Ein Jahreskreis

Ein Jahreskreis

SEITENWECHSEL
Kathrin Schadt

SEITENWECHSEL heißen Tagebuchnotizen aus dem Rheinland, aus Riga, Portland, Oregon; aus Barcelona und Kathmandu. Kathrin Schadt ist eine von sechs Autorinnen und Autoren des aktuellen SEITENWECHSELS, der von Faust-Kultur aufgenommen wird. Ihre Notizen berichten vom Verlust, vom Abschiednehmen, von einem Abschiednehmen, das nicht enden will, aber auch von der hoffnungslosen Veränderung derjenigen, die den Verlust erlitten hat.

Barcelona, 1. Januar 2022

4.00 Morgengrauen
Wenn jemand geht, heißt es, bleiben die anderen zurück. Im letzten Jahr (oder sind es schon zwei?) sind viele gegangen und viele zurückgeblieben. Der Jahreskreis hat sich still gerundet. Auch Trauer, heißt es, braucht ein Jahr, sich zu runden, vier Jahreszeiten, die Markierungen der Vergänglichkeit, um sich an ihnen abzuarbeiten. Wenn jemand geht also, bleibst du zurück? Wenn jemand geht, bewegst du dich doch ebenfalls fort, von dieser geteilten Zeit, diesem gemeinsamen Ort, an dem der Abschied stattgefunden hat. Und nichts mehr ist, wie es dort und da vor war. Auch du bewegst dich weg von diesem Kreuz auf dem Boden^1^ hier warst du vielleicht glücklich, vielleicht nicht und du begibst dich auf einen neuen, unbekannten Weg. Wenn jemand geht also, ist das Abschied und Neuanfang, für beide. Auch ein Abschied von dir selbst, dem Du, das du warst, dort verbunden mit jemand, das jetzt nicht mehr ist. Was zurückbleibt, ist diese Gemeinsamkeit. Und was du mitnimmst, die Erinnerung daran. Sie ist nicht statisch, sie ist keine letzte Wahrheit, sie ist eine Formwandlerin unter deinen Schritten, die du dich von eurem gemeinsamen Ort fortbewegst. Eine neue Abzweigung, das alte Du zurückgelassen, ein noch nicht neues Du auf den Weg gebracht. Neu er- und finden, dich häuten, schälen, heraus aus dieser alten Form, solange bis dir eine neue Haut gewachsen ist, schmerzt das rohe Fleisch noch bei jedem Schritt. Das Ächzen unserer Welt ist in den letzten Monaten hörbarer geworden. Ihr Versuch sich neu zu erfinden, sich wieder zu finden. Während wir eine alte Welt verabschieden (die vielleicht nie wirklich in dieser Form existiert hat?), sie betrauern und all unsere „jemands“. Während es heißt: diese Welt wird nie mehr sein, was sie da vor war.

8.00 Kaffee
Das „Nach“ einem Abschied, beginnt derweil so: am Morgen danach wachst du auf. Am Morgen danach wachst du trotz allem irgendwann einfach wieder auf. Wie jeden Morgen. Ist das Bett noch da, der Schrank, der Tisch, das Zimmer. Die Augen zum Aufschlagen. Das Gefühl aus dem fremd gewordenen Körper herausbrechen, mit einem lauten Knall in die darauffolgende Stille explodieren zu wollen. Dich auflösen zu wollen, in das Nichts, das dir geblieben ist. Nichts, auf das kein lauter Knall folgt. Nichts, das dich hinterlässt, wie es sich anfühlt, verwüstet. Bist du die Einzige, die das Echo hört. Während du aufstehst, Kleider überziehst, Kaffee kochst, Tassen spülst, Tassen abtrocknest, Tassen in den Schrank stellst. Bist du ein neugeborener Fremdkörper in deiner eigenen Welt. Aber du fängst auch diesen Tag, diesen Kreis also neu an. Du fängst, neu, eine Raupe, vielleicht, abgesammelt, nicht im Mondschein, du gingst heimlich in den Morgentau, eine Raupe abgesammelt, in die Hosentasche gesteckt, wo sie sich verpuppen darf, wenn sie mag, in Stoff bewahrt wartet auf ihre Zeit, solange, bis das alte Du dann endlich das neue gefunden hat. Seine neuen Kräfte entfaltet, die bei jedem Abschied entwickelt werden. Denn das Du wird nach jedem Abschied mehr. Du weißt es nur noch nicht.

