Die Zukunft der Autor:innenschaft

Die Zukunft der Autor:innenschaft

50. Comicfestival in Angoulême
50. Comicfestival in Angoulême

Das kleine französische Städtchen Angoulême hat sich mit Leib und Seele dem Comic verschrieben. Seit 1973 richtet es ein internationales Comicfestival aus, das sich für Leser:innen, Texter:innen, Zeichner:innen und Verleger:innen zum wichtigsten Event des Jahres entwickelt hat. Beim 50. Jubiläum hatte Michele Sciurba dort die Gelegenheit, zwei Größen des Genres zu treffen. Im Gespräch mit dem Comiczeichner Andrea Grosso Ciponte und der Texterin Dacia Palmerino ging es um die Schwelle zwischen Gegenwart und Zukunft des Comics.

Beim diesjährigen Jubiläumsfestival erstreckte sich die Welt des Comics über ganz Angoulême, war die Stimmung von der allseitigen Neugier auf die jüngsten Werke der Künstler:innen geprägt. Namhafte Comiczeichner:innen beschränkten sich nicht aufs bloße Signieren. Als persönliche Widmungen für ihre Leserschaft haben sie passend zur Veranstaltung im großen Stil eigene Ad-Hoc-Zeichnungen kreiert – nicht in Eile, sondern mit Liebe zur Kunst . Ein besonders beeindruckendes Werk war für mich die von H. P. Lovecrafts Horrorliteratur inspirierte Videoinstallation von Philippe Druillet. Er nutzte den Innenraum einer Kirche als Projektionsfläche seiner apokalyptischen Zeichnungen, die mit ihrer Bildgewalt in düsterer Soundlandschaft das Publikum, mich eingeschlossen, sprachlos machten.

Kritische Auseinandersetzung statt voreiliger Zensur

Das erste Festival nach der Coronapause war leider von einem Eklat überschattet: Die geplante Carte-Blanche-Ausstellung mit Arbeiten des Comiczeichners Bastien Vivès wurde abgesagt. Bereits im Vorfeld hatte es vehement Kritik an seinen Zeichnungen gegeben, die pädophil und pornographisch seien und Vergewaltigung verharmlosen würden. Die Festivalleitung gab dem Druck nach, begründete die Absage der Ausstellung allerdings mit Sicherheitsbedenken. Eine offene, kritische Debatte während des Festivals wäre hingegen wünschenswert gewesen. Zumal es sich schwer fassen lässt, wo die Grenzen in der Popkultur liegen und wie weit künstlerische Freiheit gehen kann und darf.

Provokante Bildwelten sind heute in vielen Comics zu finden und Teil einer Kultur, die Betrachter:innen mitunter zurückschrecken lässt. Das betrifft vor allem jene, die zum ersten Mal mit Comics und Popkultur in Berührung kommen. Für sie kann sich eine radikale und subversive Ästhetik wie etwa die der Grand-Prix-Gewinnerin von 2022, Julie Doucet, als brutaler Schock erweisen. Doch auch das macht das Festival in Angoulême zu etwas Besonderem. Es ist ein Ort des Austauschs über die Vielschichtigkeit künstlerischer Ausdrucksweisen und Cancel Culture ein entsprechend heikles Thema. Meiner Meinung nach hätte Bastien Vivès Stellungnahme in der Zeitung Le Monde und auf Instagram berücksichtigt werden sollen. Im Dezember 2022 hielt er den Vorwürfen entgegen, dass man etwas nicht gleich rechtfertigt, weil man es in Zeichnungen darstellt.

Die Zukunft des Autor:innencomics

Insgesamt erstreckte sich die in Angoulême gezeigte Vielfalt von Mangas über Superheldencomics bis hin zu ausgezeichneten feministischen Autor:innencomics wie dem Vulva-Comic der Schwedin Liv Strömquist „Der Ursprung der Welt“. Neben künstlerischer Diversität war der Einsatz von auf Künstlicher Intelligenz (KI) basierender Software ein hochaktuelles Thema. Die Entwicklungen in diesem Gebiet setzten eine rege Debatte über kreative Prozesse und die Zukunft der identifizierbaren Autor:innenschaft zwischen Zeichner:innen, Texter:innen und Verleger:innen in Gang.

Bei der Erörterung dieser Frage standen mir Andrea Grosso Ciponte und Dacia Palmerino im Gespräch beiseite. Der Zeichner und die Texterin wurden unter anderem 2022 gemeinsam mit dem Sonderpreis des Hessischen Verlagspreises für Graphic Novels , 2018 mit der Goldmedaille der Independent Publisher Book Awards und 2017 mit Indies Awards Goldmedaille des Foreword Reviews Magazins ausgezeichnet. Ciponte wurde 2021 zudem für sein Werk „Freiheit! The White Rose Graphic Novel“ als „Outstanding Book“ in der Kategorie „Freedom Fighter“ die Goldmedaille der Independent Publisher Book Awards verliehen.

Gespräch mit dem Graphic-Novel-Duo Andrea Grosso Ciponte und Dacia Palmerin

Michele Sciurba: Andrea, Du bist einer der ersten europäischen Comiczeichner:innen, der eine Graphic Novel mit KI-basierten Zeichenprogrammen gezeichnet hat. So hast Du bei Deiner Arbeit an der Graphic Novel „Der Untergang des Hauses Usher“ nach Edgar Allen Poes „The Fall of the House of Usher” für den Verlag Edition Faust, die gerade erscheinen ist, zum ersten Mal mit KI-gestützter Software auf dem Tablet gezeichnet. Wie stark ist der Einfluss von Künstlicher Intelligenz auf Deinen kreativen Prozess?

Andrea Grosso Ciponte: Ich habe schon immer gerne mit verschiedenen Techniken experimentiert. In früheren Veröffentlichungen für die Edition Faust habe ich sowohl reine Zeichnung als auch 3D wie bei Martin Luther verwendet. Ich finde, dass die Vermischung von Techniken und damit von sehr unterschiedlichen kreativen Prozessen eine ständige Bereicherung ist, die die Kreativität am Leben erhält. Ich verfolge seit Jahren die Entwicklungen im Bereich der Computer Vision und habe kurz vor Beginn meiner Arbeit an der Graphic Novel „Der Untergang des Hauses Usher“ als Forscher für die Akademie der Schönen Künste in Catanzaro am Betatest von „AI Stable Diffusion“ teilgenommen, das von CompVis (Forschungsgruppe für Computer Vision und Lernen an der Ludwig-Maximilians-Universität München) entwickelt wurde. Ich sah das Potenzial, insbesondere in der Unvollkommenheit des Tools, und wollte es einsetzen, um die visuellen Paradoxien zu nutzen, die meiner Meinung nach gut zu Poes visionärem Stil passen.

Wird KI die Fähigkeiten der Künstler:innen in Zukunft obsolet machen oder wird KI neue Perspektiven für weitreichendere Möglichkeiten des kreativen Ausdrucks von Künstler:innen eröffnen?

Andrea Grosso Ciponte: Die Überholung von technischem Wissen ist der digitalen Welt inhärent. Im Laufe meines Lebens habe ich gelernt, mit Software umzugehen, die ein paar Jahre später nicht mehr existierte, aber gleichzeitig eröffnen sich ständig neue Möglichkeiten. Erst seit relativ wenigen Jahren kann eine einzelne Person eine Animation oder ein Videospiel ohne große finanzielle Investitionen produzieren. Aber Kunst ist nicht nur Technik. Das 20. Jahrhundert hat uns gelehrt, dass die Herausforderung der Malerei nach der Entdeckung der Fotografie ein notwendiger Schritt war, sicherlich schmerzhaft in der Übergangszeit, aber einer, für den wir heute nur dankbar sein können.

Welche Rolle spielt KI heute für Dich als Professor an der Universität von Kalabrien bei der Ausbildung junger Künstler:innen?

Andrea Grosso Ciponte: Im Rahmen meiner Lehrtätigkeit in verschiedenen Fächern, die mit der digitalen Welt zusammenhängen, habe ich mein Wissen über künstliche Intelligenz unmittelbar mit meinen Student:innen geteilt. Obwohl es sich um relativ einfach zu bedienende Werkzeuge handelt, müssen wir als Fachleute in der Lage sein, sie besser als andere zu nutzen und die Möglichkeiten der Individualisierung zu verstehen, denn Künstler:innen werden niemals akzeptieren, dass alles von einem Algorithmus ohne eigenes Zutun erledigt wird. Ich persönlich versuche, meine Student:innen zu einer neugierigen und kreativen Haltung gegenüber neuen Technologien zu bewegen. Die aktuelle Kontroverse über KI, insbesondere im Bereich der Illustration, lenkt vom Weg der einzelnen Künstler:innen ab und birgt die Gefahr, den manieristischen Status quo zu verteidigen, in dem wir uns seit Jahren befinden.

Dacia, wenn man sich auf diesem Festival umschaut, scheinen die erfolgreichsten Comics diejenigen zu sein, die in der Popkultur angesiedelt sind, wie die Arbeiten von Julie Doucet. Ist die Ästhetik dieser oft sehr radikalen und subversiven Bildwelten notwendig, um erfolgreich zu sein?

Dacia Palmerino: Lassen wir einmal die Frage des Erfolgs beiseite, die für viele Künstler wahrscheinlich zweitrangig ist, so möchte ich zunächst die Dringlichkeit des Künstlers betonen, sich auszudrücken. Eine Dringlichkeit, die auch zu einer moralischen Pflicht wird. In dem erhellenden Essay „Die Verantwortung des Schriftstellers“ erkennt Jean Paul Sartre die Besonderheit des Künstlers darin, die Dinge bei ihrem Namen zu nennen, und beschreibt das Wesensmerkmal der Literatur als ständige Bejahung der menschlichen Freiheit. Dies erklärt zum einen, warum die Grobheit bestimmter Pop-Sprachen einen stärkeren Einfluss auf das Bewusstsein hat und warum es eine moralische Verpflichtung für Autor:innen ist, im Namen der Meinungsfreiheit wirksame Kanäle zu finden, die dieses Bewusstsein ansprechen. Unter diesem Gesichtspunkt ist es wahrscheinlich angemessener, von einer „Ausdruckskraft“ zu sprechen, die sich gerade aus dieser Dringlichkeit ergibt, die umso stärker ist, je mehr sie die Massen erreicht, und die in der Lage ist, der Geschichte der Künste wichtige Teile hinzuzufügen.

Der sehr erfolgreiche europäische (oder französische, italienische oder belgische) Comic ist das kreative Ergebnis einzelner Autor:innen bzw. Graphic Novelists oder, wie bei euch, das Ergebnis eines Duos aus Zeichner und Texterin. Wie sehr unterscheiden sich diese Comics von den amerikanischen DC-, Marvel- oder Disney-Comics, bei denen die Produktion oft in eine Vielzahl anonymer Schritte zerlegt wird?

Andrea Grosso Ciponte: In Italien fügt sich die Frage nach dem „fumetto d‘autore“ (Autor:innencomic) in eine alte Debatte ein, die auch das Kino und die Musik einschließt, die meiner Meinung nach immer noch Sinn macht. Ein Beweis dafür ist der Erfolg des Begriffs „Graphic Novel“, der sich von den englischsprachigen Ländern ausgehend ausbreitet, um diese Veröffentlichungen von den seriellen Comics zu unterscheiden und die Autor:innen und nicht die Figuren der Geschichten in den Vordergrund zu stellen. Natürlich bedeutet Autor:innenschaft nicht zwangsläufig Qualität, aber sie setzt dennoch eine andere Herangehensweise an das Erzählen voraus. Indem man sich mehr auf das Wie als auf das Was konzentriert, suchen die Leser:innen nach der Stimme und der Vision der Autor:innen und nicht nur nach einer Geschichte, die sie unterhält.

Sind Literaturadaptionen, wie die, die ihr in Form von E.T.A. Hoffmanns „Der Sandmann“ oder dem kommenden Titel „Der Glöckner von Notre-Dame“ von Victor Hugo in der Dust-Novel-Reihe der Edition Faust gemacht habt, Teil der Popkultur oder eine Nische in der Welt der Graphic Novels?

Dacia Palmerino: Ich würde sagen, beides. Wo sich einige Graphic Novels, die wir im Rahmen der Dust-Novel-Reihe verfasst haben, auf oft weniger bekannte Geschichten großer Literaten konzentrierten, so gilt das nicht für den „Sandmann“ oder den „Glöckner von Notre-Dame“, zwei allgemein anerkannte Meisterwerke, die durch die unterschiedlichsten Adaptionen einen festen Platz in der kollektiven Vorstellung gefunden haben. Der „Sandmann“ und der „Glöckner von Notre-Dame“ bevölkern auch die Fantasie der Kinder und sind echte erzählerische Archetypen. Es versteht sich von selbst, dass sie für uns als Autor:innen zwei große Herausforderungen darstellten, da wir mit zwei „heiligen Monstern“ der Massenkultur konfrontiert wurden. Gleichzeitig ist das Zielpublikum der literarisch inspirierten Graphic Novels nach wie vor ein engeres und spezielleres Publikum als das anderer Comics, was nicht unbedingt etwas Schlechtes ist. Wir haben uns zum Beispiel sehr über die Aufmerksamkeit und Aufsätze einiger italienischer Geisteswissenschaftler gefreut, die sich mit unserem Sandmann und auch mit unserem Luther beschäftigt haben.

Wie wichtig sind Diskussion und der künstlerische Austausch zwischen Künstler:innen im Bereich der Graphic Novels? Welche Rolle spielen heute Festivals wie das internationale Comicfestival von Angoulême in der Welt der Graphic-Novel-Künstler:innen?

Andrea Grosso Ciponte: Der Austausch mit anderen Künstler:innen und Leser:innen ist immer eine Erfahrung, an der man wachsen kann. Das Zeichnen von Comics ist von Natur aus eine einsame Tätigkeit, und es ist notwendig, sich von außen anregen zu lassen und sich als Teil von etwas zu fühlen. Wie in allen Bereichen glaube ich, dass virtuelle Plätze, mit all ihren Mängeln, reale Treffpunkte im Comic ersetzt haben, zumindest was die Möglichkeiten der Begegnung und Diskussion angeht, aber der öffentliche Erfolg der verschiedenen Festivals, die nach der Pandemie nun wiedereröffnet wurden, bestätigt, dass wir uns immer noch persönlich treffen müssen.

Szene aus „Der Sandmann

Letzte Änderung: 20.02.2023  |  Erstellt am: 20.02.2023


Andrea Grosso Ciponte und Dacia Palmerino
Der Untergang des Hauses Usher

Andrea Grosso Ciponte Der Untergang des Hauses Usher

Graphic Novel nach Edgar Allan Poe
Gezeichnet von Andrea Grosso Ciponte und adaptiert von Dacia Palmerino
Aus dem Italienischen von Myriam Alfano
Hardcover, Vierfarbig, Format 225 × 315 mm
64 Seiten
ISBN 978-3-949774-13-3

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Kommentare

Ralf Rath schreibt
Rekurrierend auf den französischen Text von Max Horkheimer mit dem deutschen Titel "Vor verschlossener Tür", ersetzte eine der grauen Eminenzen des Soziologischen Forschungsinstituts an der Georg-August-Universität Göttingen (SOFI) im Jahr 1996 den ursprünglich verwendeten Namen "la vértié" und nannte mich fürderhin Obelix. Anstatt fälschlich ehrerbietend an der "Tür" zu klopfen, schlug ich sie damals als Industriesoziologe im Feld, wie von der gleichnamigen Comic-Figur vorexerziert, gleich ein. Fraglich daher, weshalb wissenschaftliche Mitarbeiter des SOFI noch immer dafür plädieren, eine "Bresche" zu schlagen (Wolf, in: Dörre et al. (Hrsg.), 2012: 348), wenn der "Bruch" (D'Alessio et al., 2000) längst vollzogen worden ist und zumindest dem ersten Schritt ins "Offene" (Hölderlin) seitdem nichts mehr im Wege steht.

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