Walt Whitman verstand sich als homerischer Volksdichter, als Barde einer „athletischen Demokratie“, wie er es in seinem Zyklus „Grasblätter“ ausdrückte. Vielleicht auch deshalb erinnert sich das gebildete Amerika in diesem Jahr, da die US-Demokratie kriselt, mit besonderem Pathos an Whitmans 200. Geburtstag. Stefana Sabin fragt sich, ob er auch gelesen wird.
Im Juli 1855 boten einige Buchhandlungen in New York und Brooklyn ein Quartheft von weniger als hundert Seiten zum Verkauf an. Das Büchlein, das privat gedruckt worden war und von Fowler & Wells vertrieben wurde, war in grünes Leinen gebunden und mit Blättern, Blüten und Knospen dekoriert. Die Umschlagdekoration passte zum Titel: Leaves of Grass, Grasblätter. Kein Name stand auf dem Umschlag oder der Titelseite, aber im Frontispiz erschien ein Porträt des Autors: in weiten Arbeitshosen und offenem Hemd, mit einem breitkrempigen, schiefsitzenden Hut, die eine Hand in der Tasche und die andere in die Seite gestemmt. Mit einem süffisant nachdenklichen Gesichtsausdruck schien der junge Mann sich der Bedeutung seiner poetischen Mission bewusst zu sein – so jedenfalls verstanden manche Rezensenten die lässige Pose des Dichters, der im Vorwort eine Art patriotische Ars poetica formulierte: „Von allen Nationen aller Zeiten haben die Amerikaner wahrscheinlich die vollkommenste poetische Gesinnung. Die Vereinigten Staaten sind selber wesentlich das großartigste Gedicht. … Von allen Menschen ist der große Dichter der ausgeglichene.“
Der populistisch hohe Ton dieser Sätze wirkte ähnlich befremdlich wie die implizit arrogante Gelassenheit der abgebildeten Erscheinung. Die Abbildung erlaube, fand der Bostoner Bildungsbürger, Harvard-Professor und Feuilletonist Charles E. Norton, eine genauere Einschätzung des Autors, der sich über Kleidungsvorschriften ebenso hinwegsetzte wie über Rhythmus, Reim und angemessenen Sprachgebrauch – „a curious and lawless collection of poems“ nannte er die Sammlung, in der hingegen Ralph W. Emerson, der Dichter-Philosoph aus Concord, Massachusetts, einen sicheren dichterischen Impuls erkannte. In London wunderte sich George Eliot, dass die „transatlantic critics“ in derart ungeschliffenen Gedichten den Beginn einer neuen lyrischen Tradition sahen.
„Unsere Abhängigkeit, unsere lange Lehrzeit bei anderen gebildeten Ländern geht ihrem Ende zu,“ hatte Emerson in seiner Rede über „den amerikanischen Gelehrten“ verkündet. „Wir haben den edlen Musen Europas zu lange zugehört“. Entsprechend Emersons Erklärung verwarf der Dichter von Leaves of Grass die traditionellen Motive der europäischen Lyrik und machte das idealistische Versprechen einer Neuen Welt, einer Neuen Gesellschaft und eines Neuen Individuums zum poetischen Vorwurf: „Ich singe den Sang von Weitung und Stolz, / Wir haben schon genug Duckerei und Missbilligung, / Ich zeige, dass Größe allein Entwicklung ist.“
In einer Mischung aus Fortschrittsgläubigkeit und Naturhuldigung, pantheistischer Weltauffassung und exaltiertem Optimismus werden Land, Landschaft und Nation gefeiert – und immer wieder der Dichter selbst, der sich schließlich auch namentlich offenbart: „Walt Whitman, ein Kosmos, der Sohn Manhattans, / Ungestüm, fleischlich, sinnlich, essend, trinkend und zeugend, / Kein Gefühlsduseler, keiner, der über Männern und Frauen steht oder abseits von ihnen, / Nicht mehr bescheiden als unbescheiden.“
Gegen die Sklaverei
Walter Whitman wurde am 31. Mai 1819 in Huntington auf Long Island bei New York geboren, besuchte die Grundschule in Brooklyn, wohin die Familie umgezogen war, und ging mit elf von der Schule ab, um zum Familienunterhalt beizutragen. Er nahm verschiedene Jobs an, wanderte durch die Stadt und suchte die öffentlichen Bibliotheken auf. Nachdem 1835 der Druckerbezirk niederbrannte, kehrte er nach Long Island zurück und, nach einem missglückten Versuch als Lehrer arbeitete er als Journalist. 1846 war Whitman Redakteur des renommierten Brooklyn Eagle, aber nur zwei Jahre später wurde er wegen seiner radikalen politischen Haltungen (er war ein entschiedener Abolitionist, also gegen die Sklaverei) gefeuert.
