Über die Tücken der Freiheit in Camus’ „Der Fremde“ und Dostojewskis „Die Brüder Karamasow“
In unserer Gegenwart wird zwar viel über Freiheit diskutiert und gesprochen, zumal wir vor unseren eigenen Augen die Rückkehr von autoritärer Politik erleben, aber die grundlegenden Probleme der Freiheit, die einen universellen Charakter in diesem Kontext haben, werden kaum beachtet. Dabei gilt es, so lehrt es uns das kritische Denken, besonders darauf zu achten, von welcher Freiheit die Rede ist und in was für einer geistigen Umgebung über diese oder jene Freiheit gesprochen wird. Es gibt nämlich in unserer Gegenwart viele Scharlatane und Heilsbringer, die nur vortäuschen, für Freiheit einzustehen und sie repräsentativ zu verteidigen. Denn in Wahrheit sind sie bloß Inquisitoren, die darauf erpicht sind, ihre Macht zu festigen und auszubauen: natürlich im Namen der Freiheit für alle. Aber zum Glück gibt es Dichter. Die Romane Der Fremde von Camus und Die Brüder Karamasow von Dostojewski eignen sich nämlich hervorragend für das Studium der Freiheit und ihrer Manipulatoren, was die beiden Werke der Weltliteratur dazu prädisponiert, eine Pflichtlektüre sowohl für Gläubige wie auch für Atheisten zu sein. Aber auch für solche bunten Vögel wie die Agnostiker.
»›Wollen Sie‹, schrie er, ›dass mein Leben keinen Sinn hat?‹«
Der Richter zu dem Angeklagten Meursault,
der seine Frage, ob er religiös sei, verneint hat:
in dem Kurzroman Der Fremde von Albert Camus
»Dem Menschen ist das Dasein nur gegeben, wenn er Ordnungen aus dem Einen findet, aber Wahrheit in der Offenheit des Vielfachen. / Daher ist die Freiheit des geistigen Kampfes das Wesen des Menschseins. Bedingung aber ist die Selbstzügelung der Freiheit (die durch eigentliche Autorität von innen her bindet), die Aufgeschlossenheit ohne Grenze, die Wahrhaftigkeit des Sprechens, die Beschränkung des eigenen Machtwillens durch die Idee, die ihn führt und die Freiheit durch ihre Erfüllung erst berechtigt. Dazu ist notwendig die Selbstkritik des Denkens und die Vernichtung der im Denken drohenden Sophistik. Bleibt dieses Binden von innen her aus, so zwingt die Gewalt nach außen.«
Karl Jaspers in Der philosophische Glaube angesichts der Offenbarung
Die Jugendlektüre und ihre Früchte
Ich glaube, Albert Camusʼ Der Fremde habe ich schon mit fünfzehn Jahren konsumiert, damals auf Polnisch und in meinem Geburtsstädtchen Bartoszyce nahe der polnisch-russischen Grenze, im ehemaligen Ostpreußen und heutigen Polen. Als Teenager muss man solche Autoren wie Camus, Hermann Hesse oder Thomas Bernhard lesen, weil sie alles zu bieten haben, was eine rebellisch-intellektuelle Teenagerseele braucht: subversive Gedanken über uns selbst und unsere Nächsten sowie permanentes Sezieren der Umgebung, in der man lebt (Bernhard), die Infragestellung der Welt der Erwachsenen und ihrer moralischen Ordnung ‒ ja, ihrer Vorstellungen von Ethik und Religion (Camus), die Esoterik und Metaphysik (Hesse). Das ist ein Mix, der mir damals, als ich ein Jugendlicher war, sehr gefallen hat. Heinrich Heine (Gedichte und Prosa) und Thomas Mann (sein Roman Der Zauberberg) folgten wenig später und natürlich ‒ in meinem Fall ‒ die polnischen Autoren wie zum Beispiel Stanisław Ignacy Witkiewicz, Witold Gombrowicz und Czesław Miłosz. Das war meine literarische Schule und jungfräuliche Lektüre, und einen Giganten darf man nicht vergessen: William Shakespeare, der mir über die Liebe und die Liebeskomödie genauso viel zu sagen hatte wie Christus in seiner Bergpredigt (in der ja hauptsächlich von der Liebe die Rede sei, wie es Leszek Kołakowski zum Leid der Theologen in seinem Essay Jésus ridicule. Un essai apologétique et sceptique konstatiert, und nicht von Verhaltensregeln wie in einem Moralkodex). Und auf diese Art und Weise intellektuell vorbereitet, kam ich 1985 nach Westdeutschland und entdeckte langsam mein späteres zweites Standbein, nämlich die deutsche Philosophie: Karl Jaspers, Theodor W. Adorno und Walter Benjamin.
Aber Der Fremde schenkte mir letztendlich, beurteile ich diese jungfräulichen Lektüreeindrücke aus der Distanz der Jahrzehnte heraus, den entscheidenden Impuls zum Nachdenken über die Freiheit und ihre Tücken und versteckten Fallen. Ein ähnlicher Effekt stellte sich bei mir auch dann ein, als ich zum ersten Mal Die Brüder Karamasow von Fjodor Dostojewski las und in diesem gewaltigen und hochmodernen Roman der zwiespältigen Gestalt des Iwan Karamasow begegnete, der vor der Frage steht, ob nun alles erlaubt sei, wenn es Gott nicht gebe. Ich will damit nicht sagen, dass zwischen den beiden jungen Männern Iwan Karamasow und Meursault, der in Camusʼ Kurzroman einen absurden Mord begeht, die Chemie stimmt und die beiden Romanfiguren aus gleichem Holz geschnitten sind, aber sie haben zumindest eine für meine Überlegungen zur Freiheit und zu ihren Tücken und Fallen nützliche und entscheidende Gemeinsamkeit: Sie sind für die Gesellschaft untragbar, weil sie zwei Rebellen sind, aber nicht aus dem Grund, weil sie beschließen, gegen die Gesellschaft zu rebellieren, sondern aus dem Grund, weil sie in der Gesellschaft und in der Welt per se, im ontologischen Sinne also, kein Glück und keine Liebe finden, weil der Tod und das Leid der Menschen übergroß da stehen und Gott alles sein kann, aber für die beiden Rebellen und Zweifler gewiss kein Trost und schon gar keine Lösung.
Aber zur Sache: Schauen wir uns beide Romane etwas genauer an …
Der Fremde von Albert Camus
Meursault, ein junger und ziemlich introvertierter Büroangestellter um die dreißig, begeht einen sinnlosen Mord, den er nicht wollte. Er hat sich in eine Situation hineinreißen lassen, die total verzwickt und absurd erscheint, wenn man sie genau analysiert.
Der junge Mann fährt zum Begräbnis seiner Mutter und zu ihrem Altenheim, das etwa achtzig Kilometer von Algier entfernt ist: Wir befinden uns in den 30er Jahren des 20. Jahrhunderts in Algerien ‒ also in der französischen Kolonie. Das Begräbnis wird für Meursault zum totalen Desaster. Die Sonne macht ihm sehr zu schaffen, die Fahrt mit dem Bus hat an seinen Kräften gezerrt, und bei der Totenwache versagt er gänzlich ‒ er wirkt in seiner Müdigkeit und Ermattung teilnahmslos und kalt, zumindest auf die Einheimischen, die an dem Begräbnis teilnehmen.
Am nächsten Tag, nach Meursaults Rückkehr nach Algier, geht aber sein Leben ganz normal weiter, als wäre nichts geschehen; er beginnt ein Verhältnis mit seiner Kollegin Marie und lässt sich von seinem Freund Raymond dazu überreden, ihm bei der Rückeroberung seiner Geliebten, einer Einheimischen, zu helfen, indem er in Raymonds Namen einen Brief an seine alte Geliebte schreibt. Schön und gut ‒ es gibt tatsächlich ein Happy End dieser Love Story, die besagte Geliebte kehrt zu Raymond zurück. Aber Raymond ist ein gewalttätiger Mann, er schlägt und beschimpft seine Geliebte, und allmählich zeichnet sich schon das kommende Unglück ab, das selbstverschuldete Drama, und nicht nur das der endlichen Existenz des Menschen.
