SEITENWECHSEL heißen Tagebuchnotizen aus dem Rheinland, aus Riga, Portland, Oregon; aus Barcelona und Kathmandu. David Eisermann ist einer von sechs Autorinnen und Autoren des aktuellen SEITENWECHSELS, der von faust-kultur aufgenommen wird. Ein Spaziergang wird ihm zum Auslöser von Erinnerungen, und der Umschlag im Briefkasten ruft den an Corona verstorbenen Nachbarn ins Gedächtnis.
Sonntag, 2. Januar 2022
11.59 Uhr
Draußen ist es regnerisch und grau. Wir sind drinnen, warten aber auf eine Gelegenheit, noch aus dem Haus zu gehen. Heute ist Sonntag. Wir erwarten keine Post. Den Umschlag im Briefkasten finden wir erst, als wir in der Dämmerung die Treppe hinuntersteigen.
Heute Nachmittag vor zwei Jahren lief meine letzte Rezension im Deutschlandfunk: „Die Wunder von Little No Horse“. Ein Roman von Louise Erdrich (im Aufbau Verlag, in der Übersetzung von Gesine Schröder), der von Familien eines indigenen Volkes in Minnesota und Nord-Dakota handelt. Jetzt hatte ich meinem Redakteur Jean-Claude vorgeschlagen, etwas über die Neuausgabe von Monika Marons „Pawels Briefe“ zu machen. „Man hat mir ausrichten lassen, ich sei politisch zu unberechenbar, passe nicht mehr in die Zeit und sei damit ein Risiko für den Verlag“, hat Monika Maron berichtet. Pawel war ihr Großvater mütterlicherseits, der 1942 ins deutsch besetzte Polen deportiert und dort ermordet worden war. Jean-Claude macht mich schnell darauf aufmerksam, Monika Maron sei doch jetzt „belastet“. Im Herbst vor der Corona-Krise habe ich sie noch bei ihrer Lesung in der Düsseldorfer Stadtbücherei begleitet und lange mit ihr gesprochen. Sie hatte berlinert wie Vaters Geschwister.
15.07 Uhr
Wir sind im Nieselregen unterwegs im Bahnhofsviertel. Ich betrachte das Eckgebäude Gangolfstraße, sechs Stock hoch, meist Büros, die Linien im flotten Schwung der Zeit vor siebzig Jahren. Im Erdgeschoß gab es früher ein Kino mit leicht nach innen gewölbter Riesenleinwand und 650 Sitzplätzen, der Saal sieben Meter hoch. Hier habe ich meinen Vater dazu gekriegt, sich mit mir den allerersten „Star Wars“-Film anzusehen. Weil da Alec Guinness mitspielte. Den fand er gut. Spätestens, als Obi-Wan Kenobi gegenüber Luke Skywalker ankündigte „Mos Eisley Spaceport — you will never find a more wretched hive of scum and villainy; we must be cautious“, hat meinem Vater die ganze Sache Vergnügen bereitet. Die Taverne von Mos Eisley mit lauter Handpuppen als Aliens, die sich auf unverständliche und groteske Weisen unter-hielten und mit einer Band von „Außerirdischen“, die ulkigen uptempo-Jazz spielte. Eine Muppet-Spelunke, die Aufnahmen schnell montiert, damit es verwegener aussah, als es war. Bis Obi-Wan sein Laserschwert zum Einsatz brachte, um Luke gegen zwei Bösewichter zu verteidigen.
16.38 Uhr
Wir gehen in der Dämmerung durch die Nordstadt. Von der neuen Kommunalregierung ist an jedem Schild mit dem Namen der Straße ein erklärender Zusatz angebracht worden: die Straße heiße nach einem Prinzen aus dem Hause Schaumburg-Lippe, hier in der Stadt geboren und gestorben und zwischendurch einige Zeit Regent eines Kleinstaats im heutigen Bundesland Nordrhein-Westfalen, an den in der Landesflagge noch die Abbildung einer Rose erinnert. Bis zu seinem Tod hat er in einer schloßartigen Villa direkt am Rhein gelebt. Das alles, um Gerüchten entgegenzuwirken: die Adolfstraße hieße nach dem, dessen Name nicht genannt werden sollte. In den Fenstern der geschlossenen Geschäfte leuchten bunte Lichter. Violett, rot und sogar grün. Das Weingeschäft an der Ecke ist geschlossen. Da kaufen wir sonst ein. An eine Hauswand hat jemand eine Art Flyer tapeziert: „Alpaka, Alpaka Antifascista!“ steht da. Lamas sollen ganz relaxte und gelassene Tiere sein. Weil diese Ausgeglichenheit sich auch auf Menschen überträgt, die in der Eifel südlich von Bonn eine Lama-Wanderung buchen können, werden dort solche aus den Anden stammenden, domestizierten Kamele bereitgehalten. Das Alpaka auf dem Flyer an der Wand trägt zudem eine Mütze, wie sie in diesem Winter voll im Trend ist: Balaclava! Eine vermummende Mütze, die nur die Augenpartie freiläßt. Eine Mailadresse: da kann man sie bestellen.
