Georg Stefan Troller, der nun 100 Jahre alt geworden ist, hat uns Deutschen seit 1962 mit seinem „Pariser Journal" Leben, Selbstverständnis und Kultur der Hauptstadt-Franzosen auf den Bildschirm gebracht, von 1971 an mit seiner sonoren Stimme 70 ungewöhnliche Interviews unter dem Serientitel Personenbeschreibung geführt. Der Regisseur, Dokumentarfilmer, Drehbuchautor und Schriftsteller hat am 1. Juni 2015 im Hessischen Literaturforum aus seinem Buch „Meine Blamagen" gelesen. Am Morgen danach gab er im Gespräch mit Harry Oberländer Auskunft.
Oberländer: Wir sitzen hier im Billardsaal des Hotel Nizza mit einem Herrn auf der Durchreise. Er ist von Berlin gestern Abend angekommen, hat im Literaturforum eine wunderbare Lesung gehalten, die das Publikum in Begeisterung versetzt hat, und ist jetzt auf dem Weg nach Paris, wo er nachher mit dem TGV hinfahren wird. Das ist Georg Stefan Troller. Herr Troller, wir sind sehr froh, dass wir Sie hier haben und dass wir nach der schönen Lesung gestern Abend noch ein Gespräch miteinander führen, das die Wirkung dieser Lesung vielleicht ein bisschen verlängern wird.
Sie haben unter anderem gestern auch über Paris gesprochen. Sie haben ja ein Buch veröffentlicht „Paris geheim“. Aus diesem Buch haben Sie etwas vorgetragen, das zeigt, wie genau Sie auch die verschiedenen sozialen Gruppen kennen. Wenn Sie zurück nach Paris fahren, wie würden Sie das soziale Umfeld beschreiben, in das Sie jetzt zurückkehren?
Troller: Ich bin seit sechzig Jahren in Paris. Das soziale Umfeld hat sich ja sehr stark verschärft in dieser Zeit. Die ehemaligen Führungsschichten, die christlich-nationalistische Bourgeoisie gibt es nach wie vor im Hintergrund, hat aber sehr an Einfluss verloren, teils gegenüber den Sozialisten, teil gegen andere Gruppen, vor allem die extreme Rechte. Die Stimmung in Frankreich ist, wie schon häufig in der Vergangenheit, pessimistisch. Niemand glaubt wirklich daran, dass eine Regierung – ob links, ob rechts, ob in der Mitte – eine Lösung für Frankreichs Probleme finden wird. In dieser verzweifelten Situation kommt als Verschärfung dazu die starke Einwanderung aus Nordafrika, aus Schwarzafrika, den ehemaligen französischen Kolonien, die die Franzosen weiter verunsichert. Das waren ja einmal sozusagen ihre Untertanen und beginnen jetzt, gefährlich zu werden, was sie vorher nicht waren.
Das ist jetzt eine allgemeine Beschreibung der Situation. Wenn Sie an ihr engeres Umfeld denken, an den Stadtteil, in dem Sie leben, und an das denken, was Sie persönlich erleben, spüren Sie die Auswirkungen dieser Entwicklung?
Ja. Das persönliche Erleben geht mit dem sozialen Leben Hand in Hand. Und man spürt – nicht so sehr die Gefährdung der Leute – mehr die Vorstellung der Leute, dass sie gefährdet sind. Das Misstrauen der Menschen, – z.B. dass niemand mehr gefilmt werden oder fotografiert will auf der Straße, dass, wenn man den Leuten eine x-beliebige Frage stellt, wo eine Straße sich befindet oder ein Haus, – das ist mir kürzlich passiert: Ich war in ein Nachtlokal eingeladen, was ich nicht kannte – die Leute sind sofort misstrauisch: Was will der da?, was ja früher nicht der Fall war.