Meursault, Marie und Raymond machen einen Ausflug zu einem Strandhaus, das einem Freund gehört. Doch während des Ausflugs geschieht etwas Unerwartetes: Zwei Einheimische, wobei einer der beiden Arber vermutlich der Bruder der Geliebten von Raymond ist, lauern den Ausflüglern an einer Haltestelle auf. Sie wollen dem Gewalttäter Raymond dafür, dass er seine Geliebte ‒ ihre Schwester ‒ verprügelt hat, eine Lehre erteilen und greifen ihn mit einem Messer an und stechen ihn in den Arm. Die beiden Rächer hauen anschließend ab, aber das ist noch nicht das Ende der Tragödie ‒ am Strand treffen Meursault und Raymond noch einmal die zwei Rächer, und dort am Meer herrscht eine unmenschliche Sommerhitze, die einen um den Verstand bringen kann. Raymond hat einen Revolver dabei, und Meursault greift ein, als sein Freund versucht, einen der beiden Rächer und Einheimischen zu erschießen. Man könnte sagen: Was für ein Glück, dass Meursault die Nerven behält, sonst wäre es zum Blutvergießen gekommen, und er würde Zeuge eines Mordes werden, was ihn in diesem Fall in große Schwierigkeiten gebracht hätte, denkt man nur an den Brief, den er im Auftrag von Raymond verfasst hat. Der Vorwurf der Komplizenschaft wäre Meursault sicher gewesen. Aber es kommt wieder alles anders.
Meursault, dem sein unberechenbarer Freund den Revolver in die Hand gedrückt hat, macht sich wieder auf den Weg zum Strand, wobei der Revolver in der Tasche seiner Jacke steckt. Er sucht nach Abkühlung und Erholung von all den nervenaufreibenden Ereignissen, doch es wird alles nur noch schlimmer; die Hitze kann er nicht mehr ertragen, in der Sonne erscheint ihm alles unreal und verschwommen, er kann nicht mehr rational denken. Er begegnet wieder einem der beiden Rächer, der erneut ein Messer in der Hand hält und es auch als Waffe gegen ihn einsetzen will. In Notwehr schießt Meursault auf den Einheimischen ‒ wobei er in der sengenden Sonnenhitze nur die bedrohliche Klinge erkennt. Der Angreifer ist sofort tot, und Meursault verliert völlig den Kopf und schießt dann auf den Leichnam noch viermal.
Das Ende vom Lied ist bitter: Der Täter kommt ins Gefängnis, und nach elf Monaten wird er zum Tode verurteilt. Und hier beginnt der für uns interessanteste Teil der Geschichte, da dieser auch etwas mit Dostojewskis Roman Die Brüder Karamasow und vor allem mit dessen subversivster Figur zu tun hat, nämlich mit Iwan Karamasow.
In Der Fremde ist der Staatsanwalt, der die Todesstrafe für den seiner Auffassung nach kaltblütigen und empathielosen jungen Mann fordert, unerbittlich; für ihn gibt es keinen Zweifel daran, dass Meursault für die Gesellschaft untragbar ist, zumal er nicht einmal »religiös« ist, was Meursault dem Richter ‒ in dessen Vorstellung von Werten und Moral der Atheismus einem Geschwür, einer Krankheit gleicht ‒ sogar bestätigt hat.
Der Richter ist entsetzt: Nicht nur, dass der wegen des Mordes Angeklagte nicht weiß, warum er noch viermal auf den Leichnam geschossen hat ‒ er glaubt auch nicht an Gott. Der Richter empört sich: »›Wollen Sie‹, schrie er, ›dass mein Leben keinen Sinn hat?‹« Anschließend hält er dem Angeklagten das Kreuz mit dem gekreuzigten Heiland »vor die Nase« und sagt: »Ich bin Christ. Ich bitte den hier um Vergebung deiner Sünden. Wie kannst du nicht glauben, dass er auch für dich gelitten hat?«
Meursault ist entsetzt, aber nur deshalb, weil er vom Richter geduzt wird und auch ganz einfach »genug« hat ‒ von diesem Verhör und dieser Prüfung seines Gewissens, er empfindet diese als sinnlos, als Zeitverschwendung; außerdem setzt ihm wieder die schreckliche Hitze zu, und die trägen Fliegen, die auf seiner Haut kleben, rauben ihm den letzten Nerv.
In seiner Gefängniszelle auf die Vollstreckung der Todesstrafe wartend, lehnt der junge Mann ein Gespräch mit einem Priester zunächst ab. Aber er ist nicht verzweifelt, er findet seine Ruhe und seinen Frieden, ob jetzt oder in zwanzig Jahren sterben ‒ das sei nun gleich, denkt er sich. Und doch kommt noch ein Grande Finale; Meursault spricht doch noch mit dem Geistlichen, der ihn mit der üblichen seelsorgerischen Attitüde anspricht: Er behandelt den Angeklagten wie ein unmündiges und im Prinzip minderwertiges, weil unwissendes Wesen, das nicht imstande zu erkennen sei, was es getan habe und was die Offenbarung Christi ‒ seine eschatologische Botschaft betreffend ‒ eigentlich bedeute. Der Geistliche sagt nämlich: »Ich stehe auf Ihrer Seite. Aber das können Sie nicht wissen, denn Ihr Herz ist blind. Ich werde für Sie beten.«
Diese Sätze des Geistlichen verwandeln den wortkargen und sich stets zurückhaltenden jungen Angeklagten Meursault in eine Furie: »Da platzte etwas in mir ‒ ich weiß nicht, warum. Ich fing an zu toben und beschimpfte ihn und sagte, er solle nicht beten. Ich hatte ihn beim Kragen seiner Soutane gepackt.«
Dann folgt eine furiose Tirade, und da der Ich-Erzähler ein Berichterstatter ist, setzt er hier indirekte Rede ein, was die Wirkung dieses Wutausbruches noch einmal verstärkt; im Prinzip zitiert er sich selbst, als würde er sich selbst von außen betrachten ‒ als eine völlig unbeteiligte Person. Und diese kurze und wütende Rede hat es wirklich in sich, denn Meursault beraubt den Priester sämtlicher Gewissheiten ‒ er zerstört ihm sozusagen sein Weltbild und entzieht ihm den sicheren Boden, glaubt doch der Priester, dass er im Besitz der Wahrheit sei, weil er an die Offenbarung Gottes durch seinen Sohn Jesus Christus glaube, und die Offenbarung stehe doch höher als das Rationale, ja, als die Vernunft, denn in der Offenbarung werde jeder Zweifel endgültig aufgelöst und vernichtet: Das ewige und glückliche Leben in Gott erwarte den Menschen nach dem Tod, sofern er vergeben und ihm auch vergeben werden könne.
Meursault bescheinigt aber dem Geistlichen, dass doch auch in seinem Leben nichts sicher sei und er jederzeit alles verlieren könne, zumal er sowieso längst ein Toter sei, dem Tod geweiht sei, wie jeder andere Mensch auch. Angesichts des Todes sei alles vollkommen unwichtig, und nur diese Wahrheit zähle, nur diese eine Gewissheit, die jeder besitze ‒ alles andere sei nur eine ungeheure Austauschbarkeit, die so oder so irgendwann ebenso enden werde; die Lippen der Maria werde nun ein anderer Meursault küssen, na und? Was werde dieser Umstand ändern? Nichts! Die Liebe der Mutter, Gott, das Leben, »Milliarden« von Geschicken, »Bevorzugten« ‒ all das sei austauschbar und letztendlich bedeutungslos, womit der Wutentbrannte meint, dass alles nur auf eine einzige Gewissheit hin zulaufe: nämlich die des sicheren Endes, des Todes. Und angesichts dieser Gewissheit seien jegliche Wertungen und Urteile und sogar Unrecht, das jemandem angetan werde (was Meursault erfährt), nichts wert.
