SEITENWECHSEL: Portland

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Tagebuchnotizen
David Oates | © privat

SEITENWECHSEL heißen Tagebuchnotizen aus dem Rheinland, aus Riga, Portland, Oregon; aus Barcelona und Kathmandu. David Oates ist einer von sechs Autorinnen und Autoren des zweiten SEITENWECHSELS, der von Faust-Kultur aufgenommen wird. Er schreibt aus Portland, Oregon: Es herrscht Endzeitstimmung. Mit dem Anstieg der Temperaturen macht sich der Klimawechsel dringlich, die politische Situation evoziert einen künftigen Potentaten, aber es geht auch um Kunst und Liebe.

David Oates – Portland, 25. Juni 2021

Aus dem Amerikanischen von Juliane Gräbener-Müller

5:30 Uhr, Portland
In tausend Jahren könnte irgendein tumber Tamerlan Portland zu seiner Hauptstadt machen. Sollten die Meere um etwa dreißig Meter steigen, werden alle Seehäfen mit guter, hügeliger Topografie dem Versinken entgehen. Vor ein paar Jahren habe ich dieses Gedankenexperiment einmal mit verschiedenfarbigen Markern auf einem Satz topografischer Karten von Portland durchgespielt. Unsere Innenstadt liegt zwischen einem breiten Fluss und niedrigen, steilen Bergen, die sich unmittelbar westlich von ihr erheben. Es wurde deutlich, dass die Stadt, um sich zu retten, einfach bergauf kriechen würde. Und östlich von ihr liegen interessante vulkanische Spitzkuppen, die zu Inseln würden. Wenn ich die Karte einfärbe, sehe ich eine Art Erdsee ¹, eine Geografie aus imaginierter Möglichkeit.

Und dieser imaginäre König, dieser unbedeutende Herrscher – was wird ihn noch an uns erinnern?

7:00 Uhr
Heute spüren wir alle, dass wir uns im Vorhof von etwas Furchterregendem befinden. Etwas, das sich wie der Beginn einer Geschichte anfühlt, die wir nicht durchleben möchten. Es ist noch früh, aber unser normalerweise kühler Nordwestmorgen fühlt sich drückend an, nicht frisch. Morgen soll laut Wettervorhersage der erste von drei Tagen sein, an denen das Thermometer weit über 38°Celsius steigt. Seit 1992 lebe ich nun hier, und so etwas hat es noch nie gegeben. Nie. Wir sind nervös, gereizt. Versuchen, nicht daran zu denken.

Also denke ich an die Zukunft. Die ferne, Geschichten erzählende Zukunft.

Ich versuche, mich nicht daran zu erinnern, wie wir immer über unsere gemäßigten Sommer gelacht haben – Sommertage, so mild und … ja, human ist das Wort, das mir spontan einfällt, denn ich bin ein Flüchtling aus dem glutheißen Süden, der schrecklichen städtischen Hitze und dem Smog von Los Angeles.

Doch krasse Veränderung naht. Unnatürliche Veränderung: die Folge davon, dass unser aller Luft als globaler Aschenbecher, als atmosphärische Jauchegrube behandelt wird.

Wie auch immer, heute ergreifen mein Partner und ich die Flucht nach Norden. Die Stadt Seattle wird dank der kühlenden, mäßigenden Wirkung des Puget Sound um sie herum solch lächerliche Temperaturen nicht erreichen, auch wenn sie nur drei Autostunden weiter nördlich liegt.

12:00 Uhr Mittag, Seattle
Wir sind gekommen, uns den Ort für die morgige Einweihungsfeier anzusehen. Auf einem neuen Platz und in einem angrenzenden Park sollen fünf Original-Kunstwerke angeordnet werden. Hier verläuft der AIDS Memorial Pathway, ein Gedenkpfad, auf dem mein Partner Horatio Law auftragsgemäß an drei Stellen entlang eines grasbewachsenen, von Bäumen beschatteten Weges Skulpturen aus Verbundglasscheiben aufstellen soll. Sie sind kurvig, in Menschengröße, beleuchtet, subtil.²

Allerdings wird man sie in Abwesenheit einweihen, denn sie wurden in Deutschland hergestellt und warten schon seit Wochen in einem Lagerhaus auf ihre Verschickung per Luftfracht. Ich habe sie bisher nur in Renderings und kleinen Schichtmodellen gesehen. Wie Horatios gesamtes Werk sind sie sinnlich, reizvoll fürs Auge, aber auch gedankenvoll. In die Glasschichten eingebettet sind blasse Wortreihen, die, je nach Licht und Feuchtigkeitsgrad, der die Glasoberflächen transparent macht oder beschlagen lässt, lesbar werden oder ins Unsichtbare zurücktreten. Auf diese Weise murmeln sie (sein Wort): leuchtend, einladend unter den Birken und Zedern.

Es liegt eine Großzügigkeit in seiner Kunst, eine menschliche Zärtlichkeit. Als lockte etwas Tieferes zwischen uns, das nach Ausdruck sucht.

14:00 Uhr
Wir erfahren unsere Gegenwart als völlig verkorkst. Das wird die Zukunft jedoch nicht daran hindern, sich in Nostalgie über uns zu ergehen. Man wird nur sehen, dass es eine Zeit gab, bevor die ganze Welt hoffnungslos im Arsch war.

Wir wissen, dass keine persönliche Handlung ihr etwas anhaben kann, dieser Zukunft. Egal wie wohlbedacht und ethisch korrekt, kein einzelner Mensch kann diese Flut von sechs Milliarden Abgas rülpsenden Menschen aufhalten. Wir sind schuldig, persönlich, als Mittäter, als Kollektiv. Schuldig dessen, was passieren wird in den kommenden hundert Jahren. Tausend Jahren. Auch wenn die meisten von uns tot sein werden, bevor die schlimmsten Folgen sich einstellen.

