Neun Millimeter

Neun Millimeter

Die Kurzgeschichte thematisiert existenzielle Frage der Liebe: Schuld, Freiheit und Selbstzerstörung
Walther | © Foto Michele Sciurba

Michele Sciurba erzählt von einem zwielichtigen Mann, der sich mit einer tiefgreifenden Liebestragödie auseinandersetzt. Er lebt in einer emotionalen Kälte, in einer Welt der existenziellen Verzweiflung, in der die Kriminalität sein Tun beherrscht. Aber er erlebt eine Liebe zu einer Frau, die für ihn ins Feuer gehen kann ‒ buchstäblich. Erst während einer einzigen Nacht in der Gefängniszelle wird ihm klar, wie wichtig für ihn diese Liebe war und was für ein zerstörerisches Leben er geführt hatte.

Vor dem Haus wartete, wie immer, mein Fahrer in der schwarzen S-Klasse. Pünktlich stand er da, ein schweigender Zeuge dessen, was ich geworden war, und hielt mir die Tür auf. Ich setzte mich auf den Rücksitz, wie üblich, als wäre die Polsterung dort das letzte Stück Heimat, das ich besaß. Er war kein schlechter Typ. Nicht wie mein alter Freund, der bosnische Serbe, der mich jahrelang begleitet hatte — kalt, berechnend, mit jener gefährlichen Ruhe, die nur Männer entwickeln, die nichts mehr zu verlieren haben. Aber dieser Fahrer hier, über den ich mich hatte erkundigen lassen, hatte acht Jahre wegen Betrugs bekommen, davon vier abgesessen. Er wusste nicht, dass ich das wusste. Und vielleicht deshalb erkannte ich in ihm diese milde Feigheit, die fast rührend war. Er war weich, und das machte ihn mir zugleich seltsam fremd.

Doch während wir losfuhren, beschlich mich wieder das Gefühl, etwas übersehen zu haben. Etwas, das sich nicht abschütteln ließ. Ich dachte an sie — die junge Frau, in die ich mich verliebt hatte. Sie hatte mich unvorsichtig werden lassen. Sie war der Riss im Beton meines Lebens. Jetzt war es aus. Ich hatte losgelassen.

9mm

Aber bevor ich losließ, fragte sie mich nach einer Pistole. Ob ich ihr eine besorgen könne. Natürlich hätte ich es gekonnt — es war nie eine Frage des Könnens gewesen. Doch ich sah in ihren Augen, dass die Waffe entweder gegen mich oder gegen sie selbst gerichtet würde. Deshalb lehnte ich ab. Es war kein moralischer Akt, sondern schlicht Angst: Ich wusste, sie würde nie abdrücken, ohne mich mit in den Abgrund zu zerren.

Wir hatten uns in den letzten Monaten immer wieder geliebt. Sie hatte ihren Widerstand aufgegeben, sich gegen die Anziehung zu wehren, die uns verband — ohne den Hass abzulegen, den sie auf mich hatte. Hass auf alles, was ich war: reich und unmoralisch, in ihren Augen. Hass auf ihre eigenen Enttäuschungen, auf ihr Leben als alleinerziehende Mutter, auf die geplatzten Träume, den Vater ihres Kindes, der lieber Musik machte als Verantwortung zu tragen, weder für sie noch für den sechsjährigen Jungen. Und sie wusste, dass ich nicht allein war. Nie allein. Sie wusste, dass es andere Frauen gab, andere Orte, andere Nächte.

Zwischen uns gab es diesen Moment: zwischen Hass und Hoffnung, Genuss und Liebe. Einen Atemzug, in dem sie mich noch mehr liebte — und sich selbst dafür verachtete, dass sie nicht aufhören konnte, mit mir zu sein.

Ich klingelte an der Tür dieses heruntergekommenen Backsteinhauses, und wusste, ich musste loslassen. Sie würde mich verraten. Sie würde sich zerstören und mich mitnehmen, nur um der Illusion moralischer Prinzipien treu zu bleiben. Als sich die Wohnungstür öffnete, stand sie vor mir, bekifft, ungeduscht, in Jogginghose und T-Shirt. Ihre betongrauen Augen blickten mich distanziert an.