Dennoch muss man sagen, dass Meursault eine Anklage erhebt ‒ er will frei sein, er will selbst entscheiden, wie es um sein Dasein bestellt sein soll; er will selbst bestimmen, wer sein Freund wird, wer Feind, wer seine Geliebte oder nicht. Und nicht deshalb will er frei sein, weil er sich wie ein »Bevorzugter« fühlt, sondern weil jeder Mensch das Recht hat, frei zu bestimmen, wer er nun sein will und was nach dem Tod kommt ‒ das Nichts oder das Reich Gottes. Wenn jemand versucht, andere Menschen »auf Teufel komm raus« glücklich zu machen, so ist dies bereits eine schlimme Freiheitsberaubung ‒ in aller Kürze gesagt.
Meursault will nicht vom Geistlichen und seiner Kirche und ihrem institutionalisierten Gott umarmt und getröstet werden, weil es für ihn keinen Trost gibt, weil er diesen auch nicht braucht. Für den Geistlichen und den Richter ist der Gedanke, nach dem Tod als menschliches Wesen, ausgestattet mit einer Seele und einem Bewusstsein, vollkommen zu verschwinden ‒ »ganz und gar« zu »sterben«, wie der Priester sagt ‒, unerträglich, ja, unvernünftig, unvorstellbar, nicht hinnehmbar. Für Meursault nicht. Im Gegenteil. Er ist sogar glücklich und kann jederzeit verschwinden ‒ sterben.
Vergleicht man aber Meursaults Gleichgültigkeit gegenüber der Endlichkeit der menschlichen Existenz, die ihn jedoch nicht zu einem empathielosen und kalten Menschen macht, zumal er lediglich in einer Kette von Unglücken und Geschicken in einen Strudel von tragischen Ereignissen geraten ist, die jeden ‒ auch den Geistlichen ‒ hätten ereilen können, mit der Gleichgültigkeit, die Iwan Karamasow in seinem ideologisierten und philosophisch durchdachten Nihilismus der Welt und dem Leben entgegensetzt, stellt man fest, dass beide Protagonisten ein großes, aber zugleich diffiziles Thema ‒ ein Axiom sozusagen ‒ anpacken und hin und her wälzen: den Konflikt zwischen der Vernunft, dem Rationalen also, und der Offenbarung, der Botschaft Gottes. Denn beide Romanhelden lehnen das Angebot der Offenbarung, wie es in Die Brüder Karamasow heißt: die »Eintrittskarte« Jesu Christi, der ein Versprechen vom ewigen Leben gibt, ab. Iwan Karamasows Fall ist bloß noch etwas komplizierter als der von Meursault, der im Prinzip nicht weiß, was am Strand geschehen ist, und unter »normalen« Umständen, also an einem schönen Tag ohne diese unerträgliche Hitze und auch ohne die Trostlosigkeit der Erinnerung an das Begräbnis der Mutter und vielmehr an ihren Tod, einen der Rächer gar nicht umgebracht hätte, zumal er zuvor sogar einen möglichen Mord aus der Hand seines Freundes Raymond verhindert hat. Das ist aber bei Iwan alles anders: Er wünscht seinem Vater Fjodor Karamasow den Tod ‒ der dann auch herbeigeführt wird.
Die Brüder Karamasow von Fjodor Dostojewski
»Nicht Gott ist es, den ich ablehne, Aljoscha,
ich gebe ihm nur die Eintrittskarte ergebenst zurück.«
Iwan Karamasow
Im Herbst 2020, mitten in der sich damals rasch entwickelnden Covid-19-Pandemie und wenige Monate nach meinem Umzug von Verden bei Bremen nach Frankfurt am Main, wo ich mir aber schon vor vielen, vielen Jahren durch die ständigen und immer länger werdenden Aufenthalte in der Mainmetropole ein zweites Zuhause aufgebaut hatte, hielt ich im Rahmen meiner Chamisso-Poetik-Dozentur in Dresden drei Vorträge (notabene im Dresdner Kulturpalast, einem zwar modernisierten Gebäude, das aber nach wie vor den sozialistischen Geist der DDR-Architektur verkörpert ‒ eine Art pompöse Sachlichkeit, die ich auch aus der Volksrepublik Polen gut kenne). Und eines der Themen dieser Vorträge war die Freiheit, die insbesondere für Menschen, die vor 1989 in Polen die Entstehung der Gewerkschaft Solidarność und ihre heute schon legendären Streiks in der Danziger Werft als Zeugen der Geschichte erlebt haben, von größter Bedeutung ist. Ich will nicht damit sagen, dass wir Polen eine Art Freiheitsgen in unserer politischen DNA tragen, das wäre zu pathetisch und zu klischeehaft, aber Fakt ist, dass ich bereits als Jugendlicher begriffen habe, wie wichtig die politische Freiheit ist, und zwar gänzlich im Sinne der Demokratie.
Ich war auch ein Rebell, ich rebellierte gegen das kommunistische Regime, den institutionalisierten Marxismus, der korrupt und vom Nationalismus geprägt war, und ich rebellierte zugleich gegen eine zweite mächtige Institution, die der katholischen Kirche, obgleich sie damals trotz ihrer ganzen politischen Verstrickungen in die Geschäfte der Kommunisten und ihrer Spitzel schon ein besonders wichtiger Ort des Asyls und der mentalen Unterstützung für die Arbeiter und Dissidenten gewesen war. Denn schließlich hatte man einen gemeinsamen Feind zu bekämpfen, der die Freiheit einschränkte.
Ich war zwar kein Dissident, und meine Gedichte, die ich bereits mit sechzehn Jahren publizierte, waren zwar gänzlich den lyrischen Themen gewidmet, die sich aus diesem Genre heraus selbst ergaben, aber ich war dennoch ein Rebell. Und es ging eben nicht nur um die Sehnsucht nach Freiheit, sondern gezielt um die Realisierung der Freiheit in einer offenen Gesellschaft, die in unseren Vorstellungen von Freiheit herumspukte. Vielleicht ist das auch der Unterschied zu anderen ehemaligen Ostblockländern, dass die Volksrepublik Polen in den Siebzigern und Achtzigern zum aktivsten ‒ politisch betrachtet ‒ Posten im Kampf um Freiheit und Unabhängigkeit wurde, was letztendlich einen wesentlichen Beitrag zum Fall der »Mauer« gebracht hatte. Leider wird dieser Umstand im Westen oft verkannt, beziehungsweise ignoriert, aber Schwamm drüber. Das ist außerdem ein anderes Thema.
Viel wesentlicher ist, dass diese politische Beschäftigung mit Freiheit in meinem Leben und im Leben so vieler Polen zwangsweise ‒ insbesondere dann, wenn wir anfingen, Texte zu schreiben ‒ dazu führte, dass auch ich in die Katakomben der Freiheit hinabsteigen musste, um alle möglichen Probleme der Freiheit zu ergründen und zu analysieren. Deshalb lag es für mich auch klar auf der Hand, dass ich in einer meiner Chamisso-Poetik-Vorlesungen auf den Roman Die Brüder Karamasow essayistisch tiefer, als das sonst immer der Fall in meinen Texten war, eingehen musste, um eben viele Facetten der Freiheit zu beleuchten, die doch genauso wie die Aufklärung auf einige schiefe Bahnen in der europäischen Geschichte geraten ist, was wir unter anderem von Michel Foucault gelernt haben, denkt man nur an seinen schon legendären Essay Was ist Aufklärung? von 1983.
Ich möchte daher an dieser Stelle einen kurzen Auszug aus meiner zweiten Chamisso-Poetik-Vorlesung in Dresden bringen, denn dieser beschäftigt sich mehr oder weniger mit dem Vorläufer von Meursault ‒ mit Iwan Karamasow. Wir müssen, nachdem wir uns Meursaults holprigen, jedoch konsequenten Weg zur Freiheit näher angeschaut haben, seinen eigentlichen Erzeuger ‒ so würde ich das sagen ‒ ebenso unter die Lupe nehmen und uns Iwan Karamasows Vorstellung von Freiheit und seinen Kampf mit ihr und um sie vor Augen führen.