Paris hat sich, wie alle Weltstädte, sehr gewandelt. Es ist nach wie vor ein Stadtkern von zwei Millionen, wie es immer war. Aber rundherum eine Couronne, wie man in Frankreich sagt, ein Reif von zehn bis fünfzehn Millionen, zum Teil Arme. Das, was einmal Arbeiter war und ein verlässliches Element, sind jetzt herumstreifende Jugendliche, die keine Jobs haben und nicht wissen, was sie mit ihrem Leben anfangen sollen und eine sehr leichte Beute von irgendwelchen – im Falle, wenn sie Mohammedaner sind – Imams. Man versucht jetzt, diese Pariser Umgebung wieder ins Paris einzubeziehen, aber das ist eine Angelegenheit von Jahrzehnten. Also, es ist ein unsicheres Klima, wobei da, wo wir leben, in der Gegend vom Eiffelturm und Marsfeld, dies eine Gegend von Rentnern geworden ist. Das, was einmal das Viertel ehemaliger Militärs oder Politiker war, Mitterand wohnte da, de Gaulle wohnte da, aber vor allem abgedankte Militärs im Ruhestand, ist jetzt ein reines Altenviertel geworden. Und andere Viertel sind dafür erwacht zu neuer Blüte. Und das ist dann wieder interessant. Mein Viertel war ja immer das Aristokratenviertel von Paris, Saint Germain. Das ist ein Viertel von Ministerien geworden und von Geschäftsleuten. Aber das Zentrum, Marais oder der Osten von Paris, der bisher immer etwas verdächtig war, oder auch der Norden, der ganz verdächtig war als Proletarierviertel und so weiter, haben sich verbürgerlicht und sind jetzt Wohnviertel geworden, wo ‚man’, wo die Bourgeoisie wohnen kann. Es verschieben sich die Pariser Gegebenheiten.
„[…] das vorausblickende Paris, das nicht nur aufregende, sondern auch verdächtige Ereignisse abspielen kann, ist geblieben. Das macht die Stadt interessant."
Sie haben das ja über die Jahre gut beobachten können. Wenn Sie das vergleichen mit dem Paris, für das Sie sich damals entschieden haben, um dort zu leben, – welches Paris war das, in dem Sie leben wollten?
Insofern, als die Pariser unwandelbar phantasievoll künstlerisch und experimentierfreudig geblieben sind, ist es nach wie vor lebenswert. Man kann sich darauf verlassen, dass immer etwas Neues, Interessantes passiert. Und man kann auch daran teilnehmen, wenn man dafür aufgelegt ist. Also das vorausblickende Paris, das nicht nur aufregende, sondern auch verdächtige Ereignisse abspielen kann, ist geblieben. Das macht die Stadt interessant.
Ich möchte diese Frage noch einmal von einer anderen Seite her stellen. Wie viele andere habe ich auch das „Pariser Journal“ verfolgt. Es hat mich immer interessiert. Und die vielen Details, die Sie zusammengetragen haben, haben mit jeder Folge eine Stimmung hinterlassen. Und das ist die Stimmung, für die man auch nach Paris fährt. Gestern haben sie von der Eigenschaft der Pariser gesprochen, zu planen und zu sagen, aber nicht zu viel zu tun. Es hat sich aber doch etwas getan. Meine Frage ist, hat die Veränderung die Französisierung eingedämmt? Sind die Franzosen weniger französisch geworden?
Das hängt davon ab, was man als französisch bezeichnet. Die Franzosen haben ihre eigene Vorstellung von sich selber, die nicht unbedingt der Realität entspricht. Diese Vorstellung von sich selber hat sich bislang zum großen Teil erhalten. Sie sehen sich immer noch als das klassische Volk der Ratio, des Descartes, des freien Denkens, der Unabhängigkeit, der Vorurteilslosigkeit und so weiter. Das wird auch den Jugendlichen beigebracht. Dahinter steht ein zunehmend skeptisches Volk, das seine eigene Bestimmung nicht eigentlich mehr erkennen kann. Der Vergleich mit Deutschland findet jetzt unaufhörlich statt. Warum gelingt denen, was uns auf wirtschaftlichem und anderem Gebiet nicht gelingt? Frankreich hat viel von seiner Eigenliebe oder seiner Sicherheit, in sich selber zu ruhen als ein ausgereiftes Kulturvolk, verloren. Es weiß in diesem Moment nicht genau, wo es steht. Ich fand diesen Aufmarsch der Millionen „Ich bin Charlie“, an dem ich auch halbwegs teilgenommen habe, so gut meine Beine mich trugen, großartig. Typisch pariserisch wird das alles jetzt in den Zeitungen und Zeitschriften in Teile, in politische Richtungen zerfetzt. Viele Leute treten jetzt auf, auch Mitglieder der Zeitschrift „Charlie Hebdo“, und sagen: Ich bin nicht Charlie! Das ist schade.