Vielleicht wäre er während des Baubooms um 1850, als er in Brooklyn recht erfolgreich in Immobilien spekulierte, wohlhabend geworden, aber er hatte die Ambition, den feuilletonistische Ruf nach einer dichterischen Darstellung Amerikas nachzugehen und also Dichter zu werden. So wurde aus Walter Whitman Jr. “Walt Whitman, der Sohn Manhattans“, und New York’s Walt Whitman heißt denn auch die Ausstellung, in der der ehrenwerte Grolier Club in Manhattan, die älteste US-amerikanische bibliophile Gesellschaft, die Selbstverwandlung des Schulabbrechers in den Großen Dichter anhand von Dokumenten, Büchern und Manuskripten (viele davon noch nie vorher öffentlich gezeigt!) nachvollzieht.
Tatsächlich erkannte Whitman in der Geschäftigkeit der entstehenden Metropole, im wirtschaftlichen Wachstum und in den großen politischen Spannungen ein dichterisches Thema, für das er im Alltagsidiom eine angemessene Sprache fand. „Sprache ist der Zwilling meiner Vision, außerstande, sich selbst zu ermessen, / Sie fordert mich stets heraus…“ Er beschrieb die Prärie, die Flüsse, die Städte; stellte den Arbeitsalltag, die sozialen und politischen Fronten dar – und huldigte der einigenden und heilenden Kraft der Poesie. In ungezügelten freien Versen, die keinen Reim kennen und die willkürlich gebrochen erscheinen, artikulierte Whitman die Stimmung eines sich selbst erfindenden Individuums als des Exponenten einer heterogenen Mehrheit, die sich im romantischen Glauben an die demokratische Gleichheit aller als Nation vereinte. „Ich nehme die Wirklichkeit an und wage nicht, sie in Frage zu stellen“, postulierte er in jenem Gedicht, das später Song of Myself, Gesang meiner selbst, heißen sollte.
In der Ausgabe von 1855 hatten die darin gesammelten zwölf Gedichte noch keine Überschriften. Von Auflage zu Auflage – es sollten schließlich neun werden! – bearbeitete Whitman, der sich fortan Walt nannte, seine Verse, ordnete die Gedichte um und gab ihnen Überschriften, von denen „Song of Myself“ als eine Art Schlagwort des amerikanischen Individualismus immer wieder missbraucht wurde. Fünf verschiedene Ausgaben erschienen zu seinen Lebzeiten, immer wieder kamen neue Gedichte und Gedichtzyklen hinzu (1856 waren es 32 Gedichte, 1860 schon 154). Whitman ließ Prosa und Lyrik ineinander übergehen, wenn er assoziative Reihungen und realistische Beschreibungen in seitenlangen parataktischen Sätzen kombinierte; er schöpfte aus der romantischen und transzendentalistische Tradition und propagierte die Einheit von subjektivem Empfinden und kollektivem Erleben; er benutzte den im Englischen ungewöhnlichen trochäischen Rhythmus und lehnte sich an den fließenden Stil der Bibel ebenso an wie an den deklamatorischen Überschwang der homereschen Epen. Und tatsächlich haben die Verse eine sehr besondere Musikalität, scheinen sie geradezu auf den mündlichen Vortrag ausgerichtet zu sein.