***
Ich teile die Meinung von meinem Landsmann Marcel Reich-Ranicki, dass Die Brüder Karamasow der größte Roman sei, der jemals geschrieben worden sei. Den Inhalt dieses »Überbuches« kennt jeder: Drei Söhne, die unterschiedlicher nicht sein könnten, hadern mit ihrem Vater Fjodor Karamasow, einem hedonistischen und »über Leichen gehenden« Mann, der wohlhabend ist, jedoch ein kaltes Herz hat und verantwortungslos handelt, vor allem gegenüber seinen Söhnen Aljoscha, Dimitri und Iwan. Sie repräsentieren symbolisch drei verschiedene Lebensenergien, Bewusstseinsebenen und Haltungen; ihre Verhaltensweisen lassen sich auch allegorisch auffassen: Dimitri ist ein Lebemann, Iwan ein Zweifler und Rebell, und Aljoscha sucht sein Heil im Glauben an Christus, den Iwan aufs Äußerste in Frage stellt. Ihr Vater wird zwar von ihrem mutmaßlichen Halbruder Smerdjakow ermordet, wobei Dimitri für den Mord juristisch zur Verantwortung gezogen wird, doch alle drei Brüder, insbesondere Iwan, haben ihren Beitrag zu dem Vatermord mehr oder weniger unbewusst geleistet. Man kann leichten Gewissens behaupten, dass in allen Söhnen und auch in ihrem Vater sicherlich die Ängste und Dämonen, die den Autor sein Leben lang geplagt haben, zum Vorschein kommen, beziehungsweise ihre Entsprechung und Widerspiegelung gefunden haben. Verteilt über die Hauptfiguren bilden sie, die Ängste und Dämonen, im Roman Wegweiser, damit sich der Leser in die komplizierte Psychologie ihres Handelns und ihrer Abgründe besser hineinfinden kann. Aber, wie Miłosz einmal treffend bemerkte, die Reduzierung dieses Romans auf die psychologischen Probleme, Spiele und Konflikte zwischen den Helden ist geradezu eine typische Rezeption in Westeuropa. Dabei beschäftigt sich der Roman vor allem mit theologischen und philosophischen Problemen, mit der Theodizee, dem Ursprung und der Funktion des Bösen, und mit der Freiheit des Individuums, wobei der historische Hintergrund des zaristischen Russlands und Westeuropas des 19. Jahrhunderts eine große Rolle spielt. Dostojewski kritisiert in seinem letzten großen Roman den Sozialismus und seinen Drang nach Realisierung des Himmels auf Erden, ich zitiere aus seinem Buch: »(…) denn der Sozialismus ist nicht nur eine Arbeiterfrage oder eine Frage des sogenannten vierten Standes, sondern hauptsächlich eine atheistische Frage, die Frage der gegenwärtigen Inkarnation des Atheismus, die Frage des babylonischen Turmes, der ausdrücklich ohne Gott gebaut wird, nicht zur Erreichung des Himmels von der Erde aus, sondern zur Niederführung des Himmels auf die Erde«, und er liest außerdem dem römischen Christentum, dem Katholizismus, die Leviten. Ein Satz, den Jesus Christus ausgesprochen haben soll, ist dabei ein tragendes Leitmotiv im ganzen Roman, und dessen Einsatz findet seine Kulmination im phänomenalen »Fünften Buch: Pro und Contra«, in dem Iwan seinem Bruder Aljoscha vom Großinquisitor aus Sevilla erzählt; der Satz aus dem Evangelium lautet: »Und ihr werdet die Wahrheit erkennen, und die Wahrheit wird euch frei machen« (Johannes 8.32).
Iwans Geschichte Der Großinquisitor spielt im 16. Jahrhundert, er hat sie selbst verfasst, und sie geht der Frage nach, was passieren würde, wenn Jesus Christus wieder leibhaftig auf Erden erschiene, aber auf dem Höhepunkt der tobenden Inquisition mit ihren täglichen Scheiterhaufen für die vermeintlichen Ketzer. Christus kommt nach Sevilla, vollführt seine Wunder, heilt einen Schwerkranken und lässt ein totes Kind auferstehen. Die Menschenmenge tobt vor Begeisterung und Freude über die Wiederkehr des Leibhaftigen und seiner Wundertaten, doch der Großinquisitor lässt den Heiland verhaften und einsperren. Christus schweigt, während der Großinquisitor ihm klar macht, dass er auf Erden nichts mehr zu suchen habe und nicht mehr gebraucht werde. Sein Peiniger sagt: »Alles, was Du neu verkünden würdest, wäre jetzt ein Anschlag auf die Glaubensfreiheit der Menschen, denn es würde nun als Wunder in Erscheinung treten, gerade ihre Glaubensfreiheit aber war Dir doch das Teuerste (…)« Und dann fügt er noch hinzu: »Anderthalb Jahrtausende haben wir uns mit dieser Freiheit abgequält, doch jetzt ist das überwunden, und zwar endgültig! (…) So höre denn, dass gerade jetzt diese Menschen mehr denn je überzeugt sind, vollkommen frei zu sein, und dabei haben sie doch selber ihre Freiheit zu uns gebracht und sie gehorsam und unterwürfig uns zu Füßen gelegt. Aber das ist unser Werk.«
Der Großinquisitor will Jesus Christus auf dem Scheiterhaufen brennen sehen, und er behauptet, ein einziger Wink reiche, damit das Volk ihm folge und die Strafe für den Ketzer begrüße. Mit anderen Worten: Der Mensch sei zur Freiheit, die Christus den Erdlingen anbiete, gar nicht fähig, scheint uns der Großinquisitor sagen zu wollen. In Iwans Geschichte lesen wir auch noch die schon erwähnte Kritik am Papsttum und dem »römischen Glauben«, der seine Feinde stets den »Flammen« übergebe (aber dieser Ausflug, diese Volte, ist typisch für Dostojewski, der eben einen russisch-orthodoxen Christus stets im Sinne hatte, wenn er über den Heiland schrieb ‒ im Sinne des Schismas).
In seinem Buch Die Weltanschauung Dostojewskis von 1925 schreibt Nikolai Alexandrowitsch Berdjajew, dass für Dostojewski das Problem des Menschen und seines Schicksals vor allem das Problem der Freiheit sei. Berdjajew, der wie Wladimir Sergejewitsch Solowjow zu den großen Bewunderern des neben Tolstoi größten russischen Romanciers gehört, unterscheidet in seinem Essay zwei Freiheiten: »(…) die erste ist die ursprüngliche Freiheit, die zweite – die endliche Freiheit. Zwischen diesen beiden Freiheiten liegt der Weg des Menschen, erfüllt von Qual und Leid, der Weg des Zwiespalts. Schon der heilige Augustin lehrte in seinem Kampf gegen die Pelagianer von zwei Freiheiten: der libertas minor und der libertas major. Die geringere Freiheit war für ihn die ursprüngliche, die erste Freiheit, die die Freiheit der Wahl des Guten ist, sie ist mit der Möglichkeit der Sünde verbunden; die höhere Freiheit war die letzte, endliche Freiheit – die Freiheit in Gott, im Guten.«
Überträgt man nun all das, was Berdjajew im Kontext der kleinen, individuellen, und der großen, der Eschatologie zugewandten, Freiheit zu erklären versucht, auf das Handeln von Iwan Karamasow, so erkennt man schnell, in welchen Gewissenskonflikten, aber auch in welchen Widersprüchen der Rebell und im Prinzip der Ketzer Iwan steckt. In einem langen Gespräch mit seinem Bruder Aljoscha gesteht er, dass er schon gläubig sei, aber das Angebot Jesu Christi müsse er ablehnen: Er wolle Gott seine »Eintrittskarte« zurückgeben. Und in dieser Rebellion ist Iwan auch ein Liebesverweigerer, denn er behauptet in seinem Geständnis, er habe nie begreifen können, wie man seine Nächsten lieben könne. Natürlich bezieht er sich in dem Moment auf den Vater, er sagt, dass man gerade die »Nahestehenden« unmöglich lieben könne. Des Weiteren hält er vor Aljoscha eine lange Rede über die Unschuld der Kinder und die Grausamkeit Gottes, weil dieser zulasse, dass die Kinder immer wieder für die Sünden ihrer Väter büßen müssten. Damit kritisiert er bloß nicht nur die Erbsünde, den fatalen Fehler aus dem Garten Eden, Iwans »Empörung« richtet sich gegen die Aussichtslosigkeit des menschlichen Daseins, in dem er keinen Fortschritt sieht, da jede Generation für die Sünden der Väter von neuem einen hohen Preis zahlen müsse, zumal man nicht einmal den Kindern die Hölle auf Erden erspare. Die Vergebung sei eine Farce, sie finde auf Erden nicht statt (!).