Das heißt, es hat eine große Demonstration der Einigkeit und der Einheit gegeben, aber jetzt zerfällt sie wieder in die einzelnen, partikularen Interessen.
Genau. Das ist schade. Denn das hat mich wirklich ergriffen. Ich spürte auf einmal wieder etwas von dem alten Frankreich, als diese ganzen Leute da zusammenkamen mit Tafeln und Sprechchören „Wir sind Charlie!“ Das hieß ja, wir sind für Gedankenfreiheit, wir sind für Geistesfreiheit. Und das ist ja eine der Voraussetzungen der Französischen Revolution gewesen, auf die sich Frankreich ja immer noch bezieht! Nun wird leider auch das wieder in Frage gestellt. Die Franzosen wissen in diesem Moment nicht, wozu sie da sind. Das Neueste ist, dass jetzt der klassische Unterricht, Griechisch und Lateinisch, abgeschafft werden soll. Damit wird ein Teil der eigenen Kulturhoheit hinweggefegt. Ich bin ja selber Gymnasiast gewesen! Das bedeutete ja, dass man sich auf klassische Normen beziehen konnte: die alten Griechen, die alten Römer. Man spürte einen Zusammenhang dieser klassischen Kultur mit der klassischen französischen Kultur.
„[…] das vorausblickende Paris, das nicht nur aufregende, sondern auch verdächtige Ereignisse abspielen kann, ist geblieben. Das macht die Stadt interessant."
Noch dazu die französische Sprache, die natürlich auch auf der Basis des Lateinischen …
Auf dem Lateinischen beruht. Und das soll jetzt aus praktischen Gründen abgeschafft werden. Die Linke ist für die Abschaffung, die Rechte ist gegen die Abschaffung. Da stimmt doch was nicht! Und nun kommen Wahlen auf uns zu, und man weiß nicht, was da passiert. Aber die extreme Rechte, die sich jetzt mehr antiarabisch als antisemitisch gibt – aber was lauert da alles dahinter! – hat ja 25 bis 30 Prozent im Lande. Das ist ja ungeheuer. Also, jeder dritte, jeder vierte Franzose hasst mich!
Man könnte ja den Sprung nach Wien machen, eine Stadt, die auch einen massiven Antisemitismus produziert hat. Diesen Antisemitismus haben Sie persönlich erfahren als Teil Ihrer Lebensgeschichte. Sie mussten aus Wien emigrieren – das war 1938 – und sind dann zunächst nach Prag gegangen und dann – was waren die nächsten Stationen? Helfen Sie mir!
Na ja, es war noch einige Zwischenstationen. Das war ja wahnsinnig kompliziert zu der Zeit. Aber, man musste, um aus der Tschechoslowakei nach Frankreich zu gelangen, über Nazi-Deutschland reisen. Und ich besitze nach wie vor einen Gestapo-Durchlassschein: Der Troller, Georg, ist hiermit autorisiert … – praktisch ein versiegelter Zug, so wie Lenin 1917 durch Deutschland gereist ist – unterzeichnet von Herrn (unleserlich) Muh. Herr Muh, wie die Kuh. Und ich fragte mich immer, was ist aus Herrn Muh geworden? Sitzt er in Mallorca mit dem Ruhegehalt eines höheren Beamten der Bundesrepublik?
Wir wissen es nicht. Aber Sie haben auch zu Wien immer Kontakt gehalten, obwohl Sie sich entschlossen haben, nicht nach Wien zurückzukehren nach dem Krieg. Doch Sie haben die Entwicklung in Wien auch verfolgt. Da kommen wir vielleicht gleich drauf zu sprechen. Dieses Spezifische am Antisemitismus haben Sie mal am Beispiel eines Schulkameraden beschrieben, der Ihnen gesagt hat, Du, eigentlich habe ich nichts gegen Dich als Juden, aber ich kann mich selbst nicht leiden. Das scheint mir analytisch ein sehr wichtiger Punkt zu sein in diesem Zusammenhang.
