SEITENWECHSEL heißen Tagebuchnotizen aus dem Rheinland, aus Riga, Portland, Oregon; aus Barcelona und Kathmandu. David Eisermann ist einer von sechs Autorinnen und Autoren des zweiten SEITENWECHSELS, der von faust-kultur aufgenommen wird. Natur und akademisches Leben der Vergangenheit und der Gegenwart hält er fest. Und die bedenkenswerte Begegnung mit dem Alter.
David Eisermann – Bonn, Freitag, 25. Juni 2021
10 Uhr
Anruf aus Hannover. Es geht um ein Gespräch mit dem Verfasser einer Biographie von Ludwig van Beethoven. Die Veranstalterin erläutert mir ihren Plan für ein Podiumsgespräch draußen, auf der „Bühne am Schlößchen“ im Französischen Garten vor dem Schloß in Celle. Wenn es klappt, wäre das meine erste Veranstaltung nach dem Abflauen der Epidemie.
12.31 Uhr
Seit Beginn der Woche erlaubt es die Stadt wieder, sich in Bonn-Zentrum ohne Mundnasenschutz zu bewegen. An der Ecke von Münster- und Poststraße läuft der Blumenverkauf wie früher. Die Blumen stehen in Eimern, in fertig gebundenen Sträußen, zum Aussuchen: orange und gelb und ein leuchtendes, sehr körperliches Rot. Vorne an der Verkaufstheke bei der Crew aus Venlo steht bereits Ruth, um zu bezahlen. Ihr offenes, rotblondes Haar.
15.07 Uhr
In der E-Mail der Pressestelle der Universität wird der scheidende Vorsitzende des Unterstützungsfonds zitiert, ein freundlicher Herr Mitte siebzig: „Der Fonds denkt nicht wie Dagobert Duck. Dagoberts Glück hängt immer an dem mit Gold-Dollar gefüllten Schwimmbecken.“ Der Unterstützungsfonds aber lebe davon, seinen akademisch-sozialen Zweck zu verfolgen. Das sei derzeit nicht so einfach. Sein Nachfolger, der neue Vorsitzende, gilt als Experte für Fragen des Gemeinnützigkeitsrechts. Damals, bei unserer Feier, ist er bis zum Schluß bei Mutter geblieben und hat teilnahmsvoll, sogar tröstlich mit ihr gesprochen. Als er selbst Student war, hat er im Juridicum Vater noch ins Seminar gehen sehen.
18.45 Uhr
„Vielen Dank für Ihre Zusendung samt der Tagesordnung“, hatte ich dem Sekretariat des Unterstützungsfonds geschrieben. „Ich bin doppelt geimpft und gerne bereit, an der gemeinsamen Sitzung von Vorstand und Beirat auch in Präsenz teilzunehmen.“ Anwesend sind dann der scheidende und der neue Vorsitzende, der Rektor und der Präsident der Alumni-Organisation für mehrere tausend Ehemalige sowie ein neues Vorstandsmitglied, eine junge und sehr wache Immunforscherin.
Die Doppelvilla, mehr als 130 Jahre alt, mit ihrer großzügigen Ausstrahlung und den überhohen Fenstern steht – von Rosensträuchern umgeben – genau auf der Ecke, an der die nach dem Bonner Astronomen benannte Straße in die Allee mündet. Magnifizenz würdigt den scheidenden Vorsitzenden: „Es ist vor allem sein Verdienst, daß der Weg des Unterstützungsfonds eine solche Erfolgsgeschichte geworden ist.“ Nach den Ansprachen wird Sekt der Hausmarke mit dem weißen Etikett ausgeschenkt, bedruckt mit dem römerzeitlichen Namen der Stadt. Es gibt Obstsaft, Sprudel („Trink Brohler. Fühl Dich wohler“), und wir stehen mit unserem kleinen Antipasto-Teller auf der Terrasse der Rektoratsvilla. Töpfe mit Lorbeergewächsen auf Pfeilern. Ein Pavillondach mit Tischen und Stühlen auf der Wiese und der Blick auf die Backsteinmauern der Königlichen Sternwarte nebenan mit ihrer Teleskopkuppel, ein wenig Steampunk, als hätte Jules Verne von hier aus noch den Mond betrachten können. Tatsächlich war es Friedrich Wilhelm Argelander, der hier hunderttausende von Sternen auf ihre Leuchtkraft hin gemessen und von Hand in einem Katalog zusammengefaßt hat, die letzte Durchmusterung dieser Art vor Beginn der fotografischen Himmelskartografierung.
20.19 Uhr
Es ist taghell über der Allee, die in die Ferne zu führen scheint – ein Blick, der ein Gefühl nach etwas Unbestimmtem auslöst, nach einer unerreichbaren Ferne. Dabei ist das Ende der Allee – von den haushohen Kastanien verborgen und nur zu ahnen – schon bei dem Hauptgebäude erreicht, das ursprünglich nicht für die Universität errichtet wurde. Ein Schloß, mehrfach zerstört und wiedererrichtet, das bald wieder ganz geräumt werden soll, um vollständig kernsaniert zu werden.