Iwan versucht zwar, seinem für den Vatermord zur Schwerstarbeit in Sibirien verurteilten Bruder Dimitri zu helfen und ihn sogar vor der harten Strafe und dem sicheren Tod zu retten, aber Iwan ist ein psychisch labiler und zerstörter Mensch, der im Fieber Wahnvorstellungen hat: Er bekommt mehr oder weniger ungebetenen Besuch vom Teufel, mit dem er dann über seine ontologisch aussichtslose Lage und das Problem der Apostasie, des Abfalls vom Glauben, diskutiert. Iwan leidet unter Unentschlossenheit, und obwohl er sich die totale Rebellion gegen Gott wünscht, sucht er beim Teufel nach Hilfe und Verständnis für seine Apostasie, zumal er sich darüber wundert, dass sein unheimlicher Besucher an Gott glaubt und gleichzeitig nicht weiß, ob es ihn wirklich gibt.
Es taucht die Frage auf, ob der Teufel aus den fiebrigen Visionen ähnlich wie Smerdjakow den dunklen Anteil in Iwans Charakter symbolisiert: Ob er der dunkle Animateur ist, der den offensichtlich an Schizophrenie Erkrankten zum entschlossenen Handeln bewegen will, um endlich den hedonistischen Vater Fjodor loszuwerden und sein Erbe zu bekommen. Und die Antwort lautet: Ja und nein, denn gerade das nicht aufhören wollende Zweifeln Iwans an Gott und seiner Erlösungslehre ist so überzeugend beschrieben, dass man nicht einmal das Fiebern, die schwachen Nerven, das Bipolare seines Charakters und seiner Psyche als Erklärung und Entschuldigung für sein zerstörerisches und verantwortungsloses Handeln heranziehen will – der Leser akzeptiert diese Figur so, wie sie ist; er hat keine Vorurteile und trifft keine harten Urteile. Das ist Iwan, sagt sich der Leser, ein unsäglich unglücklicher Mensch, der Teufel gehört zu ihm: wie Starez Sossima zu Aljoscha.
Der Halbbruder Iwans Smerdjakow begeht Selbstmord, und somit verschwinden die Beweise dafür, dass er der Vatermörder gewesen ist. Iwan ist allerdings ein Mitbeteiligter, Smerdjakow hat ihm den Vorwurf gemacht, er sei mit der möglichen Tötung des Vaters Fjodor doch einverstanden gewesen, er habe ihn zu diesem Mord angestiftet. Und der Schlüssel zu Iwans Seele und intellektuell-geistiger Verfassung findet sich nicht in der berühmten Legende über den Großinquisitor, sondern in den Gesprächen mit dem Teufel: Der Teufel spricht als abgespaltenes Ego Iwans seine heimlichsten Wünsche aus, die die Freiheit und ihre unendliche Macht im Bösen wie auch im Guten betreffen. Auf die Spitze getrieben, kann man behaupten, dass Iwan sich an dieser Macht berauschen will – als Mensch-Gott. Der Teufel sagt zu Iwan: »Mein Lieblingstraum ist, mich zu verkörpern – aber endgültig und unwiderruflich – in irgendeine dicke, zweieindrittel Zentner schwere Kaufmannsfrau und an alles zu glauben, woran sie glaubt. Mein Ideal ist: in die Kirche zu gehen und dort aus reinem Herzen vor einem Heiligenbilde eine Kerze aufstellen zu können. Bei Gott, so ist es. Dann hätten meine Leiden ein Ende. Ach, richtig, und dann habe ich noch an etwas Gefallen gefunden, das ist: mich hier bei euch zu kurieren.«
Gerade nichts anderes wünscht sich Iwan sehnlichst: Er sucht nach einem Halt, nach einer überzeugenden und ihn erlösenden Idee wie auch nach ihrer Verkörperung, um sich endlich von seinem Nihilismus befreien zu können, obwohl er in seiner Rebellion gegen Gott und damit gegen die geschenkte Freiheit in der Eschatologie sich anmutig und vernünftig – mensch-gottgleich – vorkommt. Doch sein Unterbewusstsein sehnt sich nach gesegneter Normalität, nach Ordnung und Hoffnung auf ein glückliches Leben: Das wird zum Beispiel in dem Wunsch des Teufels deutlich, der von der Inkarnation in einem dicken, aber glücklichen und emsigen Weib spricht.
Iwan Karamasow hat natürlich Brüder im Geiste – wenn man so will: Brüder im Wahnsinn, in der Entgleisung, im Verlust des Lebenssinns, des Glaubens und der Überzeugung, dass unsere Existenz eine Lösung für die Qualen der unruhigen und entwurzelten Seele früher oder später schon bringen werde. Berdjajew schreibt dazu: »Die rebellierende Freiheit der Helden Dostojewskijs erreicht die letzten Grenzen der Spannung. Die Helden Dostojewskijs künden ein neues Moment im menschlichen Schicksal innerhalb der christlichen Welt an, ein späteres Moment als Faust. Faust steht noch in der Mitte dieses Weges. Raskolnikow, Stawrogin, Kirillow, Iwan Karamasow stehen bereits am Ende des Weges. Nach Faust war noch das 19. Jahrhundert möglich, das sich voll Eifer mit der Trockenlegung von Sümpfen befasste, wozu ja Faust zuletzt gelangt war. Nach den Helden Dostojewskijs setzt das unbekannte 20. Jahrhundert ein, das große Unbekannte, das anfangs als Krisis der Kultur zutage tritt, als Ende eines ganzen Zeitalters der Weltgeschichte. Der Freiheitsdrang tritt in eine neue Phase.«
Es gibt auch solche Leser Dostojewskis wie Vladimir Nabokov zum Beispiel, die dem großen russischen Romancier des 19. Jahrhunderts einiges vorzuwerfen haben: Seine Literatur sei zersetzend, destruktiv, morbid, und sie reduziere den Menschen viel zu stark auf das Negative und Dunkle, Unbegreifliche und Aggressive; das Dämonische, Vernichtende und Zerstörende nehme in seinen Büchern überhand – auf den Punkt gebracht. Aber Dostojewski schreibt nicht bloß über die Abgründe der menschlichen Seele. Er schreibt auch nicht nur über das Scheitern der Freiheit, einer Freiheit, die, wie Berdjajew konstatiert, bei solchen Helden wie Fjodor Karamasow oder Stawrogin aus dem Roman Die Dämonen ein Ausdruck ihres Eigenwillens geworden sei, wodurch es zur Vernichtung von Mitmenschen komme. Dostojewskis große Romane setzten sich vor allen Dingen mit dem Scheitern der Religionen und Ideologien auseinander, was Berdjajew folgendermaßen beschreibt: »(…) Dostojewskij entlarvt alle Entgleisungen des Christentums zur Religion der Nötigung und des Zwangs hin. Das Licht der Wahrheit, die Gnade der endlichen Freiheit können nicht von außen erhalten werden. Und Christus ist die letzte Freiheit (…).«
Für Berdjajew repräsentiert Smerdjakow das »niedere Ich« Iwan Karamasows, das nach Unmöglichem streben würde: dem »Menschgotttum«. Wenn also der Vatermord, wie er in Die Brüder Karamasow dargestellt wurde, ein Studium des Bösen sein soll, dann ist das Böse bei Dostojewski ein vor allem vom Menschen ausgehender Akt, in dem seine ganze Schwäche, beziehungsweise Niedertracht zum Vorschein tritt, und nur der wahre Christus, der keine Geisel der römisch-katholischen Religion sei, so der große Romancier, könne diesen verzweifelten Alleingang des Menschen, der sich die Freiheit nehme und ungeheures Leid über andere bringe, stoppen. Berdjajew schreibt in dem Zusammenhang von einer »erstaunlichen Theodizee und Anthropodizee«, von der Symbiose Gottes und der Freiheit; ja, er schreibt sogar, dass Dostojewski bewiesen habe, dass Gott existiere, weil er dem Leid und der falsch verstandenen, in den Eigenwillen transformierten Freiheit entgegenwirke.