17 Uhr
Am Rhein erscheint nach Sonnenuntergang alles violett. Kühlschranktemperatur, doch kaum Wind. Kirchtürme, Lichtmasten. Vom Ufer aus der Blick auf’s Wasser und die älteste der drei Brücken. John F. Kennedy war mal drei Tage hier, bevor er wenige Monate später in seiner Heimat ermordet wurde. Hinter uns sitzen zu Dutzenden (Ruth sagt: zu Hunderten) in den kahlen Bäumen entlang der Promenade die Halsbandsittiche (Psittacula krameri) – Papageien mit grünem Gefieder. Es herrscht großes Geschrei. Bei den tiefhängenden Wolken sind die Berge gegenüber nicht zu sehen. Am Horizont in der Rheinbiegung voll erleuchtet die Bürotürme. Der Wolkenkratzer der Deutschen Post DHL Aktiengesellschaft ist am größten.
Wir öffnen den Umschlag, der im Briefkasten lag und sehen das freundlich-nachdenkliche Gesicht unseres Nachbarn mit dem krausen Kapitänsbart ohne Schnurrbart – Schifferkrause. Ein Schwarzweißbild. Er war Jahrzehnte beim Forstamt beschäftigt und sieht ein wenig so aus wie ein weiser, normalgroß geratener Gartenzwerg. Der Wald und das Holz waren sein Metier. An seinem Haus hatte er die Regenbogenfahne angebracht. Ein Haus voller jüngerer Männer, die da zur Miete wohnten. Im Sommer gab es regelmäßig Gartenfeste mit bunten Lampions, bei denen er und ich uns über Pflanzen und seinen Garten unterhielten und er mich nach Büchern und Filmen fragte, über die er mich im Radio hatte sprechen hören. Im vergangenen Sommer, auf der Rückfahrt nach meinem Büchergespräch über Salman Rushdie, schrieb er mir: „Das war gut. Du kannst Menschen begeistern, auch mal was zu wagen – ein Buch zu lesen.” Ein anderes Mal schrieb er mir: Der Duden hat versagt, lieber David. Ich nutze schon mal das Wort „beruhlich“ im Zusammenhang mit Wünschen und stillen Zeiten. Ist es meine Erfindung, weil es von „Word“ rot markiert wird? Vor einiger Zeit hatte ich den Alpaka-Flyer fotografiert, gepostet, und er hatte ihn noch mit ein paar fetten Likes versehen. Jetzt finde ich in der Anzeige ein Zitat von ihm: „Gehen Sie doch mal im Wald spazieren. Es soll dort still sein, wenn sie den Alltagslärm wegfliegen lassen …“ Ruth und mir geht es wie den Nachbarn, die uns die Anzeige in den Briefkasten geworfen haben: wir sind sehr traurig über seinen „so plötzlichen Pandemie-Tod“. Er war zum Schluß ganz allein. Man hatte ihn im Krankenhaus völlig isoliert. Keiner, der seine Hand noch hätte drücken dürfen, der etwas zu ihm hätte sagen können, auch wenn er nicht mehr bei Bewußtsein war. Er hätte es vielleicht doch registriert.
Letzte Änderung: 19.05.2022 | Erstellt am: 17.05.2022
Geschrieben werden Tagebuchnotizen, die zeitgleich an verschiedenen Orten und in verschiedenen Ländern entstehen und in der WORTSCHAU veröffentlicht werden. An einem bestimmten (vorgegebenen) Tag machen sich sechs Autorinnen und Autoren Notizen darüber, wo sie sich an diesem Tag aufhalten, woran sie arbeiten, was sie erleben, wie sie sich durch den Tag bewegen und was sie bewegt. Jeder und jede ist jedoch frei, eine poetisch-verfremdete Wahrheit oder wirklich an diesem Tag Erlebtes aufzuschreiben.
Auf diese Art entsteht simultan ein Tagebuch, das einen vielschichtigen Blick auf eine jeweils individuell erfahrene Welt wirft. Was alle vereint und auch den tieferen Anlass des Seitenwechsels ausmacht, ist der genaue Tag, auf den alle sich beziehen. Das öffentliche und private Geschehen dieses Tages an ganz unterschiedlichen Orten mit seinen Chancen und Gefahren geben den gemeinsamen Fokus vor.
Die erste Folge startete mit einem Montag (dem 19. Juli 2019), die zweite mit einem Dienstag etc. Dem sich wiederholenden Prinzip der festgelegten Tage, die sich dem Wochenablauf anpassen, entspricht der simultane Perspektivwechsel. Das macht den Reiz des Projekts aus.