carl van Vechten

Lee Konitz (1927-2020) The Complete 1956 Quartets / The Real Lee Konitz (1956-1957)

2 CDs
Essential Jazz Classics, 2022

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Getz & Mulligan | © Carl van Vechten

Stan Getz & Gerry Mulligan Getz Meets Mulligan In Hi-Fi (1957)

CD
Essential Jazz Classics, 2022

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O'Day & Giuffre | © Carl van Vechten

Anita O'Day & Jimmy Giuffre Cool Heat-Anita Oday Sings Jimmy Giuffre (Arrang.)

CD
Essential Jazz Classics, 2022

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Desmond & Hall | © Carl van Vechten

Paul Desmond & Jim Hall Complete Recordings (1961-1965)

4 CDs
Essential Jazz Classics, 2022

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Kommentare

radiohoerer schreibt
Hallo Herr Rothschild, und danke für diese sehr informative Zusammenstellung. Es ist immer wieder wichtig auf die Musik von Paul Desmond, Jim Hall, Anita O’Day, Jimmy Giuffre, Stan Getz, Gerry Mulligan, Lee Konitz aufmerksam zu machen. Zeitlos schön ist sie immer noch. Im Punkt Gipfeltreffen ist mir allerdings das Duo Gerry Mulligan & Paul Desmond lieber. Aber das ist ja immer eine Geschmackssache ;) Merci und Gruß

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