Wir haben also gelernt, dass die Eschatologie bei Dostojewski eines der wichtigsten Themen ist – viel wichtiger als die psychologischen Nuancen und psychoanalytischen Verwicklungen der Helden. Dostojewski liebt den Menschen und verurteilt ihn nicht, mögen sie auch abscheulichste Taten vollbracht haben. Und das ist eine zutiefst humanistische und der Liebe zum Menschen zugewandte Haltung, die insbesondere in Russland stets auf einen fruchtbaren Boden treffen konnte.
Ein Epilog für Gläubige und Atheisten, die eigentlich im gleichen Boot sitzen, was die Probleme mit den Grenzen der Freiheit angeht
Meursaults und Iwan Karamasows Zweifel an der christlichen Offenbarung (an der »Eintrittskarte« für das ewige und wahre Leben im Gottesreich) bringen uns auf dem direkten Weg zu Karl Jaspers. Warum? In seinem Buch Der philosophische Glaube angesichts der Offenbarung von 1962 schreibt Jaspers über den Konflikt zwischen der Vernunft und der Offenbarung: »Der Sinn der Offenbarung lässt sich nicht durch die Vernunft begründen. Die Vernunft erklärt sich zwar als Philosophie für selbständig. Sie hat ihren eigenen in sich selbst gegründeten Ursprung. Aber dem ›Sinn‹ und der ›Wirklichkeit‹ der Offenbarung gegenüber ist sie nicht die oberste Instanz darüber, ob es Offenbarung gibt oder nicht. Denn Offenbarung geht wie der Ursprung der Philosophie aller Begründung vorher. Diese Ursprünglichkeit ist die Voraussetzung allen Begründens.« Und: »Der Grund liegt im Zeugnis des Heiligen Geistes, das ich in mir selber finde, wenn das Zeugnis der Offenbarung von außen an mich herantritt. Durch dies Zeugnis des Geistes, nicht durch Vernunft, wird ihre Wahrheit gesehen und erkannt. Die Vernunft ist verderbt und kann die reine Sprache des Heiligen Geistes verwirren.«
Nichts anderes passiert während des Gesprächs zwischen dem Geistlichen und Meursault ‒ hier prallen zwei Gegensätze aufeinander, und eine Kommunikation zwischen den beiden ist praktisch nicht möglich: Sie ist verwirrend.
Der Geistliche wähnt sich im Besitz der einzigen unvergänglichen und alle Menschen von der Illusion des Todes erlösenden, weil durch Gott offenbarten Wahrheit, die direkt zu Jesus Christus und damit zum ewigen und wahren Sein des Menschen in Gott und Glückseligkeit führt ‒ damit wird auch die Sinnlosigkeit des irdischen, mit dem Tod endenden Daseins aufgehoben.
Meursault aber zerstört die Offenbarung (und damit auch das Angebot der Eschatologie) mit seinen Stakkato-Sätzen eines Atheisten, da sie für ihn vollkommen irrelevant ist, weil sie nicht existent ist ‒ damit fürchtet er weder das Scheitern, das ihm, einem Sünder, beim Jüngsten Gericht blühen könnte, noch den Tod mit seiner Gewissheit, dass danach nichts mehr komme. Für den Geistlichen ist solch ein Denken unverständlich ‒ ja, unvernünftig. Er betrachtet Meursault nicht als einen freien Menschen, sondern als einen Sklaven des Todes und der Sünde, und das Einzige, was er ihm eingestehen und sogar verstehen kann, ist die Unwissenheit, in der sich seiner Meinung nach Meursault befindet.
Der zum Tode Verurteilte denkt jedoch über den Geistlichen im Prinzip genau das Gleiche, zumindest symmetrisch betrachtet: Für Meursault ist der Priester Sklave einer Illusion, einer Vorstellung, eines Glaubens, der keinen Mehrwert bringt, weil er nur erdacht ist ‒ vom Menschen. Gott gibt es nicht. Ich würde aber sogar sagen ‒ selbst, wenn es ihn gäbe, so würde Meursault auch nicht an ihn glauben, weil Gott ganz einfach nicht zu ihm gehört ‒ zumindest nicht zu seiner Vorstellung von Vernunft und Freiheit: und vom Leben.
Iwan Karamasow geht noch ein Stückchen weiter in seiner Vorstellung von Vernunft und Freiheit, denn das Leid des Menschen, das Gott seiner Meinung nach nicht verhindert, ist für ihn so ungeheuerlich, dass es ihm geradezu notwendig erscheint, sich dem Nihilismus und Atheismus hinzuwenden. Er hat aber auch als Atheist viele Zweifel, vor allem dann, als sein Vater getötet wird und als ihm der Täter, sein Halbbruder Smerdjakow, den Vorwurf macht, er (Iwan) sei genauso ein Ungeheuer wie der Vater Fjodor Karamasow; Smerdjakow sagt zu Iwan: »Sie haben dieselbe Seele wie er.« Dieser Satz tut dem Atheisten weh.
Dostojewskis obsessive Frage, die in vielen seiner Bücher (so auch in dem Roman Schuld und Sühne) um die Freiheit und ihre Grenzen kreist, ist folgende: Darf man sich solch eine Freiheit nehmen, die einem erlaubt, jemanden zu töten, und zwar nur deshalb, weil er ein böser oder gar wertloser Mensch ist? In Schuld und Sühne zum Beispiel hält der ehemalige Jurastudent Raskolnikow die Pfandleiherin, eine Wucherin, für eine »Laus«, eine wertlose Person, und er tötet sie, um an ihr Geld für eine höhere Sache, angeblich für eine Revolution, zu kommen, obgleich die Idee zu dieser schrecklichen Tat ihren Ursprung woanders hat. Raskolnikow ist verärgert darüber, dass seine Schwester Dunja den reichen Hofrat heiraten wird, aber nicht aus Liebe, sondern gänzlich aus finanziellen Gründen. Er kann diese Erniedrigung und den Verkauf des Körpers und der Seele seiner Schwester nicht ertragen.
Und Iwan? Er tut alles, wenn auch mit Hilfe seiner Brüder, vor allem seines Halbbruders Smerdjakow, dafür, dass der Vater für sein Böses bestraft wird, was auch Dimitri passt, der schließlich am Erbe des Vaters großes Interesse hat, da er Geld und Anerkennung braucht.
Iwan spannt für sich einen möglichen Täter ein, da er selbst diesen letzten Schritt nur in seiner Vorstellung machen kann ‒ was ihm auch sein Unterbewusstsein diktiert. Nach dem Mord am Vater kommen allerdings bei Iwan moralische Zweifel auf, und der Vorwurf Smerdjakows, Iwan habe ihn zu dieser Tat angestiftet, unterstreicht diese Zweifel eines auf den ersten Blick geläuterten Atheisten, der jedoch in seinem Kern immer noch ein gebildeter Christ geblieben ist: Sein Gewissen und seine Vorstellung von Sünde und Sühne haben eine christliche Prägung. Und das ist die höllische Dialektik, in der sich Iwan befindet ‒ als ein Prototyp des Atheisten und vor allem Existenzialisten.
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Man kann natürlich den Spieß umdrehen und gänzlich andere Fragen stellen.