Ach Gott, das ist ja hundertmal analysiert worden. Aber in vielem beruht der Nazismus auf Selbsthass und auch auf der Selbstverachtung der Deutschen, die jemanden brauchen, der ihnen versichert, dass sie das Meistervolk der Welt sind. Und das kann ja nur auf einem Minderwertigkeitskomplex beruhen, sowohl in Hitler, wie in seinem Volk. Insofern haben die beiden sich verstanden. Das Volk spürte heraus, was in einem Hitler vorging, dass er die Welt beherrschen musste, weil er sich selber misstraute. Und so war das auch bei den Deutschen, die – das führt ja alles wahnsinnig weit – aber die Unfähigkeit der Deutschen, die auf ihrer Geschichte beruht, der historischen Zerrissenheit, zu ihrem eigenen Staat ein normales, vernünftiges Verhältnis zu haben, das war der Grund allen Übels in zwei Weltkriegen. Jetzt ist es hoffentlich anders. Doch man spürte das schon heraus. Die Angeberei der Leute mit ihren Stiefeln und Sporen und Orden und Uniformen, Fahnen und Bluteiden und was weiß ich, – was stand denn da dahinter als eine fundamentale Unsicherheit, nicht zu wissen, wer sie waren, und daher dick aufgetragen verkünden mussten: Deutschland erwache! oder: die Herrenrasse? Und wir haben das herausgespürt. Wir Juden haben das herausgespürt. Und dass wir das spürten, haben die Deutschen damals gewusst, gespürt. Und insofern waren wir verhasst, weil wir ihre Wahrheit kannten, die sie nicht wahrhaben wollten. Und das hat man als dekadent und ich weiß nicht was – wir waren ja die Maden im Volkskörper und die Filzläuse, weil wir die fundamentale Schwäche der damaligen Deutschen verstanden haben.
„[…] jeder dritte, jeder vierte Franzose hasst mich!"
Das waren Erlebnisse für Sie als sehr junger Mann, die ja auch durchaus traumatisierend waren. Sie haben geschrieben, dass Sie bestimmte Angsterlebnisse noch Ihr ganzes Leben lang gehabt haben, die darauf zurückzuführen sind. Hat das auch eine Rolle für Ihren Entschluss gespielt, nicht nach Österreich zurückzukehren, in Wien zu leben oder in Deutschland zu leben?
Also ich muss zugeben, dass meine Sehnsucht, in die Heimat zurückzukehren, lange Zeit überwältigend war in meiner Hoffnung, dass nicht nur ich Sehnsucht nach meiner Heimat habe, sondern auch die Heimat nach mir. Aber das hatte sie ja nicht. Ich war ihr vollkommen gleichgültig. Und das war das schwer zu Überwindende, die einseitige Liebe. Und dann fragte man sich: Habe ich das nötig? Aber ich weiß – ich bekam ja schon damals, wann war das? 1949? Ein Fulbright-Stipendium, wo ich wirklich zwei Jahre gratis in Paris an der Sorbonne studieren konnte. Und ich weiß, dass ich denen ein Telegramm und ein Brief geschickt habe: Könnte ich nicht bitte in Wien studieren? – aus lauter Sehnsucht, ja was ist es denn als die Sehnsucht nach der eigenen Kindheit, also des wieder zum eigenen Selbstverständnis Zurückfindens, das man mit der Emigration verloren hat? Aber natürlich haben die abgewinkt und gesagt, nee, entweder Paris oder gar nicht. Also kam ich nach Paris, und deswegen bin ich da.
Nichtsdestotrotz haben Sie dann im Laufe der Zeit auch viele Kontakte nach Wien aufrecht erhalten können. Und es gibt etliche Menschen, mit denen Sie zusammengearbeitet haben. Ich denke da zum Beispiel an Axel Corti, mit dem Sie ein Drehbuch geschrieben haben. Vielleicht reden wir über diesen Film noch ein paar Worte. Der hat ja auch mit Ihrer Lebensgeschichte zu tun.