Draußen ist es ein diesiger Sommerabend. Die Allee ist hie” etwa 60 Meter breit. Jeweils einspurig fließt der Verkehr an den äußeren Rändern. Die Mitte bildet eine Wiese. Riesig erscheinen die Bäume, dicht und großblättrig belaubt, sommersatt. Sie scheinen die vielgeschossigen alten Stadthäuser noch zu überragen.
Da entdecke ich ihn auf der massiven weißen Parkbank: „Junge, da bist Du ja!“ Ich setze mich zu ihm. Wir sind gleich im Gespräch, als hätten wir heute früh erst telefoniert. „Ein schönes Zusammenspiel verschiedener Bedürfnisse“, sagt er darüber, wie die Allee angelegt ist und richtet dabei den Blick auf die Wiese. „Die Autos können fahren, Fußgänger haben Wege und Bänke, es gibt einen Blick ins Grüne, und wir sind unter den wunderbaren Bäumen!“ Bäume, die die Luft verbessern, Balsam. Er hatte lebenslang Asthma. Sein Altersgesicht erscheint jünger und erinnert neuerdings etwas an Michael Douglas in „The Kominsky Method“. Ich erzähle vom einstweiligen Dekan, jetzt Vorsitzender des Unterstützungsfonds, von dem Rektor mit seinem liebenswürdigen, leicht badischen Tonfall. Baden, sagt er da: „Die zwölf Jahre in Heidelberg waren meine glücklichste Zeit.“ Er kommt mir gelöster vor, als ich ihn das letzte Mal erlebt habe. Tiefbraun die lebhaften Augen, schnell und beweglich. Knupperkirschaugen, wie seine Mutter sie genannt hatte. Seine Mutter Marie Luise, sein Bruder, ich – viele von uns hatten diese Augen aus der Linie Berlin, Potsdam, Plauen im Vogtland. Die „Vogelsche Brut“ hatte die Mutter seines Vaters dazu mit Blick auf Marie Luises besondere Herkunft gesagt. So richtig gut hatte sie das nicht gemeint. „Nun mal ganz was anderes!“ Er trägt seinen Hut, einen seiner sandfarbenen, gürtellosen Trenchcoats von Ermengildo Zegna. Den passenden Schal. Dabei ist es ein Sommerabend. „War der Kanzler auch da?“ Der Verwaltungschef einer Universität wird als Kanzler bezeichnet. Genaugenommen waren beide Kanzler da – der alte und der neue. Er hat sie beide nicht mehr gekannt. „Ich müßte noch was mit dem Kanzler besprechen. Politisch hatte der Herr von Medem ja eine ganz andere Linie. Sekretär von Carl Schmitt“ – er verdreht die Augen –, „aber bei meinen Bleibeverhandlungen haben wir uns fabelhaft verstanden.“ Mit einem Mal steht er auf. Es bleibt offen, ob er im Garten des Rektorats jetzt tatsächlich den Freiherrn von Medem zu treffen erwartet (der vor sechzig Jahren hier Verwaltungschef war).
„So, Junge. Ruth wartet sicher schon. Nun geh mal nach Hause.“ Soll ich Mutter etwas von Dir sagen? Sein Blick geht in die Ferne, wo die Türme der Universität allenfalls zu vermuten sind. Er zögert, nur leicht und sagt dann: „Sie fehlt mir so sehr. Unendlich. Sag ihr das.“
Siehe auch: SEITENWECHSEL aus Riga
Letzte Änderung: 14.08.2022 | Erstellt am: 15.09.2021
Geschrieben werden Tagebuchnotizen, die zeitgleich an verschiedenen Orten und in verschiedenen Ländern entstehen und in der WORTSCHAU veröffentlicht werden. An einem bestimmten (vorgegebenen) Tag machen sich sechs Autorinnen und Autoren Notizen darüber, wo sie sich an diesem Tag aufhalten, woran sie arbeiten, was sie erleben, wie sie sich durch den Tag bewegen und was sie bewegt. Jeder und jede ist jedoch frei, eine poetisch-verfremdete Wahrheit oder wirklich an diesem Tag Erlebtes aufzuschreiben.
Auf diese Art entsteht simultan ein Tagebuch, das einen vielschichtigen Blick auf eine jeweils individuell erfahrene Welt wirft. Was alle vereint und auch den tieferen Anlass des Seitenwechsels ausmacht, ist der genaue Tag, auf den alle sich beziehen. Das öffentliche und private Geschehen dieses Tages an ganz unterschiedlichen Orten mit seinen Chancen und Gefahren und der mittlerweile alles überformenden Corona-Krise geben den gemeinsamen Fokus vor.
Die erste Folge startete mit einem Montag (dem 19. Juli 2019), die zweite mit einem Dienstag etc. Dem sich wiederholenden Prinzip der festgelegten Tage, die sich dem Wochenablauf anpassen, entspricht der simultane Perspektivwechsel. Das macht den Reiz des Projekts aus.