SEITENWECHSEL heißen Tagebuchnotizen aus dem Rheinland, aus Riga, Portland, Oregon; aus Barcelona und Kathmandu. Gundega Repše ist eine von sechs Autorinnen und Autoren des aktuellen SEITENWECHSELS, der von Faust-Kultur aufgenommen wird. Der Jahreswechsel ist für sie der falsche Zeitpunkt, um unbeschwert zu feiern. Der Tod des Bruders, der Kampf gegen die Trauer und die Erinnerung beherrschen Zeit und Geist.
Riga, 1. Januar 2022
05:00
Ich weiß nicht, wie der 1. Januar 2022 angefangen hat. Nachdem mich gestern Nachmittag die Nachricht vom Tod meines Bruders erreichte, habe ich nicht mehr auf die Zeit geachtet. Anfangs wollte ich natürlich davonlaufen, mich in Ritualen verstecken: ich zündete Kerzen an, sprach ein paar Gebete, ließ meinen Blick weit in den dunkel werdenden Himmel schweifen, doch die Wirklichkeit besiegte mich. Alles war zu Ende. Ich tappte herum in meinem Scheinglauben an eine parallele Realität, an eine Geisteswelt, bis mich hysterischer Zorn überkam.
Ich ging in die Küche, um die Schnitzel für das Silvesteressen mit dem Fleischklopfer zu bearbeiten. Alles andere war schon längst fertig. Ich schlug auf die Schnitzel ein – Du bist stark, immer stark, Lettinnen haben das in den Genen, leiden, dulden, aushalten, nicht weinen, stark wie Wermuttee, unbeirrt wie die Nacht. Reiß dich zusammen, halte durch, reiß dich wieder zusammen, halte durch, wieder und wieder, bis sämtliche Angehörigen gestorben sind und du sie im Spiegel erblickst: die zum Erbarmen starke Frau, herausgeputzt mit einer Schildkrötenhaut, ein erfahrungsreicher Leerbehälter.
Jānis schmeckte mein Essen so gut, dass er mich immer gerne damit ärgerte, dass ich doch die Literatur über den Haufen werfen und eine Kneipe mit Kuchenbar aufmachen könnte. Ich fand seine Witzeleien nicht wirklich unschuldig.
Meine Mutter brachte Jānis während der Verbannung in Sibirien zur Welt. Eine qualvolle und gefährliche Geburt unter primitiven, viehischen Umständen. Die Dorffrauen und die Kinder liebten den blonden blauäugigen Buben. Als Mutter und Sohn sieben Jahre später nach Lettland zurückkehrten, sprach mein Bruder kaum lettisch. Er wurde Künstler.
Wir erlebten eine aufregende und herzliche Zeit geschwisterlicher Liebe. Er war zwölf Jahre älter und wir hatten verschiedene Väter, aber das spielte kaum eine Rolle. Meine Mutter hatte sich von ihrem zweiten Mann, dem Vater von Jānis, noch in Sibirien scheiden lassen, und mein Vater starb früh. Jānis war mein lieber großer Bruder. Ein Wandel trat ein, als er heiratete, aber das war normal, das erleben alle, das tat nicht weh. Als die letzten gemeinsamen Angehörigen starben, musste Jānis heimlich kommen und anrufen, seine zwei Söhne wurden von mir ferngehalten. Die wahren Gründe bleiben in den Safes der Ewigkeit, doch die verbotene Liebe gewährte einen Blick auf die menschliche Natur in ihren wahren Farben.
Nach so vielen Jahren ungerechten und ablehnenden Schweigens, Jahren der Heimlichkeiten und verbotener Gefühle, beschloss ich, beim Theater der Beisetzung nicht mitzumachen. Denn ich bin eine starke Frau. Nachdem ich zu dieser Einsicht gekommen war, konnte ich gestern Abend um acht mit meinem Mann mit Prosecco anstoßen, wir gedachten meines Bruders Jānis, ich schrieb wie jedes Jahr drei Wünsche für das kommende Jahr auf und verbrannte sie in einem Weihrauchgefäß. Üblicherweise tue ich das um Mitternacht, aber diesmal hatte Pünktlichkeit nicht mehr Kraft als ein Staubkorn. Wir gossen kein Blei, denn wir hatten keins besorgt. Ich nahm eine doppelte Portion Schlafmittel und flüchtete mich in die Kissen. Nicht mal der Hund verkroch sich diesmal unter meinem Arm, als ihn das Feuerwerk ängstigte, und auch die Katze widmete ihre Zeit lieber einem normalen Menschen.
12:00
Im Hintergrund klingt das alljährliche Neujahrskonzert aus Wien. Barenboim ist nicht mein Lieblingsdirigent, deshalb schaue ich nicht auf das Fernsehbild mit dem Blumenschmuck, der mich heute doch nur an ein Begräbnis und nicht an Festlichkeit erinnert.
