Saalschlacht von Gotha und Berliner Renaissance
Vor über 100 Jahren wurde der Club der Poeten, Essayisten und Novellisten (PEN) gegründet, 1948 gab er sich eine Charta, die alle nationalen PEN-Clubs zur Freiheit der Literatur und der Kunst, zum Frieden und zur Gleichheit der Völker, zur freien Meinungsäußerung und Presse verpflichten. Im deutschen PEN in Darmstadt gab es dazu wohl unterschiedliche Interpretationen. Deshalb wurde nach dem Eklat der PEN Berlin gegründet. Harry Oberländer äußert sich zu dem Vorgang.
Ich habe selten mehr Freude an Zukunft und Veränderung erlebt
„Wie konnte mein PEN seinem Präsidenten Deniz Yücel so übel mitspielen? Mit sofortiger Wirkung verlasse ich die Autorenvereinigung.“ Das ist die Überschrift eines Gastbeitrags von Christian Friedrich Delius, den er noch in der FAZ veröffentlichte, bevor er am 30. Mai im Alter von 79 Jahren verstarb.
FC gehörte zu den Autoren, dem ich in meiner Jugend viel zu verdanken hatte. Er hat meine Gedichte gelesen und kommentiert, und ich habe seine Kritik damals gerne angenommen. Auch seine klare Position zum PEN nach dem Kongress in Gotha war für mich hilfreich. Es lohnt sich, ihn zu ehren und im Gedächtnis zu behalten, indem man seine Bücher liest. Mein Favorit ist die Erzählung Der Spaziergang nach Syrakus, der von der DDR im Endstadium, von Seume und vom Glück einer Rigoletto-Ouvertüre handelt, die der Protagonist und Republikflüchtling (mit dem Boot über die Ostsee) Paul Gompitz im Morgengrauen auf der Piazza delle Erbe in Mantua erlebt. Nach diesem erfüllten Italien-Augenblick kehrt er freiwillig in die DDR zurück.
Als Deniz Yücel im Oktober 2021 in der Paulskirche in Frankfurt am Main zum neuen Präsidenten gewählt wurde, geschah das mit einer großen Mehrheit der anwesenden Mitglieder. Das hatte die Regisseure dieser Veranstaltung kalt erwischt, die offenbar seitdem daran arbeiteten, ihn wieder loszuwerden. In seiner Bewerbungsrede hatte er gesagt: „Wir erleben Dinge, die dazu geführt haben, dass Deutschland in den letzten Jahren im Ranking von Reporter ohne Grenzen nach unten gerutscht ist. Gefahr geht nicht nur von den Feinden der offenen Gesellschaft wie Rechtsextremisten oder Islamisten aus, sondern zuweilen auch von Leuten, die im Namen hehrer Ziele agieren“. Der PEN Deutschland mochte den Journalisten Yücel, der für die Meinungs- und Pressefreiheit im Knast des türkischen Präsidenten Erdogan saß, er mochte ihn als Betreuungsobjekt von „Writers in Prison“, aber nicht als agierenden PEN Präsidenten mit eigener Meinung. Schon bei seiner Wahl in der Paulskirche fielen giftige Äußerungen wie „Schön, dass die Gastarbeiter jetzt auch bei uns sind.“ Die Truppen der Yücel-Gegner sammelten sich um den in Frankfurt wiedergewählten Generalsekretär Peuckmann und machten mit mehreren Abwahlanträgen den PEN-Kongress in Gotha am 12. Mai 2022 zum Schlachtfeld. Anstelle von poets, essayists, novelists marschierten Advokaten in schräger Schlachtordnung an und versuchten, die Szene zum Tribunal zu machen. Ihr Erfolg war es am Ende des Tages, dass Yücel mit einer dünnen Mehrheit wiedergewählt, andere Mitglieder seines Vorstands aber abgewählt wurden. Die johlende Mehrheit von Gotha glich in ihrem offen zur Schau getragenen Hass dem frustrierten Kern einer Fußballanhängerschaft, etwa der von Dynamo Dresden oder Rotweiß Essen nach einer null zu sieben Niederlage. Die bei ihr so beliebte Sonntagsehrfurcht beim Aussprechen des Worts Kultur war ihr samt jeder contenance restlos abhanden gekommen. Deniz Yücel lehnte seine Wahl mit seinem geflügelten Wort über die Bratwurstbude ab und zog samt Vorstand und vielen PEN Mitgliedern aus dem Versammlungsort aus. Das war der Beginn vom Ende des alten PEN und seiner blinden und tauben Altpräsidenten. Diese hatten eine Äußerung Yücels zum Ukrainekrieg zum Anlass ihrer Rücktrittsforderungen genommen und damit auch eine grandiose Selbstüberschätzung ihres Vereinsintellektualismus zum Ausdruck gebracht.
Im Berliner Literaturhaus wurde am 10. Juni als Konsequenz aus dem Desaster von Gotha der PEN Berlin gegründet. Ein deutlich verjüngter PEN, für den das Wort divers kein wuterregendes Fremdwort ist und der sich als Non Government Organisation für Rede- und Publikationsfreiheit und die Unterstützung verfolgter Autoren sieht. Ein Verband, der verfolgte Autoren nicht nur „betreut“ , sondern sie einlädt, gleichberechtigte Mitglieder der Organisation zu werden.
In kürzester Zeit haben sich 367 GründungsmitgliederInnen in bester Aufbruchsstimmung zusammengefunden und sogar die notwendige Entscheidung über ihre Satzung unter Anleitung einer kompetenten Juristin schmerzfrei hinter sich gebracht. Am Ende blickte die beinahe euphorische Gründungsversammlung nach vorn.
„Ich habe selten mehr Freude an Zukunft und Veränderung erlebt als in dieser von Minute zu Minute größer und gewichtiger werdenden Schar derer, die eine Neugründung den Reha-Bemühungen des in die Jahre gekommenen PEN Darmstadt vorziehen. Ich sage hier einmal „ich“, denn ich bekenne gerne, zu den Gründern von PEN Berlin zu gehören: Wir stehen im Wort – in rechtlicher und in literarischer Bedeutung. (…) Der Name Berlins ist Programm. Von hier wurden Kolonien ausgebeutet, zwei Weltkriege und die Shoah geplant, heute steht diese Stadt für Weltoffenheit und Diversität, und nirgendwo leben so viele in ihren Sprachen schreibende Dichterinnen, Schriftsteller verschiedenster Medien, Publizierende und jene, die Texte ins Deutsche oder in andere Sprachen übersetzen. Nirgends gibt es so viele Veranstaltungen, in denen Literatur auch in ihrer Originalsprache vorgestellt wird. Dieses große Neben- und Miteinander von sich weitender „Weltliteratur“, diese „Poesie der Weite“, diese „Versuchung der Diversität“, die der große, frankophone Autor Édouard Glissant beschworen hat, ist der geistige Ort unseres neuen PEN.”
Das hat Herbert Wiesner geschrieben, lange Jahre Leiter des Literaturhauses in Berlin. Mir ist dem zuzustimmen nicht nur eine Sache des Herzens, sondern auch des klaren Verstandes.
Letzte Änderung: 11.07.2022 | Erstellt am: 15.06.2022