Eins mit den Menschen
Der hohe Ton, der zwischen der Erhabenheit biblischer Anspielungen und der Direktheit alltäglicher Ausdrücke in den Versen aufrechterhalten wird, verrät nicht nur eine ästhetische, sondern auch eine politische Haltung: Whitman will einen poetischen Reflex der demokratischen Ideale, der sozialen Vitalität und der wirtschaftlichen Kraft Amerikas schaffen – er will das Große Amerikanische Gedicht schreiben: „Seht, Leib und Seele – dieses Land, … / Das vielgestaltige weite Land, der Süden und der Norden im Licht, die Ufer des Ohio und der blinzelnde Missouri, / Und immer die ausgedehnten Prärien, mit Gras und Korn bedeckt.“ Whitman verstand sich als Volksdichter, der christusähnlich alle Befindlichkeiten selber durchmachte und der eins mit dem Universum und mit den Menschen war – und der die Nation in seiner Beschreibung zugleich spiegelte und erfand. Auch deshalb erklärte er immer wieder die Verbundenheit mit dem Land zur Bedingung seines Schaffens, und indem er sich als Nachkomme einer alteingesessenen Familie ausgab, förderte er die Identifikation zwischen dem Lyriker und seinem lyrischen Ich. „Meine Zunge, jedes Atom meines Blutes aus diesem Boden, dieser Luft geformt / Hier geboren von Eltern, die hier geboren wurden, und deren Eltern ebenfalls, und deren Eltern ebenfalls, / Ich, siebenunddreißig Jahre als jetzt, bei voller Gesundheit, beginne / Und hoffe, nicht aufzuhören bis zu meinem Tod.“
Und Whitman hörte nicht mehr auf. Den Bürgerkrieg thematisierte er in dem Zyklus „Trommelschläge“ von 1865, die Stimmung nach der Ermordung von Abraham Lincoln in mehreren Gedichten, die er später zu „Erinnerungen an Präsident Lincoln“ gruppierte. Dazu gehört die Elegie „Als jüngst der Flieder blühte im Garten vorm Haus“, die schon damals berühmt wurde und bis heute eines seiner berühmtesten Gedichte geblieben ist. Darin kombinierte Whitman inkarnatorische Anrufung und pastorale Beschreibung, pries im politischen Lenker eine elementare männliche Energie und besang die nationale Einigung als Bestätigung der demokratischen Erneuerungskraft.
Nachdem er während des Bürgerkriegs als Freiwilliger Verwundete gepflegt hatte, bekam er eine Stelle im Justizministerium, die er aber bald wieder verlor, als die Grasblätter als „indecent“ abgestempelt wurden. Dennoch wuchs Whitmans Ruhm mit jeder neuen Ausgabe – und er selber trug kräftig zur Befestigung dieses Ruhms bei, indem er anonyme Rezensionen seiner eigenen Bände schrieb und unter Pseudonym sogar eine Biographie über sich verfasste. Auch die Sammlungen der Kriegsfeuilletons und der Prosastücke wurden von den Rezensenten wohlwollend aufgenommen, und eine erste Generation jüngerer Dichter fing an, die langen freien Verse nachzuahmen und in der Alltagswirklichkeit poetische Themen zu suchen. Als „hot little prophets“, als heißblütige kleine Propheten wurden die jungen Bewunderer apostrophiert, die sich um Whitman scharten, als er sich 1872, nachdem er einen Schlaganfall erlitten hatte, in Camden in New Jersey niederließ. Die heißblütigen kleinen Propheten halfen ihm bei der Vorbereitung der neuen Ausgabe der Grasblätter von 1881, der Prosasammlung von 1888, schließlich der sogenannten „deathbed edition“, der Ausgabe letzter Hand der Grasblätter, die er 1891-92 zusammenstellte und die auf 400 Gedichte angewachsen war – und die unmittelbar vor seinem Tod am 26. März 1892 erschien.
Whitman hat die amerikanische Lyrik in die Eigenständigkeit geführt, wie Emerson es gefordert hatte, und Wege eröffnet, die William Carlos Williams, Charles Olson, Allen Ginsberg und noch June Jordan weitergegangen sind. Auch in Europa sind seine Spuren erkennbar: bei Federico García Lorca, Cesare Pavese, Czeslaw Milosz, Artur Lundkvist oder auch in den Verskollagen von Rolf Dieter Brinkmann. Whitmans Einfluss, wie eine Ausstellung in der New York Public Library zeigt, reichte bis nach Russland: schon Turgenjew (1818-1883) übertrug einige Gedichte aus den Grashalmen ins Russische, aber erst 1919 wurde Whitman durch den Band Uolt Uitmen: Poeziia gradushchei demokratii –‚Die Lyrik der kommenden Demokratie‘, von Kornei Chukovsky (1882-1969) zum Heros des sowjetischen Realismus. Zwar wurde Whitman von der sowjetischen Propaganda vereinnahmt, aber es waren die Futuristen, vor allem Velimir Khlebnikov (1885-1922) and Wladimir Majakowski (1893-1930), die für Whitmans hohen Ton eine lyrische Form im Russischen fanden.
