HÄNDE AM ALTAR

HÄNDE AM ALTAR

Die Abenteuer eines jungen kritischen und wissbegierigen Intellekts
Der Koffer | © Foto: Artur Becker

Der autobiografische Essay von Michele Sciurba erzählt in knappen Sätzen die Geschichte seiner familiären Herkunft, die Geschichte des Exils ‒ der Flucht aus Sizilien nach Norddeutschland, die Geschichte der Alienation und Integration in einem fremden Land, dann die Geschichte der Adoleszenz, der schulischen und der sozialen, kommt doch der Autor aus einer klassischen Arbeiterschicht. Er erzählt uns aber auch von der ersten Liebe und auch von seiner Faszination für die Linke und die Arbeiterbewegung, für das Kommunistische Manifest und für die Philosophie von Hegel und Marx, aber auf für den Soziologen Pierre Félix Bourdieu. So ist eine Art Selbstporträt entstanden ‒ ein Scann eines jungen kritischen und empfindsamen Intellekts, der erst lernen musste, die kulturellen und politischen Codes richtig zu deuten und für sich zu nutzen. Die Hauptrolle spielt allerdings ein alter Koffer, in dem Erinnerungen aufbewahrt werden, sakrale und profane Schätze des Autors.

I. Der Koffer

Der grüne Schrankkoffer aus Sizilien: In meiner Erinnerung ist er im Laufe der Jahre eine Art Denkmal unserer Flucht geworden. Wir flohen von Palermo nach Oldenburg — aber dieser Satz klingt für mich heute falsch, als hätte jemand ein Versprechen gebrochen. Wir kamen im Februar 1972 an, vier Kinder, zwei Erwachsene, und uns begrüßte eine Kälte, die so anders war als alles, was wir kannten. Der Norden empfing uns, als wollte er sagen: Ihr gehört nicht hierher. Noch nicht. Und vielleicht nie.

Das nordische Meer war ein graues Tier.
Die neue Sprache ein Messer.
Die deutsche Zukunft eine Tür, die sich nicht öffnen wollte.

Und was wir hatten, passte in diesen Koffer. Und lange Zeit blieb es auch so.

Meine Eltern fanden irgendwann die Sprache wieder, aber sie sprachen sie leise. Sie verbeugten sich aus Dankbarkeit. Sie senkten den Blick vor der Demut. Der Norden brachte ihnen bei, dass man besser nicht auffällt, wenn man von woanders kommt.

Ich war ein Kind, aber ich verstand.
Man versteht solche Dinge schneller, als man laufen lernt.

II. Werkstor

Mit fünfzehn begann mein zweites Leben, das industrielle. Ich stand am Werkstor der AEG, stolz wie einer, der eine wichtige Rolle ergattern konnte, die er aber nie zu spielen gelernt hat. Die Sirene um 6:45 Uhr war unsere Glocke. Der Auftakt zu unserer Liturgie. Ein Versprechen an die internationale Arbeiterbewegung, das wir mit öligen Händen besiegelten.

Im Spind lag das Kommunistische Manifest, versteckt zwischen Brotdose und Blaumann. Ich hatte noch keine Ahnung, wie wenig Bücher in einer Fabrik helfen. Dennoch hielt ich mich an der Idee dieser Utopie fest, wie an einem Rettungsring.

Die Maschinen waren laut, aber ehrlich.
Die Menschen waren müde, aber stolz.
Ich selbst war weder das eine noch das andere, nur ein Lehrling mit viel zu viel Feuer im Bauch.

Abends diskutierten wir über Marx, Managua, Sandinisten, Kuba. Als läge die Revolution irgendwo zwischen unserem Wohnheim und dem Bahnhof. Wir glaubten, man müsse nur hinfahren, um sie abzuholen.

Manchmal denke ich, nie wieder war ich so jung wie in diesen Jahren.

III. Ideale

Fidel Castro war unser Held.
Managua der Ort, an dem wir glücklich würden.
Der Sozialismus unsere Religion.

Bis Tschernobyl kam.
Ein Himmel, der schwieg.
Ein Land, das log.
Ein System, das bröckelte.

Etwas in mir zerbrach leise, so leise, dass ich es erst Jahre später hörte.

IV. Die Studenten

Die Studenten waren unsere Antithese.
Sie sagten „Klasse“, als wäre sie ein theoretischer Zustand.
Sie sagten „Proletariat“, als hätten sie von uns irgendwo gelesen.

Sie tranken Chianti, während sie die Dialektik erklärten.
Sie besprachen Armut bei Kerzenlicht.
Sie machten Notizen über Menschen, die diese nie lesen würden.