Ein neues Jahr. Eine Erfindung der Menschen. Zeit existiert nicht, das wissen alle. Doch angeblich muss es irgendeine Ordnung geben. Auch die großen Kinder zählen gerne Klötzchen, ändern ihr Arrangement, errichten daraus Türme und Labyrinthe. Die Literatur versucht, für alles eine Begründung zu finden. Die Pandemie der Psychologie erst recht.
Vor zwei Tagen habe ich beim Verlag mein neues Buch abgegeben, Gespräche mit dem Kleinen, eine kleine konzeptuelle Faust, die ich auf knapp hundert Seiten geballt habe, indem ich ein halbes Jahr lang aus dem zweieinhalbmal so langen Manuskript alles hinauswarf, was die Leute wünschen könnten: Folgerichtigkeit, verschlungene Handlungsstränge, wobei zum guten Schluss alle Linien und Bällchen zu einem einzigen runden Gebilde zusammenlaufen, das man genießerisch verschlingen kann. Ich weiß nicht, was der Verlag zu solchen Launen sagen wird, aber ich habe die ausführlichen, geschwätzigen, farbenprächtigen Geschichtchen satt, mit denen die Literatur überschwemmt ist. Eine Geschichte erzählen! Meine Geschichte ist kurz, essentiell und kompakt. So muss ich es haben. Ich kenne Menschen, die sich im allgemeinen Geschnatter und Geklatsche, das die Literatur manchmal imitiert, in eine Stille zurückziehen möchten, in der die Gebote der Unschuld des Wortes gelten. Der Grund, warum ich heute darüber nachdenke, ist die Tatsache, dass in meinem Text ein Bruder starb.
15:00
Im Wald ist es noch hoffnungsloser. Diesmal finde ich hier keinerlei Trost. Der Schnee knirscht, ich bin in Sibirien, meine Mutter bringt meinen Bruder zur Welt, ich werde zum Punkt in einem Text des Alls.
19:00
Ich suche im Internet nach Filmen über den Holocaust. Als meine Mutter starb, hat das geholfen. Ein zynisches Paradox. Ich stoße auf die französische Serie Un Village Français – Überleben unter deutscher Besatzung. Krieg, Verrat, Kollaboration. Das passt.
Ich stelle das Telefon ab. Beileid, in Worte gefasst, zersprengt mich, die Tränenfluten lassen sich dann nicht zurückhalten, ich will das nicht. Ich bin doch stark. Und muss es noch mindestens ein paar Monate lang sein, denn keiner kann Trauer leiden. Es kann auch keiner mit Menschen umgehen, die in ihrem Kummer eingestürzt sind, man wartet, bis es vorüber ist. Mein Mann ist los in die Berge zum Skifahren. Das ist gut. Männer können weinende Frauen nicht zügeln, und ich meinerseits vertrage keine Hilflosigkeit.
22:00
Morgen werde ich schreiben. Ich weiß, dass die Literatur mir immer die Hand gereicht hat, wenn es schien, ich fiele auf Nimmerwiedersehen in die Dunkelheit.
Aus dem Lettischen von Nicole Nau
Letzte Änderung: 28.05.2022 | Erstellt am: 29.05.2022
Geschrieben werden Tagebuchnotizen, die zeitgleich an verschiedenen Orten und in verschiedenen Ländern entstehen und in der WORTSCHAU veröffentlicht werden. An einem bestimmten (vorgegebenen) Tag machen sich sechs Autorinnen und Autoren Notizen darüber, wo sie sich an diesem Tag aufhalten, woran sie arbeiten, was sie erleben, wie sie sich durch den Tag bewegen und was sie bewegt. Jeder und jede ist jedoch frei, eine poetisch-verfremdete Wahrheit oder wirklich an diesem Tag Erlebtes aufzuschreiben.
Auf diese Art entsteht simultan ein Tagebuch, das einen vielschichtigen Blick auf eine jeweils individuell erfahrene Welt wirft. Was alle vereint und auch den tieferen Anlass des Seitenwechsels ausmacht, ist der genaue Tag, auf den alle sich beziehen. Das öffentliche und private Geschehen dieses Tages an ganz unterschiedlichen Orten mit seinen Chancen und Gefahren geben den gemeinsamen Fokus vor.
Die erste Folge startete mit einem Montag (dem 19. Juli 2019), die zweite mit einem Dienstag etc. Dem sich wiederholenden Prinzip der festgelegten Tage, die sich dem Wochenablauf anpassen, entspricht der simultane Perspektivwechsel. Das macht den Reiz des Projekts aus.