12.00 Keinen Spaziergang machen können
Eine Woche später vielleicht, willst du (?) oder wirst du dann zum ersten Mal wieder den Fuß vor die Tür setzen. Wirst begreifen, dass das Leben ein Hindernislauf geworden ist. Während du Menschen über das eigene Entsetzen hinwegtrösten musst. Beileid ein Eisberg, den du nicht kommen sahst, dem du nicht ausweichen kannst. Der hausgroße Löcher aus dir reißt. Auf der Einkaufsstraße, Samstag, um 14:12 Uhr, neben dem Gemüsehändler und unter Kastanienbäumen, ist dein Abschied plötzlich angekommen. Wird jemand endgültig fortgeweht, auf leeren Worten, die daran verschwendet werden. Bleibt das langsame, zähe Kollidieren mit dem Eisberg der diesen Worten folgt. Und die Menschen, die du über dein Entsetzen hinwegtrösten musst. Während sich die Worte weiter in dich hineinschrauben. Ist alles gesagt. Hüllst du den Rest in Schweigen. Stehst auf von der Bank unter den Kastanienbäumen. Rückst die Jacke zurecht, dein Gesicht und nimmst dich, Satz für Satz, in deinem Mund mit dir nach Haus.

14.00 Mittagessen
Erst ein Monat mag vergangen sein und schon sollen deine müden Füße wieder tanzen. Wohin nur tanzen all die anderen Füße, fragst du dich. Während du nun das Wachsen der Stunden wahrnimmst, es wächst deine ureigene Zeit. Durch die dein Körper in einer schillernden Blase treibt. Und dabei alles alleine macht, dieser Körper, wartet nicht mit dir, eilt diesem Moment einfach davon. Sowie die anderen, denen du nicht mehr folgen kannst und die Angst haben, etwas in deinem Gesicht kaputt zu schauen. Und du stellst eine Kerze auf die ausgehobene und wiederaufgefüllte Erde, bist dankbar für die Stille des Lichts. Befühlst diese Erde, gräbst deine Hände hinein, in der Hoffnung jemanden dort wiederzufinden.

16.00 Tee
Sechs Monate danach beginnst du dann, Sätze einzusammeln, pflückst sie ab von den Mündern. Die überall wie Knospen im Frühling platzten und eröffnen was reif scheint. Sammelst du Sätze ab, pflückst sie in deinen Korb, Vergissmeinnicht, die du zu Hause zu Sträußen bindest, zum Trocknen kopfüber von der Decke hängst und am Abend von unten wie Sterne zählst. „Das Leben geht weiter.“ „Sei froh, dass du überlebt hast.“ „Das Leben geht weiter.“ „Das ist doch jetzt lange her.“ „Es war Gottes Wille.“ „Das Leben geht weiter.“