Stimme der Demokratie
„Comrades! I am the bard of Democracy”, Kameraden! Ich bin der Dichter der Demokratie, erklärte Whitman in einer Notiz von 1859 – und er hat sich bemüht, diese Behauptung einzulösen. „Ich höre, ihr suchet etwas, um dieses Knoten zu lösen, die Neue Welt, / Und Amerika zu erklären, seine athletische Demokratie,“ heißt es in einem Gedicht. „Also nehmt hier meine Gedichte, dass sie euch zeigen, was ihr begehrt.“ Whitmans Selbsterfindung als Stimme einer demokratischen Nation, von seinen frühen Versuchen als Journalist über die poetischen Anfänge und den dichterischen Ruhm bis zu den letzten Jahren, wird in der Morgan Library unter dem passend pathetischen Titel Bard of Democracy aufgegriffen.
„Es wäre nüchterne Kleinlichkeit“, schrieb Gustav Landauer, „wollte man dem Dichter einwenden, solcher Standpunkt zeuge doch von gefährlichem, übertriebenem Hochmut.“ Landauer (1870-1919), der Schriftsteller, Anarchist und Shakespeare-Übersetzer, erkannte in Whitman einen ihm verwandten „revolutionären Geist“, in dem sich „Individualismus und Sozialismus“ vereinten. Er habe „der Lyrik eine neue Form und ein ungeheueres neues Stoffgebiet – alle Tatsächlichkeit der körperlichen und gestiegen Welt – gegeben“, schrieb Landauer im Vorwort zu seinen Übersetzungen einiger Gedichte und Briefe.
Landauers Übersetzung Gedichte von Traum und Tat erschien 1915. Schon ein Jahr vorher war eine Auswahl von Gedichten in der Übersetzung von Franz Blei (1871-1942) unter dem Titel Hymnen für die Erde erschienen. Den Titel Grashalme trug zum ersten Mal 1889 eine Auswahl der Gedichte, die in Zürich erschien – und er wurde fortan weiter benutzt: von Karl Federn, Johannes Schlaf und Hans Reisiger, die aber alle auch nur eine Auswahl übersetzten. „Ich glaube, ein Grashalm ist nichts Geringeres, als das Tagwerk der Sonne.“ – hatte Landauer übersetzt.
Erst 2009 hat Jürgen Brôcan den Titel wortgetreu mit Grasblätter übersetzt und so etwas von der poetischen Verfremdung des Originals ins Deutsche herübergerettet. Brôcan, der zum ersten Mal das gesamte Konvolut der Whitmanschen Gedichte übersetzt hat, ist einen sprachlichen Mittelweg zwischen Nüchternheit und Pathos, zwischen modernem und archaischem Vokabular gegangen und hat dabei den komplexen Registerwechsel und den besonderen Rhythmus des Englischen erhalten – und trotzdem eine geschmeidige deutsche Fassung gestaltet.
Nicht, dass der Zauber der Whitmanschen Verse sich rekonstruieren ließe – auch im Original nicht, weil er zu sehr zeitgeistig verankert ist. Denn anders als Melvilles Romane und Emersons Essays, die über ihre Epoche hinausreichen und allgemeingültige Befindlichkeiten darstellen, sind Whitmans Gedichte in einer Mischung aus vitalistischer Naturverehrung und realistischer Alltagsbeschreibung, aus patriotischem Idealismus und poetischem Sendungsbewusstsein gefangen. Auch die implizite Identifikation zwischen dem Lyriker, seinem lyrischen Ich und seinem Publikum, die für den Volksdichter, der Whitman sein wollte, konstitutiv war, funktioniert heute nicht mehr. Deshalb ist das thematisch und sprachästhetisch Revolutionäre dieser Gedichte vielleicht nachvollziehbar, aber ihre berauschende Wirkung stellt sich nicht mehr ein.
Letzte Änderung: 08.08.2021
Walt Whitman Grasblätter
Übersetzt von Jürgen Brôcan.
Fester Einband, 880 Seiten.
ISBN 978-3-446-23410-9
Hanser Verlag, München, 2009
Walt Whitman Grashalme
Nachdichtungen und Übersetzung von Hans Reisiger
Taschenbuch, 432 Seiten
ISBN 978-3-257-24497-7
Diogenes Verlag, Zürich, 2019
Kommentare
Es wurde noch kein Kommentar eingetragen.