Ich wusste damals schon, dass sie uns verraten würden.
Nicht aus Bosheit.
Sondern aus Hygiene. Und Ästhetik.

Zwischen einer Bibliothek und einer Werkhalle liegt ein Ozean.

Und keiner von ihnen konnte schwimmen.

V. Berlin

Berlin kam wie ein später Faustschlag.
Ich war älter.
Müder.
Zersplitterter.

Ich erinnere mich an den ersten Schritt in die Halle des Pergamonmuseums.

Der Raum war riesig, kühler als eine Kathedrale, ernster als jeder Gerichtssaal. Die Luft vibrierte leise, als stünde man im Tempel eines schlafenden Gottes. Menschen bewegten sich darin, aber sie wirkten klein, verloren, Pilger ohne Glauben.

Und dann: der Altar.
Er stand nicht einfach dort — er erhob sich.
Ein Gebirge aus Stein, eine Erzählung, die man beim Lesen nicht genoss, sondern ertragen musste.
Stufen, so breit wie eine Straße, führten nach oben, und ich fühlte mich, als würde ich in eine Welt eintreten, die nicht für mich gebaut war.

Die Reliefs zeigten Götter im Kampf.
Giganten, die sich wanden.
Muskeln aus Stein, die mehr Menschlichkeit ausstrahlten als die Leute um mich herum.

Jede Falte, jeder Riss, jede ausgestreckte Hand wirkte lebendiger als die Gegenwart.

Ich stand da, als wäre ich der letzte Arbeiter in einem Werk, in dem seit Jahrtausenden niemand mehr schuftet.
Staunend.
Schweigend.
Ausgeschlossen.

Der Altar war geraubt und wieder aufgestellt worden — ein Monument, das glänzte, aber uns nicht gehörte.

Und ich, Sohn eines ungelernten Arbeiters, stand davor wie jemand, der ein Erbe sieht, das ihm nie ausgehändigt wird.

VI. Bourdieu

Damals begriff ich, was Bourdieu meinte.
Dass Geschmack ein Code ist.
Eine Tür.
Eine Grenze.

Dass Kultur ein Wächter ist und kein Freund.
Dass ein Glas Wein und ein altes Gemälde mehr sagen können als hundert politische Reden.
Und dass Menschen wie ich die Codes nicht kennen.
Oder nicht kennen sollen.

Der Altar sagte mir:
Du darfst gucken, aber nicht dazu gehören.

Ich ging hinaus und fühlte mich kleiner als zuvor.

VII. Der Raum

Der Raum kam später.
Er kam nicht plötzlich, eher wie ein Echo.
Etwas, das immer da war, aber erst hörbar und sichtbar wird, wenn man still genug wird.

Ein Raum aus Rot.
Sandelholz.
Nebel.
Ein Licht, das nicht beleuchtete, sondern enthüllte.

Sie war darin.
Die Frau, die mich nicht kannte, aber erblickte.
Eine Fremde, die mir näher war als viele, die mich geliebt hatten.

Ihre Präsenz füllte den Raum, ihr Körper verschwand fast darin.
Ihre Stimme war warm, aber unsicher, als müsste sie sich selbst erstmal etwas erzählen, um zu prüfen, ob sie überhaupt jemandem zuhören kann.

Wir sprachen wenig.
Wir fielen immer wieder.

Das Fallen war leicht.
Das Vertrauen schwer.
Die Nähe beängstigend.

Ich hatte mich nie zuvor so erkannt gefühlt.
Nie so gesehen.
Nie so weich und hart zugleich.

In ihrem Blick lag eine Frage, die mich neugierig machte:
Wer wärst du, wenn dich niemand festhielte?

Ich wusste es nicht.
Ich wollte es aber unbedingt erfahren.

VIII. Intimität

Es war keine körperliche Sache, oder nicht in erster Linie.
Es war das Schweigen zwischen uns.
Der Atem, der gleich wurde.
Die Art, wie sie mich ansah, wenn ich nicht hinsah.

Es war ein Fall ohne Aufprall, eine Nähe, die nicht erklären musste, was sie war.

Die Welt draußen schnitt, urteilte, maß.
Hier drin war alles weich.
Erlaubt.
Wahr.

Ich liebte sie nicht, aber ich fiel in ihre Richtung.
Vielleicht war das dasselbe.