Jaspers schreibt zwar in seinem Buch, dass die Offenbarung mit dem Aufkommen der »Autorität des technischen Zeitalters« mächtig ins Schleudern geraten sei, aber man müsste dem hinzufügen, dass die Idee der Offenbarung, also die Idee einer unumstößlichen Wahrheit, bis heute gerne als ein Machtinstrument missbraucht wird (und zwar auf allen uns bekannten Ebenen der Gesellschaft), um über andere ‒ religiös, politisch, institutionell oder »moralisch« suspekte Personen ‒ zu urteilen. Und das betrifft leider auch unsere heutigen Minderheitsbewegungen, die zwar inhaltlich und ethisch auf der Höhe ihrer Ziele, die sie zurecht verfolgen, stehen, aber zugleich der Gefahr des autoritären Gebarens ausgeliefert sind und sogar sein müssen, weil sie im Sinne der Utopie handeln: Hier und jetzt müsse sofort etwas komplett neu entstehen und in die Tat umgesetzt werden. Black Lives Matter oder die Me-too-Bewegung können davon ein Lied singen.
Der Großinquisitor aus Sevilla hat es uns aber vorgezeigt, wie es geht, was das autoritäre Gebaren betrifft. Er ist eben in den verführerischen Genuss einer totalen Macht gekommen: Er hat gelernt, die absolute Freiheit, die ihm sein Amt und die Kirche verleihen, zu schätzen; er weiß, was es bedeutet, über subversive und nonkonformistische Menschen, die seine Macht und die der Kirche gefährden, nach eigenem Gutdünken und damit nach Belieben urteilen zu dürfen ‒ und von solch einer Freiheit trennt man sich oft ungern. Das ist auch der Grund, warum der Großinquisitor Christus wegschickt und ihn lieber auf dem Scheiterhaufen sehen will. Eine unglaubliche Geschichte, literarisch und philosophisch ein Geniestreich, könnte man sagen, nur dass es solche Großinquisitoren auch heute gibt, auch wenn sie sich unter gänzlich anderen Mänteln verstecken und manchmal sogar nicht mehr zur Gewalt greifen müssen. Sie wehren sich aber mit Händen und Füssen gegen ihre Entthronung und sind dann tatsächlich zu allem fähig, wenn es um den Verlust ihrer Macht und Freiheit, wie sie sie verstehen, geht. Da kann man auch im Namen dieser Machterhaltung die Verfassung plötzlich ändern, um angeblich demokratische Werte zu verteidigen. In der Politik sind solche getarnten Vorgehensweisen bekannt, wenn radikale Großinquisitoren, egal, ob sie aus dem rechten oder linken Spektrum kommen, plötzlich auftauchen und im Namen einer großen Idee auftreten, die allen Bürgern leuchten soll.
Meine Erfahrung ist auf ewig mit dem kommunistischen Regime der Volksrepublik Polen verschweißt, wo erhabene Worte über demokratische Werte und sozialistische Ideen zur Gerechtigkeit schlicht und einfach eine Lüge waren. Unsere Großinquisitoren wollten auch keine neuen Propheten zulassen und dem Volk präsentieren, mochten sie auch vom gerechten Sozialismus predigen und den Status Quo des bestehenden politischen Systems erst gar nicht in Frage stellen. Es durfte also nur eine Erlösung geben, und diese bestimmte die Partei, weil sie das Wahrheitsmonopol verwaltete. Aber das wollen alle autoritären Parteien, unabhängig ihrer ideologischen Provenienz.
Und manchmal muss selbst die Demokratie eine Verfassung umgehen, um schnellstmöglich eine pluralistische Gesellschaft wiederherzustellen. Besonders sichtbar werden solche juristisch widersprüchlichen Vorgehensweisen zur Verteidigung der Demokratie dann, wenn Demokraten kurze Zeit antidemokratisch (verfassungswidrig) vorgehen müssen, um zum Beispiel die Wiederherstellung der Unabhängigkeit der öffentlichen Medien und des Verfassungsgerichts zu beschleunigen, die zuvor beide in den Händen einer autoritären und die Demokratie bekämpfenden Partei gewesen waren.
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Doch kehren wir zu unseren beiden Atheisten zurück, zu Meursault und Iwan Karamasow. Genaugenommen müssten die beiden Herren auch den Moslems oder den gläubigen Juden und nicht nur den Christen ein Dorn im Auge sein, da sie den Gottesglauben per se in Frage stellen. Die zahlreichen Unterschiede zwischen diesen drei Weltreligionen dürften Meursault und Iwan ziemlich egal sein, doch wenn wir schon von Unterschieden sprechen, so ist es hochinteressant, was Jaspers in dem Kontext in seinem Buch über den Islam und andere Religionen schreibt, wohlgemerkt 1962: »Der Islam war von vornherein Kriegerreligion, eroberte und unterwarf. Märtyrer sind ihm fremd. Die Kirche aber hat sich aufgefasst als ecclesia militans (die sich durch Märtyrer bezeugt) und triumphans (die Märtyrer schuf). Welchen Stolz sie entwickelte, ist symbolisch in den berühmten Statuen der Kirche und Synagoge am Straßburger Münster sichtbar: In der Gestalt der Kirche der strahlende Hochmut der vermeintlich Wissenden (in Christus Gott selber sehend), in der Synagoge das Menschengeschick, in der ›Blindheit‹ des erfüllten Nichtwissens (den unsichtbaren Gott nie erblickend) zu scheitern.«
In unserer anthropomorphen und abendländischen Kultur des Christentums ‒ was eben für gläubige Juden zum Beispiel ein absolutes No-Go ist, dass man Gott bildnerisch darstellt ‒ gibt es ja geradezu eine pornographische Zur-Schaustellung des Sakralen, und ich selbst als Kind wurde mit dem unsäglichen Leid Jesu Christi fast täglich konfrontiert, gab es doch in meinem polnischen Städtchen, in dem ich geboren wurde und bis zum sechszehnten Lebensjahr gelebt hatte, mehrere Kirchen, und in vielen Wohnungen hingen Kreuze mit dem gekreuzigten Heiland. Es war eine Art Terror des Sakralen.
Natürlich, der Richter will Meursault nicht nur erschrecken und wachrütteln, indem er ihm das Kreuz und Christus vor die Nase hält ‒ er erinnert ihn damit an die wichtigste Botschaft des Christentums: die Eschatologie, die Erlösung aus der tödlichen Falle der Matrix ‒ würde man heute sagen ‒, denn nicht umsonst mahnt Christus seine Anhänger in seiner Bergpredigt: »Ihr sollt euch nicht Schätze sammeln auf Erden, wo Motten und Rost sie fressen und wo Diebe einbrechen und stehlen. Sammelt euch aber Schätze im Himmel, wo weder Motten noch Rost sie fressen und wo Diebe nicht einbrechen und stehlen. Denn wo dein Schatz ist, da ist auch dein Herz. Das Auge ist das Licht des Leibes. Wenn dein Auge lauter ist, so wird dein ganzer Leib licht sein. Wenn aber dein Auge böse ist, so wird dein ganzer Leib finster sein. Wenn nun das Licht, das in dir ist, Finsternis ist, wie groß wird dann die Finsternis sein!«
Man könnte also sagen: Puh! Es ist ganz schön mutig von Iwan Karamasow und Meursault, dass sie das Angebot des ewigen und wahren Lebens in Gott ablehnen ‒ das Angebot der wahren Schätze, die ewig leuchten; dieses schlicht und einfach negieren. Aber sie sind bereits geistige »Produkte« des Nihilismus, des Atheismus und des »technischen Zeitalters« (Jaspers) und damit der Moderne, die alles auf den Kopf gestellt hat und immer noch stellt, vor allem in Bezug auf unsere Freiheit, die sich in ihrem Kern aus dem Geist der Aufklärung und des Christentums speist.