„Was willst du?“
„Dich verlassen.“

Wir setzten uns ins Wohnzimmer. Kaum hatte ich es mir auf der Couch bequem gemacht, zog sie eine 9-mm-Glock unter dem Kissen hervor und richtete sie auf meine Brust.
„Von deinem Geld. Erst töte ich dich, dann mich.“
Ich sah sie an und fragte nur: „Ich dachte, du liebst deinen Sohn?“

Dann lag die Glock plötzlich am Boden. Ich schnappte mir sie, schob die Waffe einen Meter weit über den Boden. Doch als unsere Panik nachließ, küsste sie mich, obwohl wir beide aufgewühlt waren, und es war das letzte Mal, dass ich sie berührte. Die Waffe entsorgte ich später in der Fulda.

Ich hätte es wissen müssen.
Doch ich ließ erst wirklich los, als es längst zu spät war.

Freiheit

Und so saß ich am nächsten trüben, regnerischen Morgen wieder in meiner schwarzen S-Klasse. Der Regen prasselte kalt gegen die Scheiben, der Regen war für mich ein leises Mahnmal dafür, dass die Welt sich nicht um meine Müdigkeit kümmerte. In meinem Kopf herrschte Katerstimmung — nicht nur vom Alkohol, sondern von all den vergangenen Tagen, die in mir nachhallten, aber wie eine Wahrheit, die man nicht mehr wegdiskutieren kann. Alles fühlte sich verlangsamt an, als würde selbst die Zeit vorsichtig auftreten, um mich nicht zu wecken, obwohl ich längst wach war.

Auf dem Weg zum Flughafen hielten sie uns an. Kein Wort fiel. Keines war nötig. Es war dieses erstickende Schweigen, das sich zwischen Menschen legt, die einander nicht begegnen wollen, sondern nur ihren Rollen gehorchen. Ich habe Bullen schon immer für eine der armseligsten Gattungen gehalten — nicht arm an Geld, sondern an Freiheit. Nicht, dass es dort keine guten oder gar klugen Menschen gäbe; das wäre töricht. Aber die meisten von ihnen stellen keine Fragen, weil Fragen gefährlich werden könnten. Fragen könnten ihre Welt erschüttern, in der alles seinen Platz hat, sogar das Unrecht, solange jemand ihnen sagt, dass es Recht ist.
Die Uniform verleiht ihnen Macht, die nicht ihre eigene ist. Eine geliehene, kalte Macht, die sie glauben lässt, über den Rest der Welt zu stehen, während sie in Wirklichkeit tiefer im System verstrickt sind als jeder, den sie kontrollieren. Sie sprechen von Gesetz und Ordnung, aber Gesetze ohne Gerechtigkeit sind wie Türen ohne Häuser – sie stehen irgendwo im Leeren, und jeder tut so, als hätte das noch Bedeutung.

Worte wie Unschuldsvermutung oder Anfangsverdacht klingen heute wie Gedichte aus einer Epoche, die der Angst geopfert wurde — der Angst und dem kindischen Wunsch nach einer Sicherheit, die nur existiert, wenn man bereit ist, seine und die Freiheit anderer zu opfern.

Sie forderten mich auf, aus dem Wagen zu steigen. Ich tat es, nicht nur weil ich musste, sondern weil Widerstand in diesem Moment nur zu einem weiteren Monolog geführt hätte, den keiner hören will. Der Regen hatte aufgehört, doch der Himmel blieb schwer, als würde er uns alle beobachten. Ein kurzer Griff an meine Schulter, ein deutendes Nicken, und schon saß ich im Wagen, der mich zur Polizeiwache brachte.

Wir fuhren schweigend. Ich blickte aus dem Fenster, sah die nassen Straßen, die Menschen, die weitergingen, als wäre dies ein gewöhnlicher Morgen. Und vielleicht war es das ja: ein gewöhnlicher Morgen in einem Land, das gelernt hat, Ungerechtigkeit zu übersehen, solange sie im richtigen Tonfall ausgesprochen wird. Und während wir weiterfuhren ‒ ich auf dem Hintersitz zwischen zwei Bullen ‒, wuchs in mir das Gefühl, dass dieser Moment nicht nur ein Ereignis war, sondern ein Spiegel. Ein Spiegel, der mir zeigte, wer wirklich frei ist — und wer nur so tut. Die einzig verlässliche Freiheit waren die Erinnerungen in meinem Kopf, die mich wieder zu ihr brachten.