IX. Der Regen

Wir standen einmal im Regen — ein Bild, das mir bleibt.
Sie sagte:
„Du hast Angst.“
Ich sagte: „Ja.“
„Wovor?“
„Gesehen zu werden.“

Sie lächelte, als sei das die natürlichste Sache der Welt.
Als sei Angst ein Kleidungsstück, das jeder trägt.
Nur die meisten tun so, als wäre es unsichtbar.

X. Guttuso

Ein Jahr später standen wir in einer kleinen Ausstellung, irgendwo zwischen Provinz und Anspruch.
Ein Bild von Renato Guttuso hing an der Wand.
„Bagheria“.
Farben wie Stimmen.
Politik als Farbe.
Realismus als Waffe.

Sie sah mich an und sagte:
„Er ist einer von deinen Leuten.“
Ich nickte.

Ich erzählte ihr von Sizilien.
Von Karrenmalern, die Geschichten auf Holz schrieben.
Von Guttuso, der „Guernica“ in der Brieftasche trug wie andere die Fotos ihrer Kinder.
Von Corrente, dieser Gruppe, die gegen Faschismus malte, gegen Lügen, gegen glatte Oberflächen.

Sie hörte zu, wie sie immer zuhörte:
mit ihrem ganzen Gesicht.

„Er hätte dich gemocht“, sagte sie.
„Wieso?“
„Weil du ehrlich bist.“

Ich wusste nicht, was ich darauf sagen sollte.

XI. Die Farbe

Wir blieben vor einem Bild stehen, das so lebendig war wie ein Atemzug.
Wie der Raum, den wir teilten.
Wie das Innere einer Wunde.
Wie ein Herz.

„Das ist deine Farbe“, sagte sie.

Nicht Rot.
Dieses Rot.
Das, das nicht schreit.
Das nur bleibt.

Ich fühlte mich getroffen, als hätte sie etwas gesagt, das ich jahrelang verborgen hätte.

Vielleicht hatte sie das auch gesagt.

XII. Heimatlosigkeit

Bloch hatte recht:
Der Mensch wird im Kapitalismus heimatlos.
Nicht, weil er keinen Ort hat.
Sondern, weil er keinen findet, an dem er ganz er selbst sein darf.

Ich war im Norden fremd.
Im Süden fremd.
In der Politik fremd.
In der Kunst fremd.
In meinem Leben fremd.

Nur in diesem roten Raum fühlte ich mich zu Hause.
Und manchmal, wenn sie mich ansah, auch in mir selbst.

XIII. Nach der Mauer

Als die Mauer fiel, zerbrach ein Teil von mir.
Der politische.
Der träumende.
Der naive.

Ich sah Freunde verschwinden.
Ich sah die Linke sterben wie ein Tier, das zu lange gekämpft hat.
Ich sah Ideale zu Staub werden.

Nur die Hoffnung blieb.
Weil sie naiv ist.
Weil sie treu ist.

Weil sie nicht weiß, dass sie auch sterben kann.

XIV. Der Altar (Rückkehr)

Ich kehrte zurück zum Pergamonaltar.
Allein.

Der Raum war gewaltig wie immer.
Kälter als beim ersten Mal.
Fast feindlich.

Der Altar erhob sich wie eine Drohung.
Wie ein Gedächtnis, das dich nicht loslassen kann.
Wie ein Mund, der gleich etwas sagen wird.

Ich ging die Stufen hinauf.
Langsam.
Jede Stufe war ein Jahr meines Lebens.
Ein Verlust.
Ein Traum.
Ein Fehltritt.

Oben blieb ich stehen.
Ich legte die Hand auf den Stein.
Kalt.
Aber lebendig.

Ich spürte meine Mutter.
Meinen Vater.
Den Koffer.
Die Werkhalle.
Die Sirene.
Meine Jugend.
Den roten Raum.
Sie.

Und ich begriff, dass alles, was ich je war, zwischen diesen Steinen stand.

Nicht ausgeschlossen.
Nicht gedemütigt.
Nicht bescheiden.

Sondern einfach da.

Wie ein Mensch.
Wie alle anderen.

XV. Hoffnung

Ich weiß nicht, ob die Welt besser wird.
Ich weiß nicht, ob Menschen wirklich etwas lernen können.
Oder vergessen.
Oder beides.

Aber ich weiß, dass wir fallen müssen, um zu fühlen.
Und dass Intimität das Einzige ist, das sich nicht verraten lässt.

Und manchmal,
wenn ich die Augen schließe,
sehe ich den roten Raum.

Und die Stufen des Altars.
Und ihre Hand.
Und meine.

Hände, die sich irgendwann fanden.
Und nicht mehr erklärten, warum.

Letzte Änderung: 08.12.2025  |  Erstellt am: 08.12.2025

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