Die alte Turnhalle

Die alte Turnhalle

Snap Shot #11
 | © Artur Becker

Die Reihe „Snap Shots“ widmet sich Schnappschüssen, die keinen Filter brauchen. Hier treffen Bilder, unvermittelt mit dem Handy fotografiert, auf Worte, die einen Gedanken auf den Punkt zu bringen suchen. Diese Momentaufnahmen konzentrierter Aufmerksamkeit sind so unterschiedlich wie die Wege, die zum gemeinsamen Ziel führen: ein offener Austausch über was uns bewegt und als Menschen verbindet. Wir laden unsere Autor:innen dazu ein, sich mit kleinen oder großen Gedanken an der Reihe zu beteiligen.

Am 27. Dezember, vor meiner Silvesterfahrt nach Warschau, machte ich einen meditativen Abschlussspaziergang, um das Jahr 2024 würdig zu verabschieden. Mit dem Universitätsklinikum im Rücken und der Sonne im Gesicht ging ich endlich, weil ich es mir schon vor langer Zeit vorgenommen hatte, über die Eisenbahn- und Fußgängerbrücke, die Main-Necker, so dass ich an der Gutleutstraße landete und mein Ziel, den Sommerhoffpark direkt am Flussufer, ansteuern konnte. Im Park war fast niemand, nur drei, vier Leute vielleicht, die Sonne schien herrlich warm für diese Jahreszeit, und die Luft wirkte befreiend wie am Meer. Ich stieß zunächst auf den Gedenkstein für die Kindsmörderin Susanna Margaretha Brandt, die 1772 verurteilt und hingerichtet wurde und die Goethe in seinem Faust als Gretchen großzügig verwurstet hatte, und dann ging ich am Mainufer weiter, verließ den Park und erblickte plötzlich die Turnhalle der Werner-von-Siemens-Schule und wachte sofort auf ‒ aus meinem Traum eines großstädtischen Flaneurs. Die verfallende Turnhalle war voller Graffitis an ihren Mauern und Glasscheiben und mit diesen kaputten, schlapp herabhängenden Fenstermar-kisen, deren Tücher aufgerissen waren, machte sie mich neugierig: Das ganze Gebäude wirkte von außen dystopisch, aber seine westdeutsche Architektur katapultierte mich zurück in die Achtzigerjahre des 20. Jahrhunderts, womöglich ins Jahr 1988 oder 1989; ich machte eine Zeitreise in die alte BRD. Und dann wunderte ich mich, als ich einen Blick in das Innere der Turnhalle wagte, dass sie offenbar noch ganz normal im Betrieb war. Und da dachte ich: Ja, die alte BRD ist noch im Betrieb, es wird noch Basket- und Volleyball gespielt, Badminton und Fußball, und die Turner machen ihre alltäglichen Übungen. Aber die ganze Republik ist bloß wie in Platons Höhlengleichnis ein schwacher Abklatsch ihrer einstigen Größe, ein Schatten über Mainhattan. Vor unseren Augen, dachte ich, geht diese alte BRD unter und wird nie wieder zurückkehren.

 | © Foto: Artur Becker

Letzte Änderung: 11.01.2025  |  Erstellt am: 25.10.2024

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