Das ist vorweggenommene Schuld – die Zukunft als jetzt, moralisch und emotional jetzt anerkannte Realität. Für diese offenbar unausweichliche Zukunft gibt es kein Heilmittel. Keinen Trost, keine Buße, keine Vergebung. Jeder Kilometer, den wir gefahren sind, hat dazu beigetragen. Jede Meile, die wir geflogen sind. Jedes Feuer, das wir abgebrannt haben. Jeder Rülpser und jeder Furz.

15:00 Uhr
Morgen wird die Einweihungsfeier stattfinden. Heute sitzen die Künstler*innen mit Komitees, anderen Künstler*innen und Bekannten zusammen. Ich habe also Zeit umherzuziehen. Capitol Hill, wo diese Gedenkstätte geschaffen wurde, war früher das „Schwulenviertel“ von Seattle. In den Neunziger- und frühen Nullerjahren kam ich ab und zu hierher. Es war ungefähr so wie an anderen Schwulenorten – ein bisschen gezwungen, manchmal lärmend und rau, gewoben aus einer Art performatorischer sexueller Attraktivität, die ich leider nie wirklich sexy gefunden habe.

Aber lebendig, das ja. Ganz bestimmt.

Inzwischen ist das lange Stück Broadway auf der Hügelkuppe beschaulich geworden und erweckt, abgesehen von ein paar aus alten Tagen übriggebliebenen Etablissements, insgesamt eher den Eindruck einer weiteren angenehmen städtischen Wohngegend. Ich finde ein geräumiges Café, wo ich für ein paar Stunden mit Buch und Zeitungen sitzen kann. Ich liebe es, inmitten von Fremden zu arbeiten, Menschen zu beobachten und dann abzutauchen in die Einsamkeit eines Gedichtbands oder eines Projekts, das ich mit Wörtern konstruieren muss. Neuen Wörtern, neuen Gedanken. Inmitten des gedämpften guten Willens von Fremden.

Hier scheinen wir nicht schuldig zu sein. Wir erscheinen zivilisiert, vernünftig, kompetent.

Neben San Francisco hat Seattle von allen Städten, die ich je besucht habe, die abwechslungsreichste Umgebung – Seen und Meeresarme, steil ansteigende Hügel überall und über den Sound hinweg die Aussicht auf die schneebedeckten Olympic Mountains.

Und mit einem süßsauren Lächeln erkenne ich, dass mein imaginierter künftiger Herrscher/Potentat gewiss diese Stadt zum Mittelpunkt seines neuen Reichs erwählen, Kapital aus ihrer prominenten Lage schlagen, die ganze richesse des Landes im Norden – dieser in Zukunft sicherlich am wenigsten beschädigten Gegend – ernten wird. So, wie Hafenstädte die benachbarten Hänge hinaufgekrochen sein werden, so wird die Zivilisation gen Norden kriechen.

Derweil dehnen sich die Meere aus und steigen und sehen dennoch genauso aus, wie sie immer ausgesehen haben.

23:00 Uhr
Wir haben uns in dem frisch umgestalteten, sauberen und ruhigen Hotel aus den 1870er Jahren einquartiert. Wir haben zu Abend gegessen, uns ausgeruht, gelesen, auf Horatios Laptop, den er im Bett auf dem Schoß balancierte, eine Sendung angeschaut.

Und jetzt schläft mein Partner neben mir. Einatmen, ausatmen. Oh Trost, oh Geliebter, oh Gnade – mir gewährt von dieser harten Welt.

Wer soll bemessen, was wir getan haben oder was der Atem von unser aller Leben bedeuten wird?

¹ Siehe Earthsea von Ursula K. Le Guin aus Portland, OR (Erdsee, dt. von Hans-Ulrich Möhring, Karen Nölle und Sara Riffel, Frankfurt /Main 2018)
² Weitere Informationen über den AIDS Memorial Pathway: https://theamp.org/

Letzte Änderung: 29.11.2021  |  Erstellt am: 20.11.2021

Geschrieben werden Tagebuchnotizen, die zeitgleich an verschiedenen Orten und in verschiedenen Ländern entstehen und in der WORTSCHAU veröffentlicht werden. An einem bestimmten (vorgegebenen) Tag machen sich sechs Autorinnen und Autoren Notizen darüber, wo sie sich an diesem Tag aufhalten, woran sie arbeiten, was sie erleben, wie sie sich durch den Tag bewegen und was sie bewegt. Jeder und jede ist jedoch frei, eine poetisch-verfremdete Wahrheit oder wirklich an diesem Tag Erlebtes aufzuschreiben.
Auf diese Art entsteht simultan ein Tagebuch, das einen vielschichtigen Blick auf eine jeweils individuell erfahrene Welt wirft. Was alle vereint und auch den tieferen Anlass des Seitenwechsels ausmacht, ist der genaue Tag, auf den alle sich beziehen. Das öffentliche und private Geschehen dieses Tages an ganz unterschiedlichen Orten mit seinen Chancen und Gefahren und der mittlerweile alles überformenden Corona-Krise geben den gemeinsamen Fokus vor.
Die erste Folge startete mit einem Montag (dem 19. Juli 2019), die zweite mit einem Dienstag etc. Dem sich wiederholenden Prinzip der festgelegten Tage, die sich dem Wochenablauf anpassen, entspricht der simultane Perspektivwechsel. Das macht den Reiz des Projekts aus.

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