Zur Gestapo beordert

Zur Gestapo beordert

Die mutige Helferin Erica Ludolph
Erica Ludolph, 17-jährig, 1938 im Internat im Schwarzwald | © Privat

Falsche Papiere, Verstecke, Lügen gegenüber den Behörden – Erica Ludolph versuchte alles, um Nahrungsmittel für Juden zu beschaffen, ihnen das Leben zu retten, Entschädigung und Rente zu erwirken. Sie hat ihr Leben auf’s Spiel gesetzt und ist 2021 hundert Jahre alt geworden. Doris Stickler skizziert ihr Leben.

Auf welcher Seite sie steht, wusste Erica Ludolph schon als 14-Jährige. Mit ihrer Mutter hatte sie sich in der Dreifaltigkeitsgemeinde 1935 einem Helferkreis der Bekennenden Kirche angeschlossen, der sich um jüdische Bürger kümmerte und sie mit Lebensmittel versorgte. In den folgenden Jahren verstärkte sie ihr Engagement und stand bis zum Ende des Nazi-Regimes Verfolgten zur Seite.

Weil sie unter anderem französische Kriegsgefangene mit Nachrichten und Essen versorgte, wurde Erica Ludolph angezeigt und 1943 zur Gestapo beordert. Sie rechnete mit dem Schlimmsten und hatte den Koffer bereits gepackt. In dem Verhör konnte sie mit „Lügen, bis sich die Balken bogen“ die Anschuldigungen jedoch entkräften und wurde nur verwarnt.
Die Drohung, wenn man noch einmal etwas von ihr höre, wisse sie, was ihr blüht, schreckte Erica Ludolph nicht ab. Sie besorgte sich vielmehr einen gefälschten Ausweis, um weiter Kurierdienste leisten zu können. Im Jahr darauf verhalf sie der Mutter ihrer besten Freundin zur Flucht. Die Christin jüdischer Herkunft hatte eine Vorladung zur Gestapo erhalten, was ihre bevorstehende Deportation bedeutete.

Erica Ludolph wandte sich daher an Pfarrer Heinz Welke. Einem Netzwerk von Regimegegnern angehörend, die Unterschlupfmöglichkeiten und Fluchtwege für Juden organisierten, beschaffte er falsche Papiere und ein Versteck. Sie selbst begleitete Margarete Knewitz auf der ebenso riskanten wie langwierigen Reise von Frankfurt nach Cuxhaven.

Da es 1944 nur noch Fahrkarten für maximal 100 Kilometer gab, waren die beiden vier Tage und Nächte unterwegs – ständig auf der Hut und voller Angst vor Kontrollen. Ihre mutigen Taten hielt Erica Ludolph lange unter Verschluss. Die Geschichte von der Fluchtbegleitung etwa erzählte sie erstmals der Soziologin Petra Bonavita, die bei Recherchen zu Rettern und Helfern in Frankfurt 2007 auf Erica Ludolph gestoßen war.

In ihrem zwei Jahre später erschienenen Buch „Mit falschem Pass und Zyankali“ widmete sie der Rettungsaktion ein eigenes Kapitel. Petra Bonavita pflegt bis heute den Kon-takt zu Erica Ludolph, die am 25. März ihren 100. Geburtstag feiert. Im Laufe der Zeit erfuhr sie zwar noch einiges mehr. Zu ihrem Bedauern aber nur bruchstückhaft.

„Erica Ludolph ist sehr zurückhaltend und redet nicht über Einzelheiten oder Zusammenhänge. Sie will auch nicht, dass man sie Retterin nennt, weil sie ihr Handeln als selbstverständlich begreift. Es ist für sie der im Alltag gelebte Glaube.“ Auf diese Haltung traf Petra Bonavita bei vielen Gegnern des NS-Regimes.

Wie ihnen sei auch Erica Ludolph klar gewesen, dass sie nach Ende des Nationalsozialismus noch lange „als Volksverräterin betrachtet worden wäre, hätte sie jemandem der-artiges anvertraut“. Sie selbst habe ihr Schweigen einmal mit den Worten begründet: „Meine Angst und eigene Feigheit, als Vaterlandsverräterin behandelt zu werden“.

Nach 1945 fühlte sich Erica Ludolph denn auch nur unter Gleichgesinnten wohl. So traf sie sich im Sigmund Freud Institut wöchentlich mit Holocaust-Überlebenden, besuchte bis sie immobil wurde und deshalb 2015 ins Alten- und Pflegeheim Martha-Haus zog, regelmäßig einen Gesprächskreis der Jüdischen Gemeinde. Nicht nur privat bewegte sie sich fast nur im Kreise jener, die sich der Erinnerungs- und Gedenkarbeit widmeten.

Erica Ludolph studierte Französisch und Englisch – einige Semester auch in den USA – und leitete ab 1960 die „Hilfsstelle für rassisch verfolgte Christen“ des Diakonischen Werks Hessen-Nassau. Bis zu ihrer Pensionierung 1981 betreute sie in Frankfurt verbliebene und aus der Emigration zurückgekehrte „rassisch“ Verfolgte und kümmerte sich darum, dass sie Beihilfen, Entschädigungen und Renten erhielten.

Bei seinen Nachforschungen über den Umgang der hessischen Kirchen mit Christen jüdischer Herkunft war sie für den Publizisten Hartmut Schmidt „über Jahre hinweg die Hauptansprechperson“: „Ich habe ihr sehr viele und wichtige Informationen zu verdanken.“ Dass sie etliche Stolpersteine initiierte und finanzierte, wundert den Frankfurter Stolperstein-Koordinator wenig. „Erica Ludolph kann nicht anders als sich zu engagieren.“

Diese Erfahrung machte auch der Historiker und Sachbuchautor Dieter Maier. In den 1970er Jahren für Amnesty International tätig, lernte er Erica Ludolph im Rahmen seiner Arbeit mit chilenischen Flüchtlingen kennen. 2011 traf er sie anlässlich einer Ausstellung zum 100. Geburtstag von Pfarrer Heinz Welke wieder. Um bei der Eröffnung vom Wirken des Theologen zu erzählen, habe sie sich am Vortag sogar selbst aus dem Krankenhaus entlassen. Für einen Redebeitrag sei sie dann aber viel zu schwach gewesen.

Nach der Wiederbegegnung hat Dieter Maier wiederholt mit ihr gesprochen und ist sich wie Petra Bonavita sicher: „Erica Ludolph hat mehr getan, als sie erzählte und dafür fast völlig auf Privatleben und gänzlich auf eine Familie verzichtet.“ Trotzdem plagten sie bis heute Schuldgefühle, werfe sich vor, nicht mehr gemacht zu haben, weiß die Soziologin.

Eine Begebenheit laste besonders schwer auf ihr. Gegen Ende des NS-Regimes sei Erica Ludolph zufällig am Hauptbahnhof unterwegs gewesen, als dort Polizisten etwa 30 Juden zusammen trieben. Sie könne sich nicht verzeihen, dass sie damals „die Beine in die Hand genommen hat und vorbei gerannt ist, statt ihr Leben zu opfern“.

Letzte Änderung: 14.12.2021  |  Erstellt am: 14.11.2021

Mit falschem Pass und Zyankali | © Privat

Petra Bonavita Mit falschem Pass und Zyankali

Retter und Gerettete aus Frankfurt am Main in der NS-Zeit
200 Seiten, kartoniert
ISBN 3-89657-135-4
Schmetterling Verlag, Stuttgart 2009

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