Süßes kleines Häschen

Süßes kleines Häschen

SEITENWECHSEL
James Hopkins | © privat

SEITENWECHSEL heißen Tagebuchnotizen aus dem Rheinland, aus Riga, Portland, Oregon; aus Barcelona und Kathmandu. James Hopkins ist einer von sechs Autorinnen und Autoren des aktuellen SEITENWECHSELS, der von Faust-Kultur aufgenommen wird. Er schreibt einmal nicht aus Kathmandu, sondern zur heißesten Jahreszeit aus Brooklyn, New York. Der vereinbarte Schreibtag will nicht so recht Beschreibenswertes bereitstellen. Doch ein bissiges Kaninchen und bedenkliche Familienverhältnisse geben dann doch ein Bild aus einem Schriftstelleralltag.

Sonntag, 10. Juli 2022

Kaninchensitten für meine Ex-Frau und die Brooklyn-Prajnaparamita

Über der Stadt ignoriert ein vielschichtiger Himmel die Nadeln aus Glas und Stahl, die ihm in den Bauch pieksen. Stattdessen wartet er in der Abenddämmerung auf die wilde Einladung, den zarten Mond, der knapp außer Sichtweite erblüht.

Brooklyn, New York. 8 Uhr. In einem Zimmer im dritten Stock, weiß gestrichen mit einer leuchtend weißen Couch neben dem Bett, erwache ich nackt in steifen weißen Laken. Durchs Fenster ein kristallklarer Himmel und eine blaue Weite. Unten auf der Washington Avenue dröhnen die Autos vorbei, und an den Ampeln heulen ihre Motoren auf. Brooklyn erwacht an einem heißen Sommermorgen, und ich habe einen Kater von teurem Wein.

In New York City ist der Sommer auf seinem Höhepunkt, und die Reichen sind nach Hamptons oder noch weiter nördlich zum Cape Cod geflohen. Meine Ex-Frau fährt mit ihrem Mann und ihrem Sohn im Volvo-Kombi auf der Route 6 rauf nach Truro. Auf dem Weg zum Kap erzählt sie ihrem Sohn, dass Mommy früher mit James verheiratet war. Stille im Volvo, die Sanddünen tauchen auf, und die Hände des Aktuellen Ehemanns klammern sich um das Lenkrad des Volvos. Der Sohn fragt: „Dann gehört er zur Familie?“, und an einem Kobalt-Himmel erscheint der Abendmond.

Das Kaninchen gehört auch zur Familie. Ein schwarzweißes Holländerkaninchen, das gerne Karotten und Grünkohl frisst. Bezahlt werde ich fürs Kaninchensitten nicht, bekomme aber dafür, dass ich das Tier zwei Mal am Tag füttere, ein Viermillionen-Dollar-Stadthaus in Clinton Hill, von wo ich in zwanzig Minuten in Manhattan bin. Jahrelang hatten sie gedacht, es sei eine Häsin, bis sich herausstellte, dass sie ein Rammler ist. „Jetzt alles zu ändern, ist zu umständlich“, sagte die Ex-Frau, und so ließen sie ihn einfach in Ruhe. Süßes kleines Häschen, das die Tapete anstarrt. „Familie“, so wie ich.

Es ist Sonntagmorgen in der größten Stadt der Welt, und mir fällt rein gar nichts ein, was ich tun könnte. Nicht mein Haus, nicht mein Kaninchen. Der Himmel draußen von einem Samantabhadra-Blau. Leere ist Form, und Form ist Leere. Ohne diesen Raum erscheint nichts, und ohne Erscheinung gibt es nichts, was sich Raum nennt. Die Füße auf einem geformten Sitzhocker, trinke ich neben dem weißen Kamin in der Küche Tee. Eine leuchtende Arbeitsplatte mit einem Licht darunter, das nach oben und in den Raum strahlt, wie der Mond, der aus dem Meer aufsteigt.

Mittagszeit, und das Kaninchen langweilt sich genauso wie ich. Wie jeden Tag kommt es angehoppelt und beißt mich mit seinen spitzen Schneidezähnen in die Knöchel, weil es das für Liebe hält. „Scheiße!“, sage ich, „Hör auf damit!“ Und ich schubse das Tier weg, während an meinem Knöchel bereits Blut hinabrinnt. Es ist schon alt und etwas verwirrt, und das hier läuft nicht so, wie von ihm geplant. Kein Grünkohl, keine Karotte, keine sanfte Menschenhand, ein bisschen Blut auf seinem weichen, weißen Fell. Ich trage es den halben Flur hinunter und drehe es wieder zur Wand.

Washington Ave wellt sich in der Hitze, als ich das Sandsteinhaus verlasse, in die U-Bahn unter der Straße abtauche und die Linie A rüber nach Manhattan nehme. West 4th steige ich aus und treffe mich mit einem alten Freund der Familie, einem Filmkritiker, der die Angewohnheit hat, unabhängig von Anlass oder Wetter, ausschließlich Schwarz zu tragen. Schwarze Hose, schwarzes Hemd, schwarze Socken und Schuhe. Der Filmkritiker und ich spazieren durch die Straßen von Chelsea, vorbei an schmucken Cafés mit weißen Leinentischdecken, Körbchen mit Sauerteigbrot und Roséflaschen im Weinkühler.