Später erfuhr ich, dass sie tot war. Eine Überdosis von etwas, das ich nicht einmal beim Namen kannte. Und doch konnte ich behaupten, dass das Gift von mir war.

Die Zelle

Die übertriebene Funktionalität, die routinemäßige Art, wie man mich hineinschob, machte aus mir ein Objekt, ein Stück Ware im Besitz des Staates. Nichts mehr erinnerte daran, dass ich ein Mensch war. Man wollte abschrecken. Man wollte Macht zeigen. Und ich wusste aus Erfahrung: Wenn man einmal hier ist, kann es ab jetzt nur besser werden, sagte ich mir. Das angeschraubte Edelstahl Klo in der Ecke ohne Klobrille und das rechteckige beton Podest mit der Grünen Plastikmatratze waren der Schmuck, der diesen fensterlosen Raum zu einem Ort der Verzweiflung machte. Ich hatte schon an vielen unwirklichen Orten geschlafen, dieser hier war einer von den Orten, in denen man vom Mensch zum Aktzeichen wird.

Ich gab meine Schnürsenkel ab, meinen Gürtel, jedes kleine Stück, mit dem ich mir selbst das Urteil hätte sprechen können. Dann schloss sich die Tür von außen, lautlos beinahe, und doch mit einer Endgültigkeit, die mir durch Mark und Bein fuhr. Der Raum, kahl wie ein ausgespültes Gewissen, ließ keinen Zweifel an seiner Bestimmung. Wände, Boden, selbst die abgestandene Luft — alles trug den Geruch einer sorgfältig konstruierten Hoffnungslosigkeit.
In der Art, wie man mich hineinschob, lag kein Zorn, nur Routine. Und gerade diese Routine machte mich zu einer Sache, einer Bestandsnummer im Eigentum des Staates. Nichts an diesem Ort sollte einen daran erinnern, dass man einmal ein Leben geführt hatte, in dem es Wünsche oder Freunde oder Liebe gab. Dieser Ort war gebaut, um abzuschrecken. Um Macht zu demonstrieren.

Und doch wusste ich — aus bitterer Erfahrung — dass, wenn man erst einmal hier ist, der Fall seinen Tiefpunkt bereits erreicht hat. Ab jetzt konnte es, so sagte ich es mir erneut, nur noch besser werden.
Das Edelstahlklo glich einem Mahnmal an die Unfreiheit, ohne Brille, ohne Scham. Daneben das rechteckige Betonpodest, auf dem eine grüne Plastikmatratze lag, dünn wie ein Versprechen, das niemand einzulösen beabsichtigt. Mehr gab es nicht in diesem fensterlosen Käfig, er erinnerte an einen Ort, der für Täter gemacht war. Ein Ort für Schuldige, kein Ort für Freie. Ich hatte schon an vielen unwirklichen Orten geschlafen. Aber hier, hier wurde man nicht nur eingesperrt — man wurde verwandelt. Vom Menschen zum Aktenzeichen. Vom Ich zu einem kaum hörbaren Echo. Und genau darin lag die eigentliche Strafe, man zweifelte an sich und der Möglichkeit der eigenen Unschuld.

Bevor ich einschlief, erinnerte ich mich an die Sahara. Einige Tage zuvor war ich über sie geflogen, in einer kleinen Privatmaschine von Algier nach Tamanrasset. Die Wüste sah von oben aus wie ein zu Boden gefallener Sternhaufen, dünne Formationen wie Galaxien, überwältigend schön und gnadenlos. Und diese Schönheit durfte nicht darüber hinwegtäuschen, dass dort unten niemand lange überlebt. Ein Ort der grenzlosen Freiheit, in der man nicht überleben kann.

Am frühen Morgen öffnete sich die Tür. Süße Früchte, Tee, ein ungetoastetes Sandwich mit einem undefinierbaren Belag wurden mir gereicht. Es sah so aus, wie es schmeckte. Ich aß es trotzdem. Ich rechnete damit, am nächsten Tag einem Haftrichter vorgeführt zu werden, stattdessen sagte man mir, mein Anwalt sei da. Ich dürfte gehen.

Wenige Tage später erfuhr ich, dass sie sich selbst und ihren Jungen vergiftet hatte. Mit meinem Gift.

Auch wenn ich das Gebäude verlassen durfte — begann das Gift auch in mir zu wirken.

Letzte Änderung: 19.12.2025  |  Erstellt am: 19.12.2025

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