Das war die vom ORF vorgeschlagene – ursprünglich ein Einteiler, nachher – Sendetrilogie über die österreichischen Emigranten, wie sie die Kriegszeiten überlebt haben. Und Axel Corti, den ich schon vorher kannte von einem anderen Film, den wir machen wollten, trug an mich heran, diesen Film über die österreiche Emigration zu machen. Und daraus entwickelte sich dann ein weiterer Teil, „Die Rückkehr der Emigranten“, soweit sie stattfand. Und dann habe ich gesagt, dann könnten wir auch einen Mittelteil machen: Wie war die Emigration tatsächlich im Ausland? Daraus wurde also eine Trilogie. Ich schrieb die drei Drehbücher. Wie alle Drehbücher wurden sie x-mal umgeschrieben, Axel Corti hatte diese und jene Idee, alles musste unauffällig verändert werden – bis zum letzten Moment. Einmal rief er mich vom Drehort telefonisch an, ich musste einen Dialog im Telefon, an Ort und Stelle, erfinden, der hineinpasste. Warum? Weil der Platz, wo er drehen wollte, ein Parkplatz war. Und die hatten vergessen, die Autos abzuräumen. Es musste also ganz schnell ein anderer Drehort gefunden werden – alles am gleichen Vormittag! Und Troller musste ganz schnell Dialoge erfinden, die zu dem neuen Drehort passen. Das haben wir auch gemacht. Das war natürlich toll. Oder aber, es gingen immer wieder neue Fassungen dieser drei Drehbücher mit dem Orientexpress nach Wien von Paris über Nacht. Man hat dem Schaffner ein Trinkgeld gegeben. Und er brachte. Und Frau Corti hat’s am anderen Ende abgeholt, am Westbahnhof, und ging sofort in den Dreh. Es war schön. Ich habe mehr oder weniger exakt – natürlich: Film ist Film – mein Leben in drei Teilen geschrieben. Und Axel hat es mit großem Einfühlungsvermögen gedreht mit sehr guten Schauspielern.
»Die Juden sind ohnehin das Volk des Buches.«
Außer Drehbüchern haben Sie mittlerweile auch eine lange Liste von Buchpublikationen – Selbstbeschreibung ist der Titel der Lebensgeschichte in Buchform. Gestern haben Sie aus Ihrem letzten, soeben erschienenen Buch „Mit meiner Schreibmaschine“ gelesen. Es gibt da ein Kapitel, aus dem ich etwas erfahren habe, was mir ganz neu war, nämlich, dass Sie auch ein sehr intensives Verhältnis nicht nur zum Inhalt der Bücher, sondern auch zum Buch als Objekt haben. Sie haben eine Buchbinderlehre gemacht.
Ja, ich habe eine Buchbinderlehre gemacht, wie man nach dem „Anschluss“ in Österreich ganz allgemein Umschulungen machte, damit man im Ausland von was leben kann. Mein Bruder hat Elektrotechnik oder so etwas, wozu er absolut unbegabt war, gelernt und ich eben Buchbinderei, was mir viel näher lag und was sofort eine Passion wurde. Ich habe das – ich weiß nicht, wie viele Monate – in Wien gemacht, emigrierte dann und habe weitergemacht, sowohl in der Tschechoslowakei, wie in Frankreich, wie in Amerika, und lebte dann von meinen Buchbinderkenntnissen. Allerdings war das in Amerika zunehmend maschinell und nicht mehr Handbuchbinderei.
Sie haben da Ihre Illusionen verloren. Aber die Illusion des handwerklichen Herstellens einzelner Exemplare von Büchern, das ist sehr schön dort beschrieben, etwa mit der Art und Weise, wie das Leder aufgezogen wird, manchmal Leinen. Dass Sie später in Amerika nur noch überwachen mussten, wie Maschinen diese große Zahl von Büchern drucken, war ernüchternd. Gleichwohl ist es deshalb ein schönes Kapitel, weil eben dieses Handwerk so sinnlich und liebevoll beschrieben ist.
