SEITENWECHSEL aus Riga

SEITENWECHSEL aus Riga

Tagebuchnotiz
Gundega Repše | © privat

SEITENWECHSEL heißen Tagebuchnotizen aus dem Rheinland, aus Riga, Portland, Oregon; aus Barcelona und Kathmandu. Gundega Repše ist eine von sechs Autorinnen und Autoren des zweiten SEITENWECHSELS, der von Faust-Kultur aufgenommen wird. Sie ist Lettin, und sie schreibt aus Riga. Dort kämpfen die Künstler und Intellektuellen gegen die Ignoranz der Staatsmacht. Zugleich leben sie ihre Kultur mit dem nicht zu bewältigenden Problem der Abgrenzung. Diese sinnenfreudigen Aufzeichnungen sind auch Selbstvergewisserungen.

Gundega Repše – Riga, 25. Juni

5.00
Nach der tropischen Nacht reiße ich alle Fenster auf und wische den Fußboden. Das soll helfen, das Haus kühl zu halten. Hund und Katze wälzen sich wie Robben auf den feuchten Dielen.
Ich werfe die Johanniskräuter weg. Dieses Jahr war die Stimmung zu Mittsommer ganz anders als sonst. So lange hatten mich die Coronagebote eingezwängt, dass ich jetzt plötzlich auch in den erlaubten Grenzen nicht unter Menschen sein wollte. Ist das so etwas wie das Syndrom eines Gefängnisinsassen, der sich bei der Rückkehr ins normale Leben nicht mehr anpassen kann? Hoffentlich nicht. Mittsommer war immer mein Lieblingsfest. Nur zwei Mal war ich am Līgoabend nicht in Lettland. Das erste Mal 1992, als ich zu einer Feminismuskonferenz nach Amsterdam fliegen musste, das andere Mal war 2012 auf meiner Sibirienreise, wo ich den Spuren meiner Mutter in der Verbannung folgte. In Amsterdam feierten wir im Rotlichtviertel, ganz einfach deshalb, weil sich dort das Hotel befand, in das man die aus der ehemaligen Sowjetunion angereisten Schriftstellerinnen einquartiert hatte. In Sibirien feierten wir Līgo an einer Tankstelle, wo die Kühe des Dorfes aus den Mülleimern fraßen.

9.00
Morgenkaffee unterm Jasmin. Frösche quaken. Vögel zwitschern, pfeifen, flöten und trällern. Das Gras wächst mit erhöhter Geschwindigkeit, ungeachtet der Trockenheit und Hitze. Die Natur behauptet sich und weist den Menschen auf seinen unerheblichen Platz im weiten Raum. Aus Bequemlichkeit romantisieren wir das und nennen es Verschmelzen mit der Natur. Nach dem ermüdenden Winter an der Kandare der Pandemie schnappt der wundgescheuerte Mund nach Luft, bis man in Ohnmacht fällt. Dort bist du in Sicherheit, aber das kann nicht der Weg sein.

11.00
Ich schreibe Briefe an Freunde. Erzähle, wie ungewohnt ich Mittsommer verbracht habe, und dass ich nicht weiß, ob ich jemals wieder reisen will. Auf jeden Fall nicht so bald. Denn ich glaube noch immer nicht daran, dass zur Zeit irgendwo das Leben pulsiert. Tempelruinen ohne Gegenwart interessieren mich nicht.