Dann zur High Line mit ihren gewundenen Gärten über der Straße, wo wir uns in den sonntäglichen Strom einreihen: Sportwagen schiebende Kindermädchen, Liebespaare, Nachmittag in voller Blüte. Der Himmel nichts anderes als Chelsea. Chelsea nichts anderes als der Himmel. Keine Ehefrau, kein Kaninchen. Keine fehlende Ehefrau, kein fehlendes Kaninchen. Schließlich verkündet der Filmkritiker, es sei Zeit für Wein. Später zwei Gläser gekühlten spanischen Tempranillo; die Türme, die über dem Hudson Yard aufragen, werden zu gespiegelten blauen Lichtsäulen. Wir sprechen über Filme und den Niedergang der Demokratie. Wir sprechen über unsere Reise auf einem Schiff namens The World, über Bolivien und über den Himmel.

19 Uhr, und mir fällt ein, dass ich versprochen habe, einen Anruf über Zoom zu machen. „Trink du ihn leer“, sage ich noch zu dem Filmkritiker, bevor ich in die Linie A zurück nach Brooklyn steige. Beim Verlassen der U-Bahn schlägt mir die Hitze entgegen, und mit ein paar großen Schritten bin ich oben auf der Straße und im Sandsteinhaus. Das Kaninchen blickt kaum auf, als ich an ihm vorbei die Treppe hinaufspringe. Über Zoom spreche ich mit zwei Schriftstellerfreunden. Für nächstes Jahr planen wir einen Workshop in Nepal. Ich sage, dass ich einen unspektakulären Tag hatte und mir jetzt einen Reim darauf machen muss. Eine Ehefrau, die nicht meine ist, in einem Haus, das nicht meins ist, und ein genderfluides Kaninchen, das gerne Blut saugt.

22 Uhr, und der Aktuelle Ehemann kommt früher mit dem Zug vom Kap zurück und hat die ganze Zeit getrunken. Wir machen eine Flasche italienischen Barolo Jahrgang 2017 auf und lassen ihn auf der Arbeitsplatte atmen. Der Aktuelle Ehemann, der Ex-Ehemann. Die Frau, die nicht unsere Frau ist. Das Sonntagsgefühl, dass man nicht in der Kirche war, dass der Montag vor der Tür steht und man keinen Plan hat. Eine weiße Küche, weißer Tisch, weiße geformte Sitzhocker. Eine bei Nacht leuchtende Arbeitsplatte. Das liebeskranke schwarzweiße Kaninchen, dessen Tasthaare im Licht zucken.

Ich erhebe ein Glas guten Rotwein. „Lass uns heute Abend nicht über sie sprechen“, sage ich. „Cheers“, sagt der Aktuelle Ehemann, „Klingt gut. Das tun wir auf keinen Fall.“ Der schwarze Himmel ist Brooklyn, und Brooklyn ist der schwarze Himmel. Der schwarze Himmel ist nichts anderes als Brooklyn und Brooklyn nichts anderes als der Himmel. Kein Wein. Kein Kaninchen. Kein Blut. Kein Ex-Ehemann. Kein Ehemann. Kein Trinken und keine Weintrinker.

Unter der Stadt kann sich der fein gemeißelte Stein nicht erinnern, seine Bahnen durch die diamantharte Nacht gezogen zu haben, und nur die Kraft, still zu liegen, ist für ihn von Belang. Als der nackte Mond kaninchenweiß aufgeht, sind sie beide, Stein und Himmel, fern von zu Hause.
 
 
 
 
Aus dem Amerikanischen von Juliane Gräbener-Müller

Letzte Änderung: 26.04.2023  |  Erstellt am: 26.04.2023

Geschrieben werden Tagebuchnotizen, die zeitgleich an verschiedenen Orten und in verschiedenen Ländern entstehen und in der WORTSCHAU veröffentlicht werden. An einem bestimmten (vorgegebenen) Tag machen sich sechs Autorinnen und Autoren Notizen darüber, wo sie sich an diesem Tag aufhalten, woran sie arbeiten, was sie erleben, wie sie sich durch den Tag bewegen und was sie bewegt. Jeder und jede ist jedoch frei, eine poetisch-verfremdete Wahrheit oder wirklich an diesem Tag Erlebtes aufzuschreiben. Auf diese Art entsteht simultan ein Tagebuch, das einen vielschichtigen Blick auf eine jeweils individuell erfahrene Welt wirft. Was alle vereint und auch den tieferen Anlass des Seitenwechsels ausmacht, ist der genaue Tag, auf den alle sich beziehen. Das öffentliche und private Geschehen dieses Tages an ganz unterschiedlichen Orten mit seinen Chancen und Gefahren geben den gemeinsamen Fokus vor.

Seiten Wechsel | © privat

Johanna Hansen und Wolfgang Allinger (Hrsg.) Seiten Wechsel

Tagebuchnotizen,
204 S., brosch.
ISBN 978-3-944286-39-6
WORTSCHAU VERLAG, Neustadt an der Weinstraße 2022

Das Buch kann beim Verlag bestellt werden:
Winzinger Straße 48 – 67433 – Neustadt/Weinstraße – Tel. 06321 4817 173

oder per E-Mail

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wolfgang.allinger@wortschau.com

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