Die Juden sind ohnehin das Volk des Buches. Bücher liebt man automatisch als junger Jude. Aber ich sprach besonders an auf Bücher, mehr als unsere Familie, und vor allem auf das Äußere der Bücher, wie sie aussehen, wie sie gemacht werden. Das ist für mich ein Kunstwerk. Und wenn man dieses Kunstwerk lernt, selber herzustellen, dann ist das, wie wenn ein Maler oder ein Musiker seine Werke schafft. Nicht viel anders. Und da ist also eine Kunstbefriedigung, die sehr weit gehen kann. Ich habe dann aufgehört, als Buchbinder zu arbeiten, und hatte immer die Vorstellung, nach Beendigung meiner Film- und Fernsehkarriere werde ich wieder bei einem französischen Buchbinder eintreten und ganz wie einst … – aber das gibt es kaum mehr. Das, was ich gehofft hatte, bei einem Kunstbuchbinder mit Leder und Goldschnitt und so weiter arbeiten zu können, ist praktisch nicht mehr vorhanden. Und wenn, dann ist das Letzte, was sie noch brauchen, jemanden, der da im Weg steht oder gar noch bezahlt werden will. Das ist schon nicht mehr drin. Das ist eine Enttäuschung. Und die andere Enttäuschung ist, dass ich meine Kunstbuch-, Buchkunstschätze nun in Gottes Namen vor ein-, zwei Jahren versteigert habe, nicht mehr besitze zum Großteil, – was auch richtig ist. Denn was sollte meine Familie damit anfangen? Das war meine persönliche Passion. Und ich habe dieses Geld meinen einen Tochter vermacht, damit sie sich eine Wohnung kaufen kann. Und so geht es von Generation zu Generation. Das muss so sein.
„Ende der 40er Jahre, eine sehr schöne, aufregende Zeit, weil das das erste Mal war nach Emigration und Krieg, dass ich irgendetwas aus freier Entscheidung machen konnte."
Ich habe noch eine letzte Frage. Ich wollte noch darauf hinweisen, dass diese verschiedenen Geschichten, Essays – das ist ja auch eine sehr interessante Mischung in diesem Buch – zum großen Teil in der Zeitschrift „Lettre International“ erschienen sind. Und es ist ja anzunehmen – Sie haben da einen guten Kontakt zu dieser Zeitschrift und zu ihrem Herausgeber Frank Berberich – dass wir da auch in Zukunft noch einiges erwarten und erhoffen dürfen.
Ja, im Moment sitze ich gerade über einer weiteren Story aus meiner Vagabundenzeit. Ich war ja mal so ein Tramper. Und darüber habe ich jetzt auch zum ersten Mal wieder etwas geschrieben.
Zu welcher Zeit war das?
Ende der 40er Jahre, eine sehr schöne, aufregende Zeit, weil das das erste Mal war nach Emigration und Krieg, dass ich irgendetwas aus freier Entscheidung machen konnte. Ich konnte nordwärts, ich konnte aber auch südwärts, während ich zehn Jahre lang nur das konnte, wozu die Umstände mich gezwungen haben. Und dieser Moment der Freiheit, der völligen Freizügigkeit – ich stell’ mich jetzt da hin und fahr, wohin ich will, oder bleibe da – ich habe das dann wiedergefunden in dem Buch „Unterwegs“ von Kerouac, „On the Road“, der genau zur gleichen Zeit unterwegs war, und ich glaube auch, dass ich ihn und seine Bande einmal getroffen habe.
Sehr schön. Wir sind sehr gespannt darauf und warten und werden es lesen. Sie sind ja in gewisser Weise immer noch on the road. Es ist beruhigend, dass Sie in diesem Falle heute den TGV nehmen werden.
Man ist auf Lebenszeit Emigrant, und auch, so ansässig man ist, Wanderer, ohne dass man je dieses Gefühl der totalen Zugehörigkeit wiederfinden kann, auf dem die Kindheit beruhte. Aber das ist auch sehr kreativ. Damit kann man was anfangen, und das hat mir auch mein Leben bereichert.
Vielen Dank, Herr Troller. Es ist so, wie Fernando Pessoa geschrieben hat: Gute Fahrt, gute Reise. So ist das Leben.
Letzte Änderung: 15.12.2021 | Erstellt am: 15.12.2021