13.00
Ich koche Mittagessen. Neue Kartoffeln mit Dill und frischen Salzgurken und Hühnchen. Während ich an den Zutaten der Materie herumfingere, kriechen wieder die Schlangen des Tagesgeschehens in meinen Geist. Der Finanzminister reagiert auf die heftige Kritik von Intellektuellen und Unternehmern an der Einführung neuer Steuern, während das Land sich im schwarzen Pandemienebel befindet, mit einer zynischen Aufforderung zur Umschulung. Dieser ehemalige Komsomolze hat jeglichen Respekt vor der Regierung verspielt. Im Frühling haben wir auf dem Domplatz gestanden, jeder mit einem Ziegelstein in der Hand. Den haben wir symbolisch in die Mauer eingesetzt, die in Lettland die Staatsmacht von der Kultur trennt. Heutzutage verschleudern sie Millionen wie die Angler Fischeingeweide, doch Kultur war für die Staatsmacht noch nie eine Ware des täglichen Bedarfs. Im besten Fall brauchen sie sie als Dekoelement, wenn sie sich als verantwortungsvoll positionieren. Die Intelligenz ist es leid, sich ständig beweisen zu müssen, daran zu erinnern, dass Kultur die Grundlage eines Nationalstaats ist. Die ehemaligen Aktiven der Nomenklatur der zusammengebrochenen Sowjetunion träumen immer noch in den Konturen eines globalen Gouvernements. Sie haben einfach kein anderes Material für Träume. Nein, beim Kochen muss der Mensch wohlwollend, milde und voller Liebe sein. Sonst kannst du das Ergebnis deinen Feinden servieren. Und die lasse ich nicht in mein Haus. Aha, meldet sich der innere Teufel zu Wort, der sich mit seinem klebrigen Schwanz bis in die Gedankengärten hochgeschaukelt hat, das Thema der Abgrenzung ist für dich also äußerst aktuell. Aber unser Haus hatte noch nie einen Zaun. In Semgallen haben die Menschen seit je in Baumgruppen gelebt. Die großen alten Bäume zeigten schon von Ferne freundlich an: hier wohnt jemand. Zwischen den Baumgruppen liegen die Felder. Ich habe Glück, Weizen bis zum Horizont für Sonnenaufgangsbilder, und auf der anderen Seite des Wegs wogt der Raps, der Bienen Lust und Verdammnis.

20.00
Die Hitze treibt literweise Wasser aus dem Körper. Wo hat das alles vorher gesteckt? Wieviel Wasser ist im Gehirn?

21.00
Ich muss aufhören, mir vorzumachen, dass ich noch motiviert zum Schreiben bin. Es fällt mir schwer, nach den Sitten eines kleinen Staats zu leben, in dem fast jeder jedem schon mal Ehemann, Ehefrau, Geliebter oder Geliebte gewesen ist. Es ist eine Sackgasse, denn ich werde Lettland nicht verlassen. Ich werde in der lettischen Sprache versinken, und die Brüder und Schwestern können ruhig weiter im väterlichen Hof ihre Kriegsspielchen spielen, sich über Dinge und Erscheinungen streiten, denen Transzendenz nie zur Seite gestanden hat.
Die Nachtigallen setzen ein.
Ich gehe schlafen. Schlaf ist die Illusion von der Rückkehr der Unschuld, und ich wiege mich gerne darin. Bevor die Lampe des Bewusstseins erlischt, bin ich selbst der ganze Globus. Und der hat keinerlei Illusionen mehr.

Aus dem Lettischen von Nicole Nau

Letzte Änderung: 24.10.2021  |  Erstellt am: 26.09.2021

Geschrieben werden Tagebuchnotizen, die zeitgleich an verschiedenen Orten und in verschiedenen Ländern entstehen und in der WORTSCHAU veröffentlicht werden. An einem bestimmten (vorgegebenen) Tag machen sich sechs Autorinnen und Autoren Notizen darüber, wo sie sich an diesem Tag aufhalten, woran sie arbeiten, was sie erleben, wie sie sich durch den Tag bewegen und was sie bewegt. Jeder und jede ist jedoch frei, eine poetisch-verfremdete Wahrheit oder wirklich an diesem Tag Erlebtes aufzuschreiben.
Auf diese Art entsteht simultan ein Tagebuch, das einen vielschichtigen Blick auf eine jeweils individuell erfahrene Welt wirft. Was alle vereint und auch den tieferen Anlass des Seitenwechsels ausmacht, ist der genaue Tag, auf den alle sich beziehen. Das öffentliche und private Geschehen dieses Tages an ganz unterschiedlichen Orten mit seinen Chancen und Gefahren und der mittlerweile alles überformenden Corona-Krise geben den gemeinsamen Fokus vor.
Die erste Folge startete mit einem Montag (dem 19. Juli 2019), die zweite mit einem Dienstag etc. Dem sich wiederholenden Prinzip der festgelegten Tage, die sich dem Wochenablauf anpassen, entspricht der simultane Perspektivwechsel. Das macht den Reiz des Projekts aus.

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