18.00 In der Dämmerung
Gar nicht daran denken müssen, das wäre schön. Wenn da weiterhin Raum wäre zum Ausweichen. Aber nach acht Monaten ist da nur noch eine eingesunkene Hülle, in der du als Fremde vor dich hinvegetierst und beginnst auszulaufen. Eine Fremde, in die du weiterhin Nahrung stopfst, in den so bedürftigen Körper, kaust, schluckst, kaust. An allem, was dir zum Erinnern fehlt. Und du stehst in der Manege, die Kleider vom Leib gerissen: Die Kleider, die Haut, die Muskeln, die Sehnen, die Knochen. Liegt alles in Fetzen um dich herum, machst dir zum Aufsammeln auch keine Mühe mehr. Bist heimatlos geworden im eigenen Körper. Wird im Innern alles neu strukturiert. Während du den anderen das frühere Ich reichst, zur eigenen Orientierung. Morgens, wenn du die alten Kleider, Gesten und Worte überziehst, ist alles zu eng geworden, schnürt dir die Brust ein, wie ein faulendes Korsett. In das du die Neue zwängst, um wieder jemand sein zu können, den die anderen kennen. Ist die Einzige von der du weißt, wie sie geht. Niemand will die vertrockneten Reste des toten Fleisches sehen, das zur Freude aller den Moonwalk versucht.

23.30 Zur Nacht
Wenn der Jahreskreis sich zum ersten Mal rundet, wirst du das Datum wie ein schimmerndes Zeichen auf deiner Stirn tragen. Wenn der Postbote klingelt, der Verkehr weiterfließt, das Telefon schrillt. Wird nur die Angst bleiben, die anderen könnten herausfinden, wie es dir wirklich geht. Und in deinem Herzen vielleicht eine Stelle, da blüht nichts mehr^2^. Währenddessen wird das Verabschiedete zu Ende und Anfang. Wird alles, was da vor nicht war. Über das sich in kommenden Sommern eine wilde Erdbeere beugen wird, über den Rand dieses Grabes. Den Kopf neigen, wird jemand, das rote Fleisch sein darin die gelben Punkte jeder einzelne Punkt wird die Hummel und ihr Fühlergruß auf der zurücknickenden Erdbeere wird die dicklippige Nacktschnecke und ihre Spuren über Blätter wird das Mäuschen zweifarben ein Streifen Fell auf dem Widerrist gibt die Richtung vor hier wird jemand der Geruch nach feuchtem Leben und die Wespe die den Tropfen von dem Blatt versaugt einen kleineren im Tausch zurücklassen wird jemand dort alles überall wird immer mehr wird immer weniger greifbar. Dort wo du dich von jemand verabschiedet hast, ist ein fruchtbares Feld geblieben. Dazwischen vielleicht eine Stelle, da blüht nichts mehr. Du müsstest sie suchen.
 
 

1 aus: Hilde Domin, Nachmittag am Guadalquivir.
2 aus: Ricarda Huch, Nicht alle Schmerzen sind heilbar
 
 

Teile des Textes sind in dem Roman „Lilium Rubellum“ (Horlemann Verlag) erschienen.

Letzte Änderung: 14.06.2022  |  Erstellt am: 14.06.2022


Geschrieben werden Tagebuchnotizen, die zeitgleich an verschiedenen Orten und in verschiedenen Ländern entstehen und in der WORTSCHAU veröffentlicht werden. An einem bestimmten (vorgegebenen) Tag machen sich sechs Autorinnen und Autoren Notizen darüber, wo sie sich an diesem Tag aufhalten, woran sie arbeiten, was sie erleben, wie sie sich durch den Tag bewegen und was sie bewegt. Jeder und jede ist jedoch frei, eine poetisch-verfremdete Wahrheit oder wirklich an diesem Tag Erlebtes aufzuschreiben.

Auf diese Art entsteht simultan ein Tagebuch, das einen vielschichtigen Blick auf eine jeweils individuell erfahrene Welt wirft. Was alle vereint und auch den tieferen Anlass des Seitenwechsels ausmacht, ist der genaue Tag, auf den alle sich beziehen. Das öffentliche und private Geschehen dieses Tages an ganz unterschiedlichen Orten mit seinen Chancen und Gefahren geben den gemeinsamen Fokus vor.

Die erste Folge startete mit einem Montag (dem 19. Juli 2019), die zweite mit einem Dienstag etc. Dem sich wiederholenden Prinzip der festgelegten Tage, die sich dem Wochenablauf anpassen, entspricht der simultane Perspektivwechsel. Das macht den Reiz des Projekts aus.

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