Eine einzige Wahrheit, die alles kann und weiß, scheint Meursault und Iwan Karamasow höchst verdächtig und allzu menschlich zu sein. Auf der einen Seite haben sie mit ihrer Kritik an dieser Endgültigkeit und Unvermeidbarkeit recht ‒ auf der anderen Seite lassen sich gerade Intellektuelle, Schriftsteller und Künstler leicht verführen, was das 20. Jahrhundert exzellent bewiesen hat. Es dauerte bei manchen Zeitgenossen der schreibenden Zunft nach 1945 lange, bis sie begriffen haben, was der Sowjetismus bedeutet: Deportierung in die Gulag-Lager, sobald man den einen Glauben und die eine Wahrheit in Frage gestellt hat. Albert Camus gehörte zumindest in den Kreisen der westlichen linken Intellektuellen zu den ersten und lautesten Kritikern des sowjetischen Reiches und seiner aggressiven Politik gegenüber seinen Feinden, die in den meisten Fällen gnadenlos beseitigt wurden.
Hier fällt mir noch eine interessante Digression ein: Seit einigen Jahren kursiert in Europa sogar das Gerücht, Camus sei vom KGB umgebracht worden, der Autounfall sei in Wahrheit ein erfolgreiches Attentat gewesen ‒ das behauptet zumindest der italienische Journalist Giovanni Catelli in seinem Buch Camus muss sterben von 2023. Der eigentliche Auftraggeber des Attentats sei der Außenminister Dimitri Schepilow gewesen, so Catelli, er habe sich von Camus persönlich angegriffen gefühlt. Der französische Nobelpreisträger schrieb nämlich 1957 einen Text für das Magazin Franc-Tireur und machte darin Schepilow für die blutige Niederschlagung des antikommunistischen Aufstands in Budapest 1956 verantwortlich. Ein sowjetisches Attentat auf Camus? Auf den ersten Blick eine steile These, aber wenn man die Dünnhäutigkeit und die Neigung zur Gereiztheit der eifrigsten sowjetischen Betonköpfe gut kennt, weiß man, dass solch eine These gar nicht so abwegig ist. Und in gewisser Hinsicht ist diese spezifische Gereiztheit in Russland wieder sichtbar geworden … Der Tod solcher Dissidenten und Antiputinisten wie Alexei Nawalny ist dafür ein Beweis, die alten KGB-Methoden sind wieder zurückgekehrt.
Ich frage mich aber manchmal angesichts der intellektuellen und ideologischen Verführungen und Verfehlungen des 20. Jahrhunderts, wer Meursault oder Iwan Karamasow sein würden, wenn sie in seiner zweiten Hälfte oder gar in unserer Gegenwart gelebt hätten? Was würden sie zum Beispiel über die KI denken? Würden sie Trump und Musk bewundern? Oder wären sie in den Siebzigern zu RAF-Terroristen geworden? Oder hätten sie nach wie vor mit Gott gehadert und sich mit ihrer atheistischen Haltung in sozialen Netzwerken gebrüstet? Oder würden sie in Adornos und Horkheimers Werken für ihre gepeinigten Seelen eine wohltuende Medizin finden? Würden sie 1967 in Frankfurt und Berlin auf die Straße gehen und Rudi Dutschke und Gaston Salvatore unterstützen? Das weiß ich nicht, aber es wäre sehr spannend und bestimmt ertragreich, sie in unserer Epoche leben und wirken zu sehen.
Ich glaube, was all die Meursaults und Iwan Karamasows wirklich vor den Kopf stößt, ist der Umstand, dass ihr Hunger nach Freiheit nicht mehr mit einer Offenbarung aus dem Mund der Gesalbten, der Wissenden, der Auserwählten gestillt werden kann, und was die beiden Herren wirklich noch mehr dabei stört, ist, dass diese Gesalbten und im Prinzip Allwissenden davon ausgehen, dass andere genauso denken müssen wie sie selbst, wie die Gesalbten und Erleuchteten, die Besitzer einer einzigen Wahrheit.
Es ist natürlich schwer, gegen die Offenbarung Jesu Christi selbst effektivste atheistische Waffen auszurichten, denn die Botschaft von Christus ist zeitlos und seine Autorität des Propheten einer endgültigen Erlösung vom Leid und Tod grenzenlos, zumal der Gottessohn in diesem prekären Fall ein Hoffnungsbringer ist. Jaspers schreibt: »Hier in Christus liegt, wie der Ursprung aller Hoffnung, so die einzige Autorität. Der Mensch kann nicht auf sich gestützt, die Wahrheit finden. Für ihn beginnt die Wahrheit mit der Autorität.« Und: »Die Gegenwart der Kirche ist mehr als Überlieferungsform, Verwaltung, Lehre. Sie ist als corpus mysticum Christi. Christus selber ist nicht Vergangenheit, sondern Gegenwart. Diese gegenwärtige Inkarnation Christi im Leibe der Kirche macht die Kirche auf eine einzige Weise heilig. Der nicht so Glaubende kann das kaum verstehen, es aber in seinen Folgen beobachten: / Für den Glaubenden ist faktisch zuerst die Kirche, nur durch sie ist Gott für ihn der Grund. Daher wird die Trennung von der Kirche als die Trennung von Gott selbst erfahren. (…) Der Glaube an die Kirche setzt Freiheit und Existenz in den Rahmen der Kirche. In Konflikten mit ihr entscheidet nur sie.«
Dass die Kirche in Konflikten die Autorität besitzt, Entscheidungen zu treffen, hat Christus (sic!), der dem Großinquisitor in Sevilla ‒ zu Zeiten der Inquisition natürlich ‒ vorgeführt wird, am eigenen Leibe erfahren. Etwas ähnliches erfährt auch Meursault während des Gesprächs mit dem Geistlichen, der die Kirche vertritt und in ihrem Namen über Meursaults Apostasie und Atheismus urteilt.
In den Köpfen von Meursault und Iwan Karamasow gibt es jedoch in der Tat für solche erlösenden Wahrheiten, wie sie in der Bergpredigt von Jesus verkündet werden, keinen Platz ‒ ja nicht einmal die Fähigkeit zu erkennen, dass es dieses Space dafür nicht gibt, existiert in ihrem Intellekt, der ansonsten alle Vorzüge einer kritischen Vernunft und damit des Verstandes besitzt. Und ich glaube, dass das genau das ist, was Camus und Dostojewski uns sagen wollten: Lasst doch solche scheinbar gescheiterten Individuen, die nicht glauben können, in Ruhe ‒ lasst sie ihre Wahrheit und ihre Freiheit leben, mögen diese auch zu unlösbaren Konflikten führen. So ist der Mensch nun mal und nicht anders.
Natürlich, man könnte sofort einwenden ‒ ein Iwan Karamasow ist ein gefährlicher Bursche, viel gefährlicher als Meursault in seiner Unbedarftheit, denn Iwan würde in seiner ganzen Verstörung und zugleich Genialität und Bereitschaft zu Höhenflügen im 20. Jahrhundert vielleicht zu einem Massenmörder werden können, um den dunkelsten Aspekt der Freiheit auszuleben, den des eigenen Willens, den einer Komplizenschaft in einer mörderischen Ideologie. Aber das können wir nicht genau wissen. Zumindest gibt es bei Iwan das Potential dafür, Grenzen und rote Linien mit Leichtigkeit zu überschreiten.
Und Meursault, was würde aus ihm zum Beispiel in unserer Gegenwart werden? Jemand würde ihm von den fantastischen Möglichkeiten der neuen Technologien erzählen, zum Beispiel der KI, und ich fürchte, er würde sich bloß eine filterlose Camel anzünden, mit den Schultern zucken, sich umdrehen und weggehen. Vielleicht würde er noch kurz vor seinem Verschwinden ein paar Sätze fallen lassen, um sein Gegenüber wachzurütteln: »Und was passiert dann, wenn die KI eines Tages versuchen wird, uns Menschen auszulöschen? Oder zu ersetzen? Doch letztendlich wäre auch das nicht wichtig. Ich könnte damit leben, dass es uns dann nicht mehr geben würde. Und Sie?«
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Letzte Änderung: 01.01.2025 | Erstellt am: 31.12.2024
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