Ob wir’s wissen oder nicht, unser deutsches Denken ist ohne den Hintergrund der Shoah nicht möglich. Es gibt nicht mehr viele Zeugen und Überlebende des faschistischen Vernichtungswillens; und diejenigen, die sich noch erinnern können, müssen dafür in ihre Kindheit und Jugend zurückgreifen. Peter Kern erzählt, wie sich der Pogrom in seiner pfälzischen Heimat realisierte.
Tante Antoinettes Haus in der Hauptstraße seines Dorfes hatte bis 1938 einer Familie Baer-Metzger gehört. Was war aus dieser Familie geworden? In den Dorfchroniken, jeweils in Buchform veröffentlicht, wenn ein Jubiläum anstand, las der Mann von der Bäre Eichene. Als ein Original wurde sie gezeichnet, aber über ihr Schicksal erfuhr der Leser nichts.
Auf den Bauerndörfern der Pfalz war es üblich, an den Familien- den Vornamen anzuhängen. Und frankophil ging es bei der Namensgebung oft zu; die Töchter Antoinette, Francoise oder Eugénie zu nennen, war verbreitet. Mancher Straßenbauer, manche Bonne hatten im florierenden Paris des 19. Jahrhunderts Arbeit gefunden, und, zurück in der Heimat, gab man den Kindern die französischen Namen wohl auch aus Nostalgie. Grob ging der Dialekt mit der feinen französischen Sprache um: Andened, Fränzel, Eicheene lautete die Übersetzung.
Die Bäre Eicheene, das ist die Frau Eugenie Baer, geboren am 3. Dezember 1881 in Rodalben, ermordet am 23. März 1942 in Riga. So steht es auf den Blättern von Yad Vashem.
Ihre christlichen Nachbarn werden sie als ein „Mannweib” gesehen haben, galt sie doch als Frau mit Haaren auf den Zähnen. Mit Zähnen und Klauen rang sie um ihr Gut, aber der Übermacht der von den Nachbarn an die Macht gebrachten Partei war sie nicht gewachsen. Der kleine Nazi-Bürgermeister stand dem großen Nazi-Gauleiter bei der Judenverfolgung in nichts nach. (Eugen Willenbacher hatte sich um den Pfälzerwald-Verein, den FC Homburg und um die Narrenzunft verdient gemacht; so ehrte die Zeitung sein Andenken, als er 1974 starb).
Eugenie Baer, das vierte von elf Kindern, lebte mit ihrem Mann Alfred Metzger, ihrem Sohn Rudolf (Rudi) und ihrer Tochter Henriette (Henny) von einem gut gehenden Geschäft, in dem es, wie einem Inserat zu entnehmen, folgendes zu kaufen gab: „Herren-Anzugstoffe, Kleider- und Seidenstoffe, Baumwollwaren, Leib-, Tisch- u. Bettwäsche, Badeanzüge, Bademäntel, Frottierwäsche, Gardinen, abgepaßt und am Stück, Herren-, Damen- und Kinder-Konfektion, Herrenhüte, Klapphüte u. Mützen in großer Auswahl, Alle Kurz- u. Wollwaren, Herren- u. Damenschirme, stets Neuheiten in Krawatten“.
Dann kam der 1. April 1933 und die Nachbarn waren mit dem auf das Schaufenster aufgepinselten Kauft nicht bei Juden! aufgefordert, Eugenie Baers Wäscheladen zu meiden. SA-Leute patrouillierten vor dem Geschäft auf dem Bürgersteig. Ihr Anführer, bewaffnet mit einem Fotoapparat, um potentielle Kunden abzuschrecken, sah sich plötzlich selbst attackiert. Frau Baer stürmte mit ihrem Hauptbuch heraus, um dem Nazi-Herrn zu zeigen, was er bei ihr noch an Schulden stehen hatte.
Beim Überfall auf Frau Baers Laden in der Nacht des Novemberpogroms 1938 stahl eine Nachbarin Stoffballen. Beim Einschlagen der Scheibe verletzte sich ein SA-Mann. Polizei kreuzte keine auf, dafür das Rote Kreuz. Die beiden Rot-Kreuz-Leute stellten sich schützend vor das Kind der Frau Baer und nahmen es mit sich; vor einem vielleicht drohenden neuerlichen Pogrom wollten sie Henny schützen. Ihre Henriette konnten die Eltern mit einem Kindertransport ins schwedische Ausland schicken. Ihren Sohn Rudi davor zu bewahren, von einer Kindermeute durchs Dorf gejagt zu werden, gelang ihnen nicht. Judd, Judd, stinkischer Judd, riefen die Kinder, bespuckten Rudi und bewarfen ihn mit Steinen. Eine einzige Erwachsene, eine Frau Brödel, stellte sich ihnen in den Weg. Der kleine Anführer drohte der Frau: Aldie, geh ninn ins Haus un sei ruhisch, sunscht kumm sche no Dachau, Gras robbe. Von den Konzentrationslagern hatte also nie, nie jemand etwas gewusst, wie die Nachbarn der Juden, die Verwandtschaft des Mannes, später beteuerten.
Wenige Tage nach dem 1. April 38 trat der Vertreter einer Trikotagen-Firma aus Chemnitz in Frau Baers Laden. Ihm beschied sie: „Von einem Christen kaufen wir nichts mehr.“ Der Vertreter wurde „abgeschickt“, wie es in einem Flugblatt der NSDAP-Ortsgruppe hieß. Er klagte sein Leid einer ortsansässigen Geschäftsfrau, die auf einem zweiten Flugblatt erklärte: „Ich bin jederzeit bereit, darüber eidlich zu bekunden. Gez. Anna Germann.“ Der Ortsgruppenleiter nahm die Abfuhr des Handelsvertreters zum Anlass, um den beim Boykott säumigen Dorfbewohner zu drohen, „daß wir sie bei nochmaligem Betreten des Judenladens öffentlich als Hundsfotte bezeichnen!“
Die Pogromnacht hinterließ in den Gerichtsakten des nahegelegenen Zweibrücken ihre Spuren. Die Gendarmerie des Ortes war doch noch tätig geworden und erstattete beim Oberstaatsanwalt Anzeige wegen Sachbeschädigung. Der Oberstaatsanwalt teilte ein Jahr später dem Generalstaatsanwalt mit, er habe das Verfahren eingestellt, die Ermittlungen seien ergebnislos verlaufen. Der Vorgesetzte wies ihn an, „die Einstellungsverfügung wie folgt zu fassen: „Eingestellt, da die Täter nicht ermittelt werden konnten. Aber selbst wenn sie hätten ermittelt werden können, wäre das Verfahren einzustellen, da sie nach Lage der Umstände der Überzeugung sein konnten, es handle sich um eine legale Aktion und da ihnen unter diesen Umständen das Bewusstsein der Rechtswidrigkeit ihrer Handlungsweise nicht nachgewiesen werden kann. In Vertretung, gez. Dr. Müller.“
Die Eheleute Baer-Metzger mussten ihr Haus mit dem Laden an eine Saarpfälzische Vermögensverwertungsgesellschaft m. b. H. verkaufen. Die SA und die SS wollten nicht als Räuberbande erscheinen, sondern als ehrbare Kaufleute. Das zweistöckige Haus mit den Geschäftsräumen, der Mansardenwohnung, Scheuer und Stallungen verscherbelten die geschäftstüchtigen Arier für den Spottpreis von 24.000 Reichsmark an einen Parteigenossen, einen Gastwirt. Dessen Wirtschaft lag, wenn sich der all diese Dokumente lesende Mann recht erinnert, neben dem von Tante Antoinette in den 50er Jahren gekauften Haus, eine schäbige, sich vor dem stattlichen Anwesen förmlich wegduckende Kaschemme.
Die sogenannte Auffanggesellschaft fing Eigentum auf, das niemand freiwillig weggeworfen hatte. Selbst den bescheidenen Kaufpreis blieben die ehrbaren Kaufleute schuldig. Die ins Schwäbische, zu Verwandten, geflüchteten Juden bekamen die als monatliche Abschlagszahlung zugesagten Gelder nie. Auch ihr Warenlager rissen sich die Parteigenossen unter den Nagel. Der Mann konnte die vielen Briefe lesen, die Herr Metzger, Frau Baers Ehemann, an die Amts-Nazis geschrieben hatte. Auf einem Schreiben am Rande notiert: „Welcher Jude?“
Die Familie, erst ihres Eigentums beraubt, verlor danach noch jedes Aufenthaltsrecht. Die aus dem pfälzischen Dorf nach Süßen Geflüchteten wollte der dortige Bürgermeister wieder loswerden. Mit seinem pfälzischen NSDAP-Amtsbruder geriet er in Streit; der Briefwechsel der beiden ist ebenfalls dokumentiert:
„Jedenfalls verträgt es sich mit Anstand und Recht nicht, wenn Sie, was ich aus Ihrem Schreiben schliesse, etwa glauben, Sie könnten gerade unter den derzeitigen Verhältnissen Ihren jüdisch durchsetzten Ort auf Kosten anderer Gemeinden säubern.“ Der gemaßregelte Willenbacher antwortete: „Für die beiden jüdischen Familien besteht hier keine Unterbringungsmöglichkeit. Eine Rückkehr ist völlig ausgeschlossen. Sämtliche Wohnungen und Räume sind vom Militär in Anspruch genommen. Ihren Hinweis, daß sich meine Handlungsweise nicht mit Anstand und Recht verträgt, können Sie sich sparen. Auf jeden Fall weiß ich, nach welchen Grundsätzen ich zu verfahren habe.“ Ja, was sich so alles mit Recht und Anstand und Grundsätzen verträgt, dachte der Mann, als er diese zwischen Biedermännern gewechselten Zeilen las.
Die Familie Baer-Metzger deportierten die Nazis nach Riga und ermordeten sie auf dem dortigen Jungfernhof. Ihre Tochter Henriette überlebte; ihre letzte Adresse: Haifa. Stolpersteine, die an das Schicksal der Bäre Eicheene und ihrer Familie erinnern, gibt es in dem Heimatdorf des Mannes nicht.
Auszug aus Manuskript sucht Verlag. Der Text basiert auf den Archivunterlagen des Herrn Peter Conrad
Siehe auch:
Ein Leid, ein Glück
Letzte Änderung: 12.06.2022 | Erstellt am